25.01.2024

Zum 80. Jahrestag der Befreiung der Stadt Leningrad von der faschistischen Blockade

Eine der tragischsten Seite des Großen Vaterländischen Krieges ist ohne Zweifel die Blockade der Stadt Leningrad (siehe Bild 1) durch die deutschen Faschisten und ihre Verbündeten (Finnland, Spanien, Italien und die Blaue Division) im Zeitraum vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Das, was in 872 Tagen der Einkesselung geschah, ist mit dem normalen Menschenverstand kaum zu erfassen und liegt außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens. In der grausamsten, blutigsten und längsten Blockade der Menschheitsgeschichte starben durch den Hunger und durch den feindlichen Beschuss mehr als 641.000 sowjetische Menschen (3% von ihnen im Verlaufe von Gefechten und 97% durch den Hunger). Andere – wesentlich genauere Quellen und Statistiken - gehen von 1,5 Millionen Toten aus. Viele Opfer der Blockade wurden in Massengräbern auf den Piskarjovkoje- und Serafimovskoje-Gedenkfriedhof begraben [1].

Bild 1

Ihre beispiellose Standhaftigkeit, ihre Opferbereitschaft und ihr Heldentum werden wir, die als Mitglieder der FDJ und als Angehörige des Ersten Deutschen Arbeiter- und Bauernstaates

• mit gesenkten Köpfen und mit Tränen in den Augen an ihren Gräbern stehen,
• mit Herz und Verstand ewige Freundschaft und Verbundenheit mit ihrem Land, mit ihren
    Völkern und ihren Menschen geschworen haben und
• in unserem täglichen Leben diese Freundschaft und Verbundenheit mit Russland
    praktizieren,

niemals vergessen.
Niemals werden wir vergessen, dass sowjetische Menschen, insbesondere ihre tapferen Soldaten und Offiziere ohne Wenn und Aber, ohne eine Sekunde zu zögern, ihr Leben und ihre Gesundheit für den Sieg über den deutschen Faschismus, d.h. auch für unsere Befreiung von dem verbrecherischen Nazisystem geopfert haben! Hitler hat schon 1941 den Befehl erteilt, Leningrad auszuhungern und dem Erdboden gleich zu machen. Die Blockade von Leningrad war Teil des Vernichtungskrieges, des Massenmords, der damit verbundenen Gräueltaten, des Genozids, d.h. der schrecklichen Kriegsverbrechen europäischer Faschisten von 1941 – 1945 in der Sowjetunion. Mehr als 350.000 Soldaten und Offiziere der Leningrader Front wurden für ihre Tapferkeit und ihren Mut mit militärischen Orden und Medaillen ausgezeichnet, 226 von ihnen mit dem Titel „Held der Sowjetunion“. Mehr als 1,5 Millionen Sowjetbürger erhielten die Medaille „Für die Verteidigung von Leningrad“. Deshalb prägen aufrichtige Freundschaft, Respekt, Hochachtung und Dankbarkeit für die Befreiung Europas vom Faschismus unsere Beziehungen mit Russland, mit allen ihren Völkern und Menschen. Gute Beziehungen mit Russland waren, sind und bleiben nicht nur eine Sache des gesunden Menschenverstandes, sondern auch eine Sache des Herzens.

In dem beeindruckenden Buch „Auszeichnung – Medaille‚Goldener Stern‘ “ [2] werden von dem jungen Forschungsenthusiasten Michael Valentinovitsch Sinoviev die Erinnerungen an 28 noch lebende bzw. unlängst verstorbene Träger des Ordens „Held der Sowjetunion“ im Großen Vaterländischen Krieg (1941- 1945) in Form von Interviews ungeschminkt dargestellt.

Das menschliche Leben ist kurz, deshalb sollte man es sinn- und würdevoll durchleben, damit sich unsere Nachfahren mit Dankbarkeit und Stolz an uns erinnern.

„Die Erinnerungen an die Kriegsjahre sind schrecklich, erzählt uns der Held der Sowjetunion, Michael Vladimirowitsch Aschik (24. Juni 1925 * und 9. November 2020 ϯ). Bei Außentemperaturen von - 40° C saßen wir den ganzen Winter in einem Haus ohne Heizung, ohne Wasser, ohne Kanalisation, ohne Strom, ohne Telefon und … ohne eine ordentliche Verpflegung“. Für seine große Tapferkeit und Standhaftigkeit gegen eine Übermacht deutscher Truppen mit Panzern im Verlaufe von 18 Angriffen im feindlichen Hinterland, für die erfolgreiche Abwehr und Vernichtung deutscher Panzer und die Gefangennahme von 260 Hitlersoldaten wurde er im März 1945 mit dem Orden „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet [2]. Für vollbrachte Heldentaten sowie für herausragende Leistungen und Erfolge im Kampf gegen den deutschen Aggressor im Großen Vaterländischen Krieg von 1941 – 1945 wurden insgesamt 11.657 Menschen (darunter 3.051 postum) mit diesem höchsten Orden der Sowjetunion ausgezeichnet [3]. Seit dem 20. März 1992 werden derartige Verdienste mit dem Titel „Held der Russischen Föderation“ gewürdigt [4].

Mit großem Schmerz und mit Bitterkeit lesen wir am Vorabend des 80. Jahrestages der Beendigung der Blockade von Leningrad erneut die erschütternden Einträge der 13-/14-jährigen Tanja Sawitscheva aus Leningrad in ihrem kleinen Tagebuch. Fast die gesamte Familie starb während der faschistischen Blockade vom Dezember 1941 bis zum Mai 1942 [1].

Geboren am 23. Januar 1930 in dem kleinen Dorf Dvoriski in der Nähe von Gdovo am Tschudski-See lebte sie wie ihre beiden Schwestern,
Eugene (1909 * bis 28. Dezember 1941 ϯ)
Nina (23. November 1918 bis 6. November 2013 ϯ)
und ihre beiden Brüdern
Leonid (Oktober 1917 * bis 17. März 1942 ϯ)
Michael (1921 * bis 1988 ϯ) in Leningrad. Der Vater von Tanja, Nikolaj, besaß seit 1910 eine Konditorei und ein Kinotheater. Beide Unternehmen betrieb er gemeinsam mit seiner Frau Maria und seinen drei Brüdern bis zum Jahre 1935. Am 5. März 1936 ist er im Alter von 52 Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Bis zum Beginn der Großen Vaterländischen Krieges wohnte die gesamte Familie Sawitschev in dem Haus Nr. 13/6 auf der zweiten Linie der Wassiljewski – Insel (siehe Bilder 2 und 3).

Bild 2


Bild 3

Eugene und Nina arbeiteten in der Newsker Maschinenfabrik „Lenin“ (Eugene im Archiv, Nina im Konstruktionsbüro), Leonid arbeitete als Dreher im Schiffsbau, Michael absolvierte eine Berufsausbildung und arbeitete als Schlosser. Maria, die Mutter, arbeitete als hervorragende Stickerin in der Weberei „1. Mai“.
Leonid liebte die Musik und organisierte zusammen mit Freunden ein Streichorchester. Oft hatten sie Proben im Haus Nr. 13/6. Die Familie Sawitschev besaß viele Musikinstrumente: Klavier, Gitarre, Banjo, Balalaika und eine Mandoline. In ihrer Freizeit organisierten sie Hauskonzerte.

Bis Ende Mai 1941 absolvierte Tanja die 3. Klasse in der Schule Nr. 35 an der Kadettenlinie auf der Wassiljewski – Insel. Im September 1941 sollte sie in die 4. Klasse kommen. Am Tag des Angriffs der deutschen Faschisten auf die UdSSR haben alle Mitglieder der Familie Sawitschev ihre Reisepläne aufgegeben. Sie beschlossen in der Stadt zu bleiben und der Armee zu helfen.
Im Dezember 1941 – alle Straßen in Leningrad waren mit Schnee bedeckt und wurden nicht gereinigt – hat Eugene ihre Gesundheit durch ihre häufigen Blutspenden, durch die langen beschwerlichen Fußwege bis zur Fabrik (7 km von Zuhause bis zur Fabrik!) und die vielen Doppelschichten schwer geschädigt. Am 28. Dezember kam sie nicht auf Arbeit. Nina unterbrach ihre Nachtschicht und lief in die Moos-Straße zu ihrer Schwester. Dort ist sie in ihren Armen gestorben. Um das Todesdatum nicht zu vergessen, hat Tanja in das Tagebuch von Nina folgendes geschrieben:

Shenja (Eugene) starb am 28. Dezember 1941 um 12:00 Uhr morgens.

Anfang Januar 1942 wurde bei der Großmutter von Tanja, Evdokija Arsenyeva, eine schwere Ernährungsdystrophie festgestellt. Ein Behandlung im Krankenhaus war dringend erforderlich. Evdokija verwies auf die überfüllten Krankenhäuser und lehnte eine Einweisung dort hin ab. Sie starb am 25. Januar 1942. Tanja schrieb in das Tagebuch von Nina:

Großmutter starb am 25. Januar 1942 um 3:00 Uhr früh.

Am 28. Februar 1942 kamen Nina und Michael von der Arbeit nicht nach Hause. An diesem Tag wurde Leningrad besonders stark von der deutschen Artillerie beschossen. Die Familie Sawitschev wusste nicht, dass beide über den Ladoga-See in das „Große Land“ plötzlich evakuiert worden sind und nahmen deshalb an, dass sie nicht mehr leben. Das Telefon war seit Kriegsbeginn abgeschaltet, eine Postverbindung im eingekesselten Leningrad gab es nicht. Im Tagebuch von Tanja gibt es über diesen Verlust aus unbekannten Gründen keinen Eintrag.

Leonid arbeitete Tag und Nacht in der Admiralitätsfabrik. Die Fabrik befand sich am gegenüberliegenden Ufer der Newa, hinter der Brücke des Leutnants Schmidt. Selbst für einen gut genährten Mann in Friedenszeiten ist dieser Weg hin und zurück im Winter eine Qual. Wie Eugene musste auch Leonid viele Nächte im Unternehmen arbeiten, oft sogar in zwei aufeinanderfolgenden Schichten. Im Buch „Geschichte der Admiralität“ finden wir unter dem Bild von Leonid folgenden Text: „Leonid Sawitschev arbeitete sehr hart, kam nie zu spät zu seiner Schicht, obwohl er erschöpft war. Aber einmal kam er nicht in die Fabrik. Zwei Tage später wurde uns mitgeteilt, dass Leonid Sawitschev gestorben ist …“. Leonid starb am 17. März 1942 im Alter von 24 Jahren in einem Fabrikkrankenhaus an Dystrophie. Michael erinnerte sich immer gern an seinen Bruder, an einen großartigen Kerl, der stolz darauf war, dass er im Oktober 1917 geboren ist. In das Tagebuch schrieb Tanja in großer Eile:

Leonid starb am 17. März 1942 um 5:00 Uhr früh.

Am 13. April, im Alter von 56 Jahren starb Vasilij. Tanja machte einen entsprechenden Eintrag im Tagebuch, der nur auf den ersten Blick verwirrend schien:

Onkel Vasja starb am 13. April 1942 2 Uhr in der Nacht.

Kurz vor dem Tod von Onkel Ljoscha haben ihm die Ärzte die gleiche Diagnose gegeben wie der Großmutter von Tanja, Evdokija Arsenyeva. Eine schwere Ernährungsdystrophie, die selbst in einem Krankenhaus nicht mehr heilbar war. Alexey starb am 10. Mai 1942 im Alter von 71 Jahren. Aus unbekannten Gründen hat Tanja im Tagebuch das Wort „gestorben“ weggelassen:

Onkel Ljoscha ist am 10. Mai 1942 um 16:00 Uhr …

Die Mutter von Tanja, Maria Sawitscheva ist am Morgen des 13. Mai 1942 gestorben. Tanja machte im Tagebuch einen entsprechenden Eintrag und hat in großer Trauer das Wort „gestorben“ weggelassen:

Mama ist am 13. Mai 1942 um 7:30 Uhr …

Offensichtlich verlor sie mit dem Tod ihrer Mutter jede Hoffnung das Michael und Nina jemals wieder nach Hause zurückkehren werden. Deshalb schrieb sie:

Alle Sawitschevs sind tot.

Alle sind gestorben.

Nur Tanja ist geblieben   (Bild 4).

Tanja ging zu ihrer Großtante Evdokia Petrowna Arsenyeva, die in einer Gemeinschaftswohnung auf der Straße der Proletarischen Diktatur (Haus 1a, Zimmer 3) wohnte. Tanja nahm nur eine wertvolle Schatulle mit, die Mutters Hochzeitsschleier, Hochzeitskerzen und sechs Sterbeurkunden enthielten. Evdokia unterzeichnete die Erklärung über das Sorgerecht für Tanja und brachte viele Habseligkeiten der Familie Sawitschev in ihr Zimmer, um sie sicher aufzubewahren. Zu dieser Zeit arbeitete sie eineinhalb Schichten in einer Fabrik. Wenn sie zur Arbeit ging, schickte sie das Mädchen auf die Straße. Tanja war bereits sehr erschöpft, litt wie alle Leningrader an Dystrophie und ging, obwohl es bereits im Monat Mai war, nur in Winterkleidung auf die Straße. Wenn Evdokia von der Arbeit nach Hause kam, fand sie Tanja oft schlafend auf der Treppe. Anfang Juni 1942 hat Tanja erfahren, dass Nina noch am Leben war.

Bild 4

Weil Tanjas Gesundheitszustand stark beeinträchtigt war, hat Evdokia ihr Sorgerecht zurückgezogen, damit sie aus Leningrad evakuiert werden konnte.
Evdokia hat Tanja in einer Kinderklinik des NKWD im Smolninsky Bezirk registriert. Am 17. Juli 1942 kam sie gemeinsam mit 125 Kindern in das Dorf Schatki, wo sie in einem Waisenhaus im Dorf Krasny Bor eingewiesen wurde und dann für zwei Wochen in einem Schulgebäude in Quarantäne war. Tanja war das einzige Kind, das Tuberkulose hatte und durfte deshalb mit anderen Kindern nicht in Kontakt treten. Tanjas Gesundheitszustand verschlechterte sich Anfang 1944 rapide. Am 7. März wurde sie in ein Behindertenheim im Dorf Ponetajevka gebracht. Sie hatte Schwierigkeiten zu sprechen. Ihre Tuberkulose nahm lebensbedrohende Ausmaße an. Am 29. Mai kam sie in die Abteilung für Infektiöse Krankheiten des Bezirkskrankenhauses von Schatkovo, wo sie bis zu ihrem letzten Tag von der Krankenschwester Anna Mikhailovna Zhurkina betreut wurde: „Ich erinnere mich gut an dieses Mädchen. Schlankes Gesicht, weit geöffnete Augen. Tag und Nacht war ich bei Tanetschka, aber die Krankheit war unerbittlich, sie riss mir das Mädchen aus den Händen. Ich kann mich nicht ohne Tränen daran erinnern …“ [1].

Am 1. Juli 1944 ist Tanja Sawitscheva im Alter von 14 𝟏 𝟐 Jahren an Darmtuberkulose gestorben.

Damit solche und viele andere Gräueltaten nie wieder passieren, erinnern wir uns jedes Jahr an die Befreiung der Stadt Leningrad von der Blockade der europäischen Nazis und Faschisten.

Anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung der Stadt Leningrad von der faschistischen Blockade am 27. Januar 2024 gratulieren wir allen russischen Menschen vom ganzen Herzen zu diesem großen heldenhaften Sieg.
Wir wünschen Euch, liebe russische Freunde, viel Kraft, großen Mut und einen festen Glauben an den Sieg über den in Europa erneut entstandenen Faschismus und Nazismus. Russland wird siegen! Gott ist auf der Seite Russlands!

іVenceremos!

Мы победим!

Wir werden siegen!

Dr. Wolfgang Schacht
23. Januar 2024.

 

Literaturquellen:

[1] Tanja Nikolajewna Sawitscheva (in russischer Sprache)
https://ru.wikipedia.org/wiki/Савичева,_Татьяна_Николаевна

[2] Auszeichnung – Medaille „Goldener Stern“ (Held der Sowjetunion, d. Ü.), Verlag „Fünftes Rom“
https://5rim.ru/product/nagrazhden/

[3] Held der Sowjetunion (in russischer Sprache)
https://ru.wikipedia.org/wiki/Герой_Советского_Союза

[4] Held der Russischen Föderation (in russischer Sprache)
https://ru.wikipedia.org/wiki/Герой_Российской_Федерации

Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch:

Walter Ulbricht (in russischer Sprache)
https://ru.wikipedia.org/wiki/Ульбрихт,_Вальтер

Egon Krenz „Walter Ulbricht – Zeitzeugen erinnern sich“, Verlag „Das Neue Berlin“, 2013
https://www.amazon.com/Walter-Ulbricht/dp/3958410626

Wir und die Russen – Gedanken zu einem Buch von Egon Krenz
https://www.dr-schacht.com/assets/pdfdoc/Wir_und_die_Russen_-_Gedanken_zu_einem_Buch_von_Egon_Krenz.pdf

Die Deutsch-Russische-Freundschaft liegt uns immer am Herzen
https://www.dr-schacht.com/assets/pdfdoc/Die_Deutsch-Russische-Freundschaft_liegt_uns_immer_am_Herzen.pdf

Dank für die Befreiung Europas vom Faschismus und Nazismus
https://www.dr-schacht.com/assets/pdfdoc/Dank_für_die_Befreiung_Europas_vom_Faschismus_und_Nazismus.pdf

 

Das Original dieses Artikels ist veröffentlicht auf der Homepage von Dr. Wolfgang Schacht.

 

 

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