28.06.2024

Schießbefehl 2024


Von Oberleutnant a.D. Dr. Steffen Nowotny

Als ich letztens einen Bericht über die aktuelle Luftfahrtausstellung ILA in Berlin sah, fiel mir dieses Schild auf: "Militärischer Sicherheitsbereich! Unbefugtes Betreten ist verboten! Achtung, Schusswaffengebrauch!" Es hängt an einem Zaun, der einen Militär-Hubschrauber umgibt. Und es heißt im Klartext: wenn man über diesen Zaun klettert, riskiert man, daß Schußwaffen gegen einen angewendet werden. Ganz normaler BRD-Alltag im Jahr 2024. Auf einer Veranstaltung, die öffentlich und für jedermann zugänglich ist.   

Im Rahmen meines Grundwehrdienstes habe ich im Grenzregiment 9 als Gefreiter/Postenführer gedient, und da galt ein anderer Klartext: vor jeder Grenzschicht wurden wir vom Kompaniechef darüber belehrt, daß die Anwendung der Schußwaffe das äußerste Mittel der Gewaltanwendung darstellt, daß das Leben der betreffenden Person zu schonen und Verletzten umgehend erste Hilfe zu leisten ist. Die Anwendung der Waffe gegen Frauen und Kinder war tabu, und in Richtung Westen durfte selbstverständlich auch nicht geschossen werden. Objektive Rahmenbedingungen für die Erfüllung unserer Aufgabe also, die für sich sprechen.
Trotz dieser klaren Faktenlage, die man jederzeit im Grenzgesetz der DDR, Paragraph 27, nachlesen kann, ist die Lüge vom angeblichen Schießbefehl in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit fest installiert worden. Ebenso wie die Diffamierung der DDR als "Unrechtsstaat", die Herabwürdigung der Ostdeutschen als "diktatur-sozialisiert und untauglich für die Demokratie", der Mythos von der "Kommunistischen Gewaltherrschaft" oder auch die juristisch unhaltbare Verfolgung führender Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Militär und Sicherheitsorganen der DDR in den neunziger Jahren. Wir alle kennen diese Beispiele als Strategie des Westens, uns Menschen in der DDR und die DDR selbst zu diskreditieren und den Sozialismus für gescheitert zu erklären. Eigentlich ist es nicht neu, wir haben die unerbittliche Umsetzung dieser feindseligen Politik mit ihren teilweise existenziellen Folgen wie dem Elitenaustausch, der Deindustrialisierung, dem sozialen Abseits und der Zerstörung identitätsstiftender Werte über die vergangenen dreißig Jahre hinweg erlebt.

Was mich jedoch zunehmend und außerordentlich betroffen macht ist die Tatsache, daß sich dieses auf Unwahrheiten und auf einer Feindbild-Ideologie beruhende Gedankengut nunmehr, drei Jahrzehnte nach dem Beitritt der DDR zur BRD, in den Köpfen der Menschen manifestiert zu haben scheint. In den Köpfen der meisten Westdeutschen sowieso, denn die jahrzehntelange Verunglimpfung des politischen Gegners mittels aller verfügbarer Medien hat natürlich ihre Spuren hinterlassen. Schwer hinzunehmen ist für mich dagegen, wie diese Ideologie unterdessen auch bei Ostdeutschen erfolgreich Raum greift. Ich bin immer wieder fassungslos über die charakterlosen Nestbeschmutzer, die ihre eigenen Wurzeln und Herkunft, selbst ihre regionale Sprache verleugnen und abwerten. Und die die Leistungen unserer Eltern und Großeltern herabwürdigen, die nach dem Krieg die Ärmel hochgekrempelt und das zerstörte Land aufgebaut, Neues geschaffen und versucht haben, es besser zu machen. Schließlich bin ich regelrecht traurig, wenn ich auf die jüngste Generation etwa unserer Enkel blicke. Wenn sie nicht von selbst interessiert sind und durch ihre Familien ermuntert werden, haben sie schlechte Chancen, sich auf einer auf Wahrheit und Tatsachen beruhenden Art und Weise der jüngsten Vergangenheit, die letztendlich die ihrer eigenen Familien ist, anzunähern. Mit fatalen Folgen für ihre Entwicklung in der Gegenwart.

Zuversichtlich stimmt mich, daß es Vereinigungen wie unseren Verband gibt, in denen sich Menschen engagieren, die sich mit dieser Situation nicht abfinden. Noch gibt es genügend Zeitzeugen mit Verstand und Realitätssinn. Allein in meiner bisherigen, noch recht kurzen Verbandsmitgliedschaft habe ich Genossen kennengelernt, die mich durch ihr klares Bekenntnis zu sozialistischen Werten einerseits und durch eine kritisch-realistische Analyse und Bewertung der DDR-Geschichte andererseits sehr beeindruckt haben. Es gibt eine große Anzahl von Literatur, die in die Geschichtsbücher gehört: Das Buch von Prauß/Poller über die Grenztruppen zum Beispiel, die Bücher von Kessler/Streletz, Heinz Engelhardt, Rainer Langener, Egon Krenz, usw. usw. Nicht zuletzt auch der KOMPASS. Es sind gute Werkzeuge, um der nach wie vor ungebremsten Politik der Ost-Feindlichkeit, die mit dem Versuch einer systemtreuen Manipulation der Menschen einhergeht, fundiert entgegenzutreten. Natürlich bin ich mir bewußt, wie groß der Gegenwind ist, der uns dabei entgegenschlägt. Aber wäre nicht schon viel erreicht, wenn es uns gelingt, der guten Sache, für die wir uns eingesetzt haben, zumindest im öffentlichen Diskurs zur Wahrheit zu verhelfen? Ein Nachdenken wenigstens bei einem Teil der Menschen zu erreichen? Die Gesellschaft an die Lebensweise der Gemeinsamkeit, Solidarität, Gerechtigkeit und des Friedens zumindest zu erinnern, die wir vierzig Jahre lang gelebt haben? Das ist Traditionsarbeit im allerbesten Sinne, finde ich. Jeder noch so kleine Schritt, noch so geringe Beitrag, den jeder in seinem Umfeld leisten kann, nützt: damit aus der temporären Niederlage kein Scheitern wird.

 

 

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