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- Gedanken zum 1. September, Polen, Russland und Ukraine - Blick in die Geschichte
28.08.2024
Polen am 1. September ist eine Augenweide in zweierlei Hinsicht. Überall blüht das Heidekraut, das auch der polnischen Monatsbezeichnung Wrzesień seinen Namen gab. Die Waldränder sind davon übersät, was sich in der Spätsommersonne besonders gut macht. Dieser Septembertag habe ich als Tourist, Student und Gastlehrer immer als sonnigen Tag erlebt.
An diesem Tag sind alle polnischen Schüler und Schülerinnen festlich gekleidet, vornehmlich in schwarz und weiß, und die Haare in bestem Zustand. Überall ist Schulbeginn mit feierlichen Appellen, bei denen nicht nur das neue Schuljahr inauguriert, sondern auch des Überfall Hitlerdeutschland auf Polen eben am 1. September 1939 gedacht wird, oft mit einer Schweigeminute.
Anschließend, nach kurzen Einweisungen in den Klassenräumen strömen die Schüler nach Hause oder ins Stadtzentrum, um zu flanieren, sich mit Freunden zu treffen, um die Sommerferien auszuwerten. Es ist erhebend, auf eine so fröhliche Jugend zu blicken, die es nach deutschfaschistischen Plänen nicht hätte geben dürfen: Polen war das Schicksal von Vernichtung, Ausbeutung und Vertreibung zugedacht.
Heute, wo das neubürgerliche Polen mit dem imperialistischen Deutschland verbündet und weitgehend der nationalen antifaschistischen Tradition entfremdet ist, wird die Zukunft dieser hoffnungsvollen Jugend erneut gefährdet.
Das heutige Polen ist das Land, das sich im Ukraine – Konflikt von allen osteuropäischen Staaten am meisten aggressiv gegenüber Russland verhält und offenbar jegliche Eskalation mitträgt, selbst auf die Gefahr eines Kernwaffenkrieges hin.
Nur die Balten sind hierbei lautstärker. Sie fürchten eine Normalisierung mit Russland. Denn dann müssten sie einen Großteil der Summen begleichen, die die UdSSR 50 Jahre lang in sie investiert hatte und dadurch einen Lebensstandard ermöglichte, der einen besonders abgehobenen Nationalismus und antisowjetischen Separatismus begünstigte. Nach derlei Zahlungen wären sie bankrott.
Historisch gesehen ist das ein Novum, denn in der Zwischenkriegszeit waren die Balten wesentlich realistischer orientiert und gegenüber der UdSSR zurückhaltender. Nachdem die Bürgerkriege zwischen den Linken und Rechten im Baltikum auch mit massiver Hilfe der Deutschen und Alliierten zugunsten der letzteren entscheiden worden waren, kam es zu günstigen Friedensschlüssen mit den Sowjets. Obwohl im Baltikum Kommunisten verfolgt wurden und man sich ab 1926 bzw. 1934 eines eigenen Faschismus bediente, blieben die Beziehungen zu Moskau sachlich, im Falle Litauens sogar freundschaftlich. Man konnte sogar von privilegierten Beziehungen sprechen. Daher konnte ein antisowjetisches Bündnis unter polnischer Ägide mit diesen Staaten nie zustande kommen.
In Polen lagen die Dinge anders und auch tiefer begründet. Zunächst einmal ist die von den Medien verbreitete Meinung von der jahrhundertelangen Bedrohung Polens durch Russland grundsätzlich falsch: Russland hatte Polen nie bedroht! Polen die Russen aber schon und das seit dem 10. Jh., als es Russland als Staat noch nicht gegeben hatte. Russland entwickelte sich später aus einer Befreiungsbewegung gegen die Mongolen/Tataren, Schweden und Polen.
Und das kam so: Durch das Bündnis mit Litauen, das weite Teile des Ostens bis kurz vor Moskau erobert hatte, knüpfte die polnische Ostexpansion an, griff das russische Fürstentum an und besetzte Moskau. Durch einen Volksaufstand wurden sie aber hinausgeworfen und konnten die Polen um wenige Kilometer zurückdrängen. Polen- Litauen war zu Beginn des 17. Jh. eines der größten Staaten Europas, die Russen verfügten kaum über die Kräfte, die Polen entscheidend zu schlagen. So konnte Polen weiterhin bedeutende russische und belorussische Gebiete besetzt halten, vor allem aber die gesamte Ukraine. Hier konnten sie einen Kolonialstatus durchsetzen. Nachdem die Aufstände ukrainischer Bauern niedergeschlagen waren, flohen viele von ihnen nach Osten und bildeten Kosakensiedlungen, die mit der Zeit den Polen gefährlich wurden. Polnische Versuche, die Kosaken zu integrieren, schlugen in der Regel fehl. Da sich die Polen mit nahezu jedem Nachbarn angelegt hatten (Türken, Schweden, mit Russland herrschte inzwischen Frieden), kam es zu einer Schwächung der Polen. Von dieser Bedrohung und ihren territorialen Folgen spricht heute keiner mehr. Das nutzten die ukrainischen Kosaken unter Bogdan Chmielnizki aus und begannen 1648 einen Volksaufstand gegen die Polen. Damit begann der historische Abstieg Polen – Litauens, der 150 Jahre dauern und mit dem Verlust seiner Staatlichkeit enden sollte.
Der Chmielnizki – Aufstand wurde zu einer existenziellen Bedrohung Polens, da die Aufständischen zeitweise weit ins polnische Kernland vorstießen. Der Hass der ukrainischen Bevölkerung auf ihre polnischen Herren war so groß, dass die Grausamkeiten ein noch nie gekanntes Maß erreichten. Da die Polen zumeist geflohen waren, wurde die jüdische Bevölkerung als angebliche und wirkliche Handlanger der Polen massakriert (20 – 50 000, etwa die Hälfte der Juden). Dieser Antisemitismus sollte zum Markenzeichen des sich herausbildenden ukrainischen Nationalismus werden. Die meisten Pogrome im Zarenreich, im Bürgerkrieg und unter den Nazis sollten in der Ukraine stattfinden. Diese Grausamkeiten prägten sich tief ins polnische Nationalbewusstsein ein, dessen literarische Widerspiegelung der Roman von Henryk Sienkiewicz „Mit Feuer und Schwert“ (1883) werden sollte. Wenn Selenski heute von einer ewigen ukrainisch – polnischen Freundschaft spricht, ist das eine dreiste Lüge, bestenfalls pragmatische Heuchelei.
Sienkiewicz, der bedeutendste historische Schriftsteller Polens hatte in seinen Werken, die jedes polnische Kind kennt, nur vier für Polen existenziellen Bedrohungen geschrieben: Die Deutschen (Kreuzritter), die Schweden, die Türken und die Ukrainer. Russland gehörte nicht dazu! Die Türken, die sich die polnischen Besitzungen am Schwarzen Meer und in der Ukraine nehmen, konnten gegen Ende des 17. Jh. mit westeuropäischer Hilfe gebannt werden. Die anderen nicht.
Chmielnizki hatte sich mit einem mächtigen Feind angelegt, der potenziell weit stärker als die Ukrainer und auch Russen war. Allein konnte er nicht siegen. Die Krimtataren leisteten nur ungenügende Hilfe und Russland hielt sich vorerst zurück. Moskau hatte die Polen auf geringen Abstand gehalten und das sollte auch so bleiben. Zudem besaß es andere strategische Prioritären: Vorstöße zum Schwarzen Meer und zur Ostsee, unerlässlich für die Entwicklung einer Handelsmacht. Chmielnizki gelang es dennoch, das zögerliche Russland 1653 als Bündnispartner zu gewinnen und sich ein Jahr später unter russischen Schutz zu stellen. Das wird heute von den Kiewer Machthabern verschwiegen oder als großen Fehler betrachtet. Doch der Ukraine blieb keine andere Wahl: Ohne Russland wäre der Aufstand niedergeschlagen worden. Als Beweis hierzu dient der Friedensschluss 1667. Den Ukrainern und Russen war es zwar gelungen, Kiew zu erobern, doch der größte Teil der Ukraine blieb für über 100 Jahre nach wie vor in polnischer Hand.
Seit 1654 war die Ukraine Teil des Russischen Reiches, ohne Autonomie oder anderen Sonderstatus. Dem versuchte sich Hetman Mazepa 1709 zu widersetzen. Er verbündete sich mit den im Russland eingefallenen Schweden und wollte mit ihnen gegen Moskau ziehen; ein aus aktueller Sicht interessanter Vorgang. Doch er, der kaum Anhang besaß, wurde in Poltawa mit den Schweden zusammen geschlagen und musste ins Ausland fliehen.
Mit dem Friedensschluss 1667 war die polnische Ostexpansion beendet.
Die Darstellung der polnisch - russischen Beziehungen im 18. Jh. wurde bis heute, also auch in Volkspolen, der emotionalisierten Sichtweise der damaligen destruktiven Schlachta und des reaktionären katholischen Klerus kritiklos überlassen. Hierbei werden die innen – und außenpolitischen Aktivitäten der Russen als penetrante Einmischung diskreditiert und ihre Verdienste ausgeblendet. Tatsächlich verhinderte Russland die Teilungen Polens um viele Jahrzehnte, beendete die für Polen existenzbedrohende schwedische Ostexpansion und war ein innenpolitischer Stabilisator, der die schwache Königsmacht unterstützte.
Polen war territorial immer noch eines der größten Länder Europas, eine Bedrohung durch Russland gab es nicht, im Gegenteil, es kam sogar zu einer Annäherung in Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Schweden. Man war über Jahre sogar verbündet und russische Truppen zogen durch Polen.
Polen befand sich aber in einer allgemeinen Staatskrise. Die Ostexpansion hatte das Land ruiniert, den Magnaten ungeheure Reichtümer und Territorialmacht beschert, durch das Mitspracherecht des bis zu 20 % ausmachenden Klein – und Mitteladel (Schlachta) ein permanentes Chaos ausgelöst, das von der schwachen Zentralmacht nicht mehr zu bewältigen war. Polen wurde immer schwächer, sodass Preußen sich anschickte, nach den Erfolgen gegen Österreich nun auch polnische Gebiete in Besitz zu nehmen. Daran dachte aber auch Österreich. Für Preußen mit seinen zersplitterten Landbesitz im Osten waren polnische Gebiete weit wichtiger als für die Russen und Österreicher. Russland, das einen Zuwachs der Deutschen fürchtete, versuchte der preußisch- österreichischen Expansion einen Riegel vorzuschieben, denn mit dem jetzigen Polen kam Petersburg gut aus. Immer mehr konnten die Russen die Innenpolitik beeinflussen und sogar mit August Poniatowski einen russischen Favoriten als polnischen König durchsetzten. Poniatowski versuchte mit Hilfe des schwachen Bürgertums eine Staatsreform durchzusetzen, um Polen wieder einigermaßen regierbar zu machen.
Dem widersetzten sich die Schlachta und die Kirche in der reaktionären Konföderation von Bar. Die initiierte einen Bürgerkrieg und einen gegen Russland. Nach Jahren konnte der aber niedergeschlagen werden. Inzwischen gab es doch einige zaghafte bürgerliche Reformen, die in der Verfassung vom 3, Mai 1791 ihren Niederschlag fanden. Das verängstigte die Magnaten, denn zu jener Zeit fand in Frankreich eine Revolution statt, die sich gegen den adligen Grundbesitz richtete. Russland schien für sie die einzige Ordnungsmacht zu sein, die ihre bedrohten Klasseninteressen schützen konnte, selbst auf die Gefahr des Verlustes der eigenen schwachen Staatlichkeit.
Ein neuer Kosakenaufstand in der polnischen Ukraine, der 1768 den Osten erschütterte, verstärkte derartige Bemühungen der Magnaten. Infolge dieses Aufstandes kamen etwa 200 000 Polen und Ukrainer ums Leben. In der Stadt Uman wurden nach der friedlichen Übergabe der Stadt 3 000 Juden in eine Synagoge gepfercht und dann durch Feuer umgebracht. Dieser sogenannte Heidamaken – Aufstand wurde durch angeforderte russische Truppen niedergeschlagen.
1792 wurde von den Magnaten die Konföderation von Targowica unter russischer Ägide geschaffen, die alle Reformen beseitigen sollte. Der Versuch polnischer Patrioten, in einem Aufstand das Ruder herumzureißen, scheiterte.
Das politisch unregierbare Land wurde nun seit 1772, 1773 und 1775 unter seinen Nachbarn völlig aufgeteilt und Polen gezwungen, das anzuerkennen. Das setzten in erster Linie russische Truppen durch. Bis heute hält sich daher die Legende, dass die Russen für den Untergang des alten Polens verantwortlich gewesen wären. Das ist so nicht richtig. Die Hauptschuld am Niedergang jenes Polens trugen die volks- und staatsfeindlichen Aktivitäten der Schlachta und der katholischen Kirche, die ihre unmittelbaren Interessen über die des Staates stellten. Verhängnisvoll erwies sich, dass die Schlachta vorwiegend später die polnische Intelligenz bildete und gemeinsam mit dem reaktionären Klerus diese ahistorische Sichtweise nahezu ungehindert bis heute verbreiten konnte. Schuldig waren aber auch die Magnaten, die sich lieber von Ausländern als von schwachen Einheimischen schützen ließen.
Russland wurde seither zum Hauptfeind des polnischen Volkes deklariert.
Von da aus zieht sich eine klar ersichtliche Linie, die zwar mehrfach unterbrochen worden war, doch letztlich bis in die heutigen Tage: Ein von irrationalen und emotional getriebenen Wunsch, es Russland heimzuzahlen und die verlorenen Ostgebiete Polen wieder zuzuführen.
Vorerst, 1795, waren es aber nicht die Russen, sondern die Österreicher und Preußen, die die ethnisch – polnischen Gebiete besetzten. Warschau wurde eine preußische Provinzstadt. Südpolen und die Westukraine kamen zu Österreich. Russland annektierte zwar die größte Fläche, doch nur die mit mehrheitlich Russen und Belorussen sowie Litauen. Die russische bzw. belorussische Grenze verlief dort, wo sie auch heute ist, bei Brest am Bug. Die Russen hatten es vorgezogen, die Zentren des patriotischen polnischen Widerstandes den Deutschen zu überlassen. Sie kannten die Polen, mochten sich die Deutschen mit ihnen auseinandersetzen.
Zehn Jahre später wurde unter Napoleon ein polnischer Rumpfstaat, das Großherzogtum Warschau aus ehemals preußischem Besitz gebildet. Im Krieg gegen Österreich gelang es ihm, Teile des österreichischen Besitzes in Zentralpolen anzuschließen. Die Westukraine hingegen nicht. Das neue Polen, in im Gegensatz zum alten, war ein relativ moderner Staat mit einer bürgerlichen Verfassung. Er beteiligt sich 1812 an Napoleons Feldzug gegen Russland. Warschau hatte hierbei die Illusion, das russische Teilungsgebiet wieder in polnischen Besitz zu bringen. Der Russlandfeldzug wurde auch ein Fiasko für Polen. Polnische Einheiten besetzten zwar nach 200 Jahren wieder Moskau, doch mussten sie sich gemeinsam mit den Franzosen aus dem eisigen Russland zurückziehen. Von den 100 000 polnischen Soldaten überlebten nur 24 000.
Nach der Niederklage Napoleons wurde aus dem Großherzogtum ein russisches Königreich. Die russische Präsenz war nur der russische Zar, der Polen in Personalunion verwaltete. Alles andere funktionierte wie ein normaler Staat; es war mehr als Autonomie. Doch das war der ökonomisch und politisch absteigenden Schlachta nicht gut genug. 1830/31 kam es zum Aufstand und Kriegserklärung gegenüber Russland. Dieser Aufstand wurde niedergeschlagen wie auch der von 1863/64. Polen verlor die letzten Attribute seiner Autonomie. Die 1795 zu Russland gekommenen Gebiete waren inzwischen im Russischen Reich integriert und nahmen eine eigene Entwicklung.
Die Österreicher gingen einen anderen Weg. Nach fehlgeschlagenen Aufständen führten sie in Südpolen ein liberales System ein. Kraków wurde nun polnisches Kulturzentrum und auch Emigrationsort für Polen aus dem russischen Gebiet. In der Westukraine hingegen wurden die Polen präferiert und gegen die Ukrainer ausgespielt. Die Verwaltung lag weitgehend in polnischen Händen. Den Ukrainern hingegen gestatte man die Bildung nationaler Organisationen. Hierbei spielte die griechisch-katholische Kirche eine bedeutende Rolle. Ursprünglich im 16. Jh. durch die polnische Kirche als Konkurrenzunternehmen gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche geschaffen, wurde sie nun zur ukrainischen Nationalkirche, eine Brutstätte des aufkommenden ukrainischen Nationalismus.
Im 19. Jh., als sich die nationalen Bewegungen in Europa langsam durchsetzen, kam es auch in Osteuropa zu perspektivischen Vorstellungen. Ursprünglich wollten Ukrainer, Belorussen und Litauer Autonomie unter russischer Herrschaft erkämpfen. Später brach sich der Gedanke eigener Staatlichkeit, vor allem unter den Ukrainern Bahn. Allen von ihnen war zu eigen, dass
sie unter keinen Umständen wieder unter polnischer Ägide leben wollten.
Das war auch den Polen im Lande selbst und in der Emigration bekannt. Doch davon ließ sich die Schlachta-Intelligenz nicht beeindrucken. Gefordert wurde von fast allen politischen Kräften ein neues Polen in den Grenzen vor der Dreiteilung. Allein die polnischen Nationalisten (Endecja) wollte eine Autonomie unter russischer Ägide auch mit den deutschen Gebieten. Im Osten sollten nur Gebiete erfasst werden, die mehrheitlich von Polen besiedelt waren. Sie hatten aus dem Untergang des alten Polens die richtigen Schlussfolgerungen gezogen und wollten mit Russland gemeinsam gehen. Sehr spät erst bekannten sie sich zu einem eigenständigen neuen polnischen Staat. Völlig anders Józef Piłsudski und seine Anhänger, die sich im Verlauf des Ersten Weltkrieges auch mit Hilfe der Deutschen durchsetzen konnten. Ihnen schwebte eine Föderation aus Polen, der Ukraine, Belorussland und Litauen unter polnischer Führung vor, um Russland in Europa zu isolieren.
Als im November 1918 der neue polnische Staat geschaffen worden war, kam die Stunde der Wahrheit: Litauen lehnte ab, die belorussischen Gutsbesitzer fühlten sich vor den Linken unsicher und bevorzugten eine direkte polnische Herrschaft. In der Westukraine lieferten sich die Polen mit den ukrainischen Nationalisten erbitterte Kämpfe, bei denen die Ukrainer aber zurückgeworfen werden konnten. 1919, als die Sowjetmacht von den Weißen stark bedrängt worden war, entschloss sich Piłsudski, seinen Vormarsch gegen Moskau zu unterbrechen. Hauptgrund dafür war die Forderungen der Weißen, das alte Russland einschließlich Polens wieder zu vereinigen.
Inzwischen waren auch ukrainische nationalistische Regierungen mehrfach gegen die Weißen und auch Sowjets gescheitert. Die Sowjets hatte die Ukraine besetzt.
Im Frühjahr 1920 schickte sich Piłsudski an, doch noch sein föderatives Programm durchzusetzen. Mit dem exilierten ukrainischen Nationalistenführer Petljura wurde ein Vertrag abgeschlossen, der die gesamte Westukraine an Polen abtreten sollte und dafür bei der Schaffung einer von Polen anhängigen Ukraine behilflich sein sollte. Dieser Vertrag ist den Ukrainern bis heute unbekannt.
Der Kiewer Feldzug wurde zu einem Fiasko, in dessen Folge die Rote Armee bis Warschau gelangte. Es gelang den Polen jedoch, die sowjetischen Truppen hier zu besiegen und aus den ethnisch-polnischen Gebieten zu vertreiben. So konnte Piłsudski doch noch einen Sieg einfahren, der aber zugleich seinen Plänen ein Ende setzte. Die Westukraine und Westbelorussland kamen zu Polen. Piłsudski zog sich aus dem aktiven politischen Leben zurück.
Obwohl der Sieg der Polen über die Sowjets als „Wunder an der Weichsel“ propagandistisch ins Maßlose gesteigert wurde, hatte die Polen insgesamt ein schlechtes Geschäft gemacht.
Obwohl Polen sich weigerte, ein von den Westmächten gefordertes Referendum abzuhalten und 1923 die neuen Ostgrenzen Polens akzeptiert worden waren, meldete die UdSSR trotz Friedensvertrag von 1922 sein Interesse an diesen Gebieten an.
Zudem hatte sich Polen ein Sicherheitsrisiko eingehandelt: Westukrainer und Westbelorussen wollten nicht unter den Polen leben. In Belorussland gab es in den nächsten 20 Jahren eine linke Partisanenbewegung, prokommunistische Bauernverbände und Gewerkschaften und eine aktive kommunistische Partei. Westbelorussland war das revolutionäre Zentrum Polens, mehr als in den ethnisch-polnischen Gebieten und der Wunsch nach Angliederung an die UdSSR bzw. der Belorussischen Sowjetrepublik allgemein.
Anders in der Westukraine. Obwohl auch hier die Kommunisten stärker als in den polnischen Kernlanden waren, hatten hier die Nationalisten mit ihrer Nationalkirche das Sagen. Die ukrainischen Nationalisten schufen eigene Militärorganisationen, die die Polen in Bedrängnis brachten und bedeutende Politiker ermordeten. Ihr Ziel bestand in einer bürgerlichen Ukraine.
Alle Versuche der Polen, hier Ruhe zu schaffen, schlugen fehl.
Der polnische Gesellschaft, noch im Siegestaumel über die Bolschewiki 1920, waren diese Probleme nicht bewusst, Marschall Piłsudski schon: Den Sieg über die Sowjets, der sein Prestige gerettet hatte, empfand er als Glücksfall, der sich nie wiederholen würde. Immerhin hatten die Sowjets über die Hälfte des neuen Staatsgebiets erobert. Der antisowjetische Krieg hatte mehr Verluste zu beklagen als die polnischen Kontingente im Ersten Weltkrieg zusammengenommen. Der Marschall wusste, dass die UdSSR niemals auf diese Gebiete verzichten würde und hierbei auf die Ostslawen zählen konnte. Die Sowjetunion anzugreifen, egal mit wem, schloss er völlig aus. Es konnte sich von der zunehmenden Stärke der UdSSR trotz manipulierter Presseberichte doch ein relativ reales Bild machen. Zudem kannte er die Russen gut, unter denen er aufgewachsen war: Die Russen waren nicht zu besiegen!
Zudem erschien mit den Deutschen ein neuer Spieler am Horizont, der aus seinen revanchistischen Forderungen nach polnischen Gebieten keinen Hehl machte. Auf den Westen konnte er nicht bauen, wie sich schon 1925 durch Locarno herausstellen sollte. Er sollte sich nicht täuschen: der Westen ließ Polen 1939 im Stich.
Als der Marschall 1926 wieder die Macht übernahm, leitete er eine neue Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion ein. Die Beziehungen wurden sachlicher, von gegenseitigem Respekt geleitet, antisowjetische Institutionen aufgelöst, weißgardistische Emigranten ausgewiesen und dem sowjetischen Botschafter versichert, dass Polen die UdSSR niemals angreifen würde. Mit diesen verbesserten Beziehungen wollte der Marschall die Hoffnungen der Ostslawen auf eine sowjetische Perspektive ausräumen.
Die wirtschaftlichen und vor allem kulturellen Beziehungen wurden intensiviert, sodass einige schon von freundschaftlichen Beziehungen sprechen wollten. Die sowjetische Seite blieb misstrauisch, zumal die polnische Gesellschaft diesen Intensionen offensichtlich zu folgen bereit war. Den Versuchen Moskaus, Polen in ein antideutsches Bündnis heranzuführen, scheiterte an der polnischen Politik des gleichen Abstandes zu Deutschland und zur UdSSR.
Dennoch kam es 1932 zum Abschluss eines Nichtangriffsvertrages zwischen Polen und der UdSSR.
In der Folgezeit kam es hingegen zu einer engeren Zusammenarbeit mit Hitlerdeutschland, die in Zusammenhang mit der Zerschlagung der ČSR eine kurzzeitige Krise in den Beziehungen zur UdSSR hinterließ. Dennoch erteilten Piłsudski und sein außenpolitischer Willensvollstrecker Józef Beck auch den geschicktesten deutschen Versuchen, Polen zu einem politischen und militärischen Bündnis gegen die Sowjets zu überreden, eine klare und unmissverständliche Absage. Das ist ein bedeutendes historisches Verdienst!
Jahrzehntelang ist die polnische Außenpolitik angesichts des deutschen Überfalls als falsch, verhängnisvoll usw. bezeichnet worden. Von bürgerlicher und sozialistischer Seite diente das als Legitimation für die Londoner Exilregierung wie für Volkspolen. Außenminister Beck wurde als Sündenbock für die Niederlage Polens hingestellt. Das Hauptargument der Linken war, dass er ein Bündnis mit der UdSSR ausgeschlagen hatte.
Das bedarf einer gründlichen Revision!
Alles in allem hatte Beck und die polnische Regierung in bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Ein Bündnis mit der UdSSR wäre zwar günstig, doch mit der damaligen polnischen Gesellschaft nicht zu machen gewesen. Zudem war es nach aktueller Bündnislage nicht lebensnotwendig. Polen vertraute auf die vertraglichen Vereinbarungen mit Frankreich und Großbritannien, dass 15 Tage nach einem deutschen Überfall eine westliche Offensive begonnen hätte. In diesem Falle hätte sich Polen in Zentralpolen halten können. Am 10. September 1939 vereinbarten die Westmächte im französischen Abbeville, dass Polen nicht in dieser Art geholfen werden könnte. Das wurde den Polen allerdings nicht mitgeteilt, die vergebens auf eine Offensive warteten.
Von den Ergebnissen von Abbeville ist aber die sowjetische Führung informiert worden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die UdSSR nichts unternommen, um in Ostpolen einzumarschieren. Vieles spricht dafür, dass die UdSSR im Falle einer westlichen und erfolgreichen Offensive eine andere Option eingeleitet hätte. Nun aber wurde hektisch und vielfach chaotisch der Einmarsch in Ostpolen vorbereitet. Zudem waren deutsche Truppen inzwischen in die für die Sowjets vorgesehenen Gebiete vorgerückt. Es kam zu militärischen Auseinandersetzungen (Lwow) und einer verbindlichen deutsch- sowjetischen Truppenentflechtung.
Der Hauptgrund für die polnische Ablehnung eines sowjetischen Bündnisses hing damit zusammen, dass durch den Einmarsch der Roten Armee es im Osten zu einem prosowjetischen Aufstand gekommen und diese Gebiete letztlich an die Sowjetunion gegangen wären. Diese Befürchtungen bestätigten sich: Am 12. September brach in der Westukraine ein von den Nationalisten ausgerufener Aufstand aus, dem sich nach dem Einmarsch der Sowjettruppen am 17. September auch die ukrainischen Linken und das belorussische Volk anschloss. Polnische Truppen und Kleinstädte wurden angegriffen und die Macht übernommen. Dieser ostslawische Volksaufstand bildete die Grundlage für die schnelle Wiedererrichtung der Sowjetmacht und den Anschluss jener Gebiete an die UdSSR. 1940 kam noch die Nordbukowina und 1945 die Karpato-Ukraine hinzu, womit die Ukraine erstmals in der Geschichte vereinigt worden war. Das blieb bis heute so: Die Grenzen der Ukraine und Belorusslands (1945 musste es das Gebiet von Białystok an Polen zurückgeben) zu Polen sind bis auf geringfügige Veränderungen die gleichen wie damals.
Während in Westbelorussland relativ reibungslos die Sowjetmacht wiederhergestellt wurde, leisteten die ukrainischen Nationalisten erheblichen Widerstand und erwarteten die Deutschen.
Nachdem die Nazis in der Westukraine eingedrungen waren, begannen hier die antisemitischen Massenpogrome durch die Nationalisten. Hier lebten 824 000 Juden, 27 % aller polnischen Juden von 1931. Viele Juden hatten sich mit den Sowjets zurückgezogen. Den Krieg überlebten nur 250 000 Juden, die nach Polen zurückkehren sollten, vorher aber auch in Belorussland und Litauen gelebt hatten. Die jüdischen Opfer wurden nach dem Kriege den Deutschen angelastet, doch Dokumente und Erlebnisberichte verweisen auf eine massenhafte Teilnahme der ukrainischen Nationalisten. Die Nazis wären allein gar nicht in der Lage gewesen, vor allem auf dem Land Juden ausfindig zu machen. Mordende Ukrainer raubten die Juden aus, übernehmen ihre Wohnungen, Besitz, Werkstätten usw. Hier gab es also handfeste Gründe, ihre jüdischen Mitbürger zu erschlagen. Ukrainer halfen den Deutschen in Polizeieinheiten, bei der Bewachung von Vernichtungslager und stellten 18 000 Soldaten für eine SS – Division. 1942 wurde die sogenannte Ukrainische Aufständischenarmee gegründet, die vorgab, gegen die Deutschen zu kämpfen. Tatsächlich begann sie ein Massenmorden an der polnischen Minderheit, so dass sie sogar bei den Deutschen um Schutz nachsuchte. Sie ermordeten um die 200 000 Polen und vertrieben etwa eine halbe Million von ihnen aus der Ukraine.
Erst die Befreiung durch die Rote Armee setzte dem Massenmord ein Ende. 120 000 Ukrainer flohen mit den deutschen Faschisten.
Die UdSSR suchte bis zum Sommer 1944 mit der polnischen Exilregierung den Kontakt für den Fall der Befreiung Polens. Dazu verlangte sie die Anerkennung der neuen sowjetischen Grenzen. Das wurde permanent abgelehnt und den Sowjets freche Forderungen gestellt. Die UdSSR war daher gezwungen, mit ihrer Befreiung Polens eine linke Verwaltung einzusetzen. Die Westmächte rieten dringend, den Forderungen der Sowjets nachzukommen und die neuen Grenzen zu akzeptieren. Doch die ignorierten auch die Feindseligkeiten der Ukrainer und wollten den polnischen Großgrundbesitz in der Westukraine und Westbelorussland wiederherstellen. Im Herbst 1944, nachdem der Warschauer Aufstand gescheitert war und die Rechten ihre Machtübernahme verspielt hatten, forderten sie den Westen sogar dazu auf, gleich gegen die UdSSR Krieg zu führen. Churchill antwortete ihnen empört: „Man kann Russland nicht besiegen!“ 1945 wurden die Westgrenzen der UdSSR von der neuen linken Regierung und auch den Westmächten endgültig anerkannt.
Heute spekulieren die neubürgerlichen Machthaber in Warschau auf einen ukrainischen Sieg, mögliche Grenzveränderungen, sogar von einer Union mit der Ukraine ist die Rede. Doch das würde keine Mehrheit in Polen finden. Die ukrainischen Massaker der Kriegsjahre sind noch frisch im nationalen Bewusstsein. Auch das Verhalten der ukrainischen Kriegsflüchtlinge – etwa eine Million – wird zunehmend als dreist empfunden. Nur 17% der Polen sind für einen weiteren Verbleib der Ukrainer.
Es ist zu wünschen, dass die Polen trotz nationalistischer Manipulation aus der Vergangenheit gelernt haben und die Regierung zu Realpolitik zurückfindet.
Oberleutnant d. R. Dr. Holger Michael