20.09.2024

„Die bessere Sache“

Von Oberst a.D. Horst Nörenberg


Immer wieder und auch heute, nach 35 Jahren bei einem katastrophalen Zustand unserer Welt, stellt sich wieder die Frage , WARUM? Warum sind wir gescheitert? Gerade zum 75. Jahrestag der Gründung unserer DDR. Wir ehemalige Soldaten im „Verband zur Pflege der Traditionen der NVA und der Grenztruppen“ haben diese Worte zu einer Losung gemacht. Aber warum war die bessere Sache nicht erfolgreich? In unserer Dienstzeit glaubten wir, wie viele in unserem Land, mit dem „Real existierenden Sozialismus“ sind wir auf dem richtigen Weg zur besseren Sache, der besseren Gesellschaftsordnung in Frieden und Wohlstand für alle Menschen. Als Grundlage beriefen wir uns auf den Marxismus - Leninismus.
1989 / 90 mussten wir leider feststellen, unsere „Bessere Sache“ war vom Sozialismus weit entfernt. Immer mehr Menschen glaubten nicht mehr an diesen Sozialismus. Doch wie war das möglich? Das Jahr 1989 kam doch nicht über Nacht. Warum wurde nicht rechtzeitig gehandelt? Der faulende und sterbende Kapitalismus war nicht bereit zur Kapitulation, das merkten wir doch. Da eine ganze Staatengemeinschaft gescheitert war, musste es da nicht ein Systemfehler gewesen sein? Lenin schrieb: „Eine Revolution ist nur dann etwas wert, wenn sie sich zu verteidigen versteht.“ Welche Revolution hätten wir verteidigen sollen? Warum konnten wir unsere DDR nicht verteidigen? Diese Frage beschäftigt mich immer wieder. 1944 /45 gab es in den Ländern der späteren sozialistischen Staatengemeinschaft keine Revolution im leninschen Sinne. Schon gar nicht in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Vielleicht in Jugoslawien. In einer Beratung mit Führern des Ostblocks sagte Stalin: „Es geht hier nicht darum, das sowjetische politische Modell einzuführen. Die Lage, die in Osteuropa nach 1945 eingetreten ist, ist eindeutig günstiger, als bei uns 1917. In Polen gibt es keine Diktatur des Proletariats und ihr braucht sie auch nicht. Es ist möglich den Sozialismus auf neue Art zu verwirklichen, man muss andere Methoden und Formen anwenden.“  (Domenico Losurdo, Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende Seite 167, IBAN 978-3-89438-496-8)
Der Ausbruch des Kalten Kriegs unterbricht leider diese Erfahrungen und Überlegungen Stalins.
Die Ausgangslage für unseren Sozialismus wurde uns von der Roten Armee geschaffen. Nur wurde vergessen, wir waren 1945 ein Volk von 85 % ehemaliger Faschisten, faschistischen Mitläufern und Antikommunisten, die nun Sozialisten werden sollten. Allein das führte zu Problemen mit der Anerkennung der führenden Rolle einer „Kommunistischen Partei“ und der Diktatur des Proletariats. Gerade dieses Proletariat trug die braunen Uniformen der SA und kämpfte in der Wehrmacht für den Endsieg.
„Für den Marxisten unterliegt es keinen Zweifel, daß eine Revolution ohne revolutionäre Situation unmöglich ist, wobei nicht jede revolutionäre Situation zur Revolution führt.“ (Lenin)
Wo war 1945 die revolutionäre Situation in Ostdeutschland?
Die Aufarbeitung des Stalinismus war mit dem Sturz Chruschtschows 1964 beendet. Er erinnerte aber an die Worte Lenins, dass eine Partei, die sich nicht fürchtet, die Wahrheit zu sagen, nie untergehen wird. „Wir haben aus der Vergangenheit die Lehren gezogen und möchten, dass andere Bruderparteien ebenfalls solche Lehren ziehen. Dann wird unser gemeinsamer Sieg gesichert sein.“ Stalin bewältigen“ Seite 316, IBAN 3-88501-083-6 .Vom „Großen Terror“ habe ich in keinem Geschichtsbuch etwas gelesen. Ich wunderte mich nur über die vielen Persönlichkeiten der Sowjetunion, die alle 1937/38 gestorben waren. Selbst an der Akademie gab es keine genaue Auskunft über diese Zeit.
Mit unserer wissenschaftlichen Theorie waren wir nicht alleine und neben den Stalinisten gab es noch Trotzkisten, Maoisten und Titoisten. Sie hatten andre Vorstellungen vom Weg zum Sozialismus und lehnten vor allem die von Moskau beanspruchte Führungsrolle ab. Es gab zwischen den „Bruderländern“ keine echte, brüderliche Zusammenarbeit bei der Suche nach einem erfolgreichen Weg zum Sozialismus. Die Ereignisse von 1953, 1956 und 1968 führten zu keiner grundlegenden Debatte über den Weg zum Sieg des Sozialismus. Auch die Frage, warum waren Menschen bereit unter Lebensgefahr unser Land zu verlassen, stand im Raum. Im September 1968, kurz nach dem Einmarsch in die CSSR, besuchte KGB-Chef Andropow die DDR und traf sich mit der Führung des MfS. Wie üblich gaben beide Chefs ihre Bewertungen der Ereignisse ab. Mielke verurteilte das Versagen der tschechischen Genossen, das würde es in der DDR nie geben sagte er. Andropow hörte sich das an und antwortete: „Das ist aber nur eine Seite der Geschichte …….. man muß in jedem Land sorgfältig abwägen, wie die innenpolitische Lage beschaffen ist….. Im übrigen wären wir gut beraten, die Gründe für das, was in der CSSR geschehen ist, bei uns selbst zu suchen, in der inneren Entwicklung unserer Staaten, in der Kommunistischen Bewegung. Ich glaube auch , dass es unabdingbar ist über den leninschen Weg zum Sozialismus und über den sozialdemokratischen Weg neu nachzudenken und zu diskutieren. Es verschlug uns fast die Sprache, so Markus Wolf in seinem Buch Seite 229 und 230. IBAN 3-471-79158-2) Das war 1968, erstaunliche Überlegungen. Mielke hat darüber nie wieder gesprochen, auch nicht mit Honecker und so nahm die Geschichte ihren Lauf. Die Widersprüche in der kommunistischen Weltbewegung, zwischen den Parteien, die von der Linie der KPdSU abwichen und in der KPdSU selbst, wo die Elemente des Stalinismus nie wirklich überwunden wurden, gab es keine Bewegung hin zu Veränderungen. Den Personenkult um Breshnew und seiner Politik der Stagnation habe ich in meiner Zeit an der Akademie in Moskau persönlich erlebt. Dabei spielte die fehlende Demokratie und Kollektivität in der Partei und in der Gesellschaft eine wesentliche Rolle. Die unpersönliche Lebensweise des SED - Politbüros in Wandlitz ist dafür ein Beweis. Die „teuren Genossen“ waren Einzelgänger und mieden den privaten Umgang mit ihren Kampfgenossen. (Belege im Buch „Ausschluss, Das Politbüro vor dem Parteigericht) IBAN 978-3-320-02365-2) Die macht in den Händen einer Person oder einer Gruppe führte zu Verwerfungen und zum Subjektivismus, besonders in der Wirtschaftspolitik. In der Parteiführung wurden Schönfärberei, Lobhudelei, Egoismus, bürokratisches Verhalten und sich am Erfolg zu berauschen zum Führungsstiel. Durch das Politbüro der SED wurde grob gegen das Statut der Partei verstoßen und über Grundsatzfragen mit Honecker nie diskutiert. Werner Eberlein macht dazu erschütternde Aussagen in seinem Buch „Geboren am 9. November“, IBAN 3-360-00927-4. Es sprengt meine Vorstellungskraft, hat keiner den langsamen Verfall unserer besseren Sache bemerkt? Eberleins Kernfrage an sich selbst ist: „Warum haben wir geschwiegen, wo wir es doch besser wussten?“ Lenins Aussage, die Arbeitsproduktivität entscheidet den Klassenkampf, wurde besonders unter Honecker und Mittag völlig negiert.

„Auch so ist jene Atmosphäre im Land entstanden, in welcher der Chef nur erfährt, was den Filter, der ihn schützen soll, passiert. Man umgibt sich , je höher der Aufstieg erfolgt, mit immer zuverlässigeren Mitarbeitern, die die Führung immer zuverlässiger gegen unliebsame Informationen abschirmt. Nur so natürlich, dass immer öfter der Bote bestraft wird, der schlechte Nachrichten aus der Realität bringt.“(Hans Modrow in seinem Buch Seite 244. Dazu kam die umfassende Abhängigkeit von der Sowjetunion. Gorbatschows Alleingang mit Glasnost und Perestroika führte ins Chaos. Selbst in der Stunde der höchsten Gefahr kochte jeder sein eigenes Süppchen. Das Alte wurde eingerissen. Das Neue lag verschwommen im Nebel. Die Zeit der Parole „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen,“ war endgültig vorbei. War sie vielleicht schon immer ein Fehler? Die Verstärkung der Mangelwirtschaft war in der SU schon lange vor der DDR zu spüren. Wir begründeten das mit den Aktivitäten der SU für Frieden und Sozialismus in der ganzen Welt. Damit ging aber das Vertrauen der Bevölkerung in die Partei verloren. In der DDR erreichte der „Real existierende Sozialismus“ und die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht ihre Ziele. Im Gegenteil, die Wirtschaft wurde auf „Verschleiß“ gefahren und alles was man für D- Mark verkaufen konnte, wurde unter Wert an den Westen verschleudert. Nach 40 Jahren wollten die Menschen von diesem Sozialismus, der Bevormundung bis in die privateste Ecke und der Mangelwirtschaft nichts mehr wissen. Der gewaltige Polit – und Parteiapparat mit seiner politisch - ideologischen Arbeit erreichte die Menschen nicht mehr. Die Partei – und FDJ-arbeit in den Betrieben und Einrichtungen wurde belächelt. Der Rat des Kreises/Kreisleitung der SED, der Rat des Bezirkes/ Bezirksleitung der SED, Ministerrat/ZK und Politbüro der SED, alles war zweigleisig, ähnliches auch in der NVA. 1989 /90 gab es Fälle, wo einige Politkader uns nun sagen wollten was in der Stunde der Wahrheit unsere Aufgabe ist. Generaloberst Brünner wurde von den Delegierten der NVA zum Sonderparteitag der PDS ausgebuht. Wer war wo für was verantwortlich??? Im Truppendienst lebten wir in der Regel von 07:00 Uhr bis 18:00 Uhr gesellschaftlich unter einer Käseglocke. Was die Menschen auf der Straße bewegte, war uns fremd. Manche Bemerkungen von Bekannten oder Verwandten, über unser Land, verstand ich gar nicht. Den Wettstreit der Systeme hatten wir so verloren. Dabei wurden wir jedoch nicht besiegt sondern verraten. Durch die Arroganz der Macht verraten. Selbst ohne Beine wollte man im Zentrum der Macht stehen und der einmal eingenommene Platz, wurde mit allen Mitteln verteidigt. (Günter Mittag) Im Klassenkampf gab es die größten Verluste nicht beim Gegner, sondern in den eigenen Reihen. Die Tragödien des Stalinismus und Maoismus kosteten ca. 60 Millionen Menschen das Leben. Allein in der Roten Armee waren es ca. 45000 Offiziere, davon 3 Marschälle und 13 Armeekommandeure 2. und 1. Ranges, die 1941 an allen Fronten fehlten. In den ersten 3 Monaten des Krieges gingen 1,1 Millionen gut ausgebildeter, aber schlecht bewaffneter Rotarmisten in Gefangenschaft, verhungerten dort oder starben durch Zwangsarbeit. Für Stalin waren die wenigen Heimkehrer Verräter, weil sie die vielen Kesselschlachten lebend überstanden. Bei einem Sieg der besseren Sache hätten diese „Verluste“ und die anderen Opfer aus den 70 Jahren „Sozialismus“einen tieferen Sinn gehabt. So aber haben wir zwar bewiesen, es geht auch ohne Kapitalisten, doch der Weg dahin ist viel weiter als er je war. Kuba kämpft jeden Tag um sein Überleben und unsere Hoffnungen auf China müssen sich erst noch beweisen, ob man es am Ende Sozialismus nennen kann. Ja, wir haben einer besseren Sache gedient, aber am Ende sind wir gescheitert.

Wenn wir brüderlich uns einen
Schlagen wir des Volkes Feind
Lasst das Licht des Friedens scheinen
Dass nie eine Mutter mehr
Ihren Sohn beweint.

Anmerkung:
Für die 30 Jahre der Geschichte der Sowjetunion unter Stalin ist der grundlegende Aspekt nicht die Mündung der Parteidiktatur in die Autokratie, sondern der wiederholte Versuch, vom Ausnahmezustand zu einer Situation relativer Normalität überzugehen. Revolution, Bürgerkrieg, innere Machtkämpfe, permanente Bedrohung von außen, Kriegskommunismus, der Ausnahmezustand war der Normalzustand.

 

 

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