18.12.2023
Was man in Deutschland am liebsten verschweigt!
Im Jahr 1991, am 24. August, wurde die Ukraine ein souveräner Staat. Geschuldet war dies dem Verrat der 3 „Staatsführer“ der Russischen Föderation, Belarus und der Ukraine.
Mit diesem Tag begann auch die Renaissance des Kultes um Bandera. Im nachfolgenden kann in einem Beitrag, der in der Jungen Welt erschienen ist, nachgelesen werden, wie sich in der nun souveränen Ukraine ein beispielloser Nationalismus mit eindeutigen faschistischen Zügen, entwickelt. Leider hüllen sich die deutschen Medien in ein eisernes Schweigen, wenn es um diese Entwicklung handelt. Gleiches gilt, wenn es um die Geschichte der Ukraine und ihrer Sprache geht. Auch hier werden die historischen Tatsachen verschwiegen und die nationalistischen Darstellungen werden kritiklos übernommen.
Die Ukraine, so wie sie sich seit 1991 darstellt, ist ein rein sowjetisches Projekt, ohne ihre nationale Politik, hätte es weder die „Ukraine“ noch die „Ukrainer“ gegeben. Hier soll nur an die territorialen Veränderungen in Folge des Friedens von Brest-Litovsk erinnert werden oder auch an das, unter Umgehung der Zustimmung durch den Obersten Sowjet, Geschenk Chrustschows: die Krim.
Ein zweiter Beitrag beschäftigt sich mit dem Judenhass der ukrainischen Nationalisten.
Beide Beiträge zeigen mit großer Deutlichkeit auf, um welche Art von Staat die sich heutige Ukraine handelt. Auch hier schweigt sich die deutsche Medienlandschaft aus. Eine Ausnahme bildet die „Junge Welt“.
Da aber nur eine sehr begrenzte Zahl die Junge Welt liest, sollten diese beiden Beiträge für alle interessierten Leser Grund genug sein, diese Beiträge aufmerksam zu lesen. Sie sind auch eine gute Grundlage für Diskussionen, wenn es um die gegenwärtige Ukrainepolitik der bundesdeutschen Regierung geht.
Wolfgang Herzig
Oberst a.D.
Aus: junge welt, Ausgabe vom 28.10.2023, Seite 12 / Thema
GESCHICHTE DER UKRAINE
Der Bandera-Kult
Vom Mörder und Faschisten zum Führer der Nation: Zur Geschichte der Bandera-Verehrung. Eine Literaturstudie (Teil 3 und Schluss)
Von Arnold Schölzel
Teil 1 und Teil 2 der Serie erschienen am 12. und 19. Mai 2023 an dieser Stelle
Die bisher einzige wissenschaftliche Biographie über Stepan Bandera (1909–1959) veröffentlichte 2014 der deutsch-polnische Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe im Stuttgarter Ibidem-Verlag auf englisch unter dem Titel »Stepan Bandera: The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist: Fascism, Genocide, and Cult« (Stepan Bandera: Das Leben und Nachleben eines ukrainischen Nationalisten: Faschismus, Völkermord und Kult). Das Buch beruht auf der 2012 an der Universität Hamburg verteidigten Dissertation des Autors. Es enthält wesentlich mehr als eine gewöhnliche Biographie, geht vielmehr zurück zu den ideologischen Quellen des ukrainischen Nationalismus, schildert das Entstehen der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und ihr Fortleben über den Tod ihres »Prowidnik« (Führers) Bandera hinaus und befasst sich im abschließenden zehnten Kapitel mit Themen wie »Das erste Bandera-Denkmal in der Ukraine«, »Der Bandera-Kult in der Geschichtsschreibung«, »Bandera-Museen« sowie »Bandera-Straßen, Gedenktafeln und Denkmäler«. Der Band wurde ins Polnische, Ukrainische und Russische übersetzt, nicht aber ins Deutsche.
Mythisch und realitätsfern
Im Vorwort schildert Rossoliński-Liebe, auf welche Feindseligkeit er stieß, als er in der Ukraine kritische Nachfragen stellte. Seine Schlussfolgerung lautet, »dass die gewöhnlichen Darstellungen Banderas – ob apologetisch oder dämonisierend – auf Leugnung bestimmter Aspekte seiner Vergangenheit und auf kollektiver Falschinformation, insbesondere in der postsowjetischen Westukraine«, beruhen. Bei Nachforschungen zur Nachkriegsperiode habe er begriffen, dass »unser Verständnis von Bandera und seiner Bewegung im wesentlichen auf der Propaganda der Bewegung basierte«. Von deren Veteranen und ihren Sympathisanten sei diese »den Realitäten des Kalten Krieges angepasst« worden. Einige tausend dieser Leute hatten in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs zusammen mit den Deutschen die Westukraine verlassen und lebten in verschiedenen Ländern des westlichen Blocks. Je länger er geforscht habe, so Rossoliński-Liebe, desto erstaunter sei er gewesen, »wie mythisch und realitätsfern die Bandera-Bilder sind«. In der 1991 unabhängig gewordenen Ukraine hätten Historiker dem nichts entgegengesetzt, vielmehr seien die Erzählungen der OUN-Veteranen verbreitet worden.
Insbesondere die »Kontextualisierung« Banderas und der OUN durch den Autor rief heftige Reaktionen extrem rechter Aktivisten und Stirnrunzeln bei Historikerkollegen hervor. Hauptpunkt: die Verwicklung der Bandera-Anhänger in den Holocaust. Programm und Aktionen der Judenvernichtung strichen sie bereits während des Zweiten Weltkrieges aus ihren Dokumenten oder fälschten diese einfach. Heute ist insbesondere in der Ukraine ein Grad von Dreistigkeit in dieser Hinsicht erreicht, der ziemlich einmalig ist: Bandera und die OUN waren demnach nie Antisemiten, geschweige denn, dass sie an Pogromen wie denen in Lwów (heute Lwiw) im Juli 1941 teilgenommen hätten.
Je länger Rossoliński-Liebe an seiner Studie arbeitete, desto mehr wurden seine Forschungen und er als Person angegriffen. Als er im März 2012 von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der deutschen Botschaft in Kiew eingeladen wurde, sechs Vorträge über Bandera in drei ukrainischen Städten zu halten, wurden alle abgesagt. Nicht nur rechte Aktivisten, sondern auch »liberale« Wissenschaftler hatten, wie der Autor schreibt, eine »organisierte Hysterie« entfacht. Schließlich fand nur ein Vortrag auf dem Gelände der deutschen Botschaft statt. Vor dem Gebäude hatten sich an die hundert wütende Demonstranten versammelt, die Interessierte von der Veranstaltung fernhalten wollten. Laut ihren Parolen war Rossoliński-Liebe ein »Enkel von Joseph Goebbels« und »liberaler Faschist aus Berlin«.
Nationalismus und Faschismus
Aus der Sicht Rossoliński-Liebes entstand die fast sakrale Verehrung Banderas in den 1930er Jahren »und besteht bis in die Gegenwart fort«. Das Ziel seiner Untersuchung ist der Kontext, in dem Person und Kult wechselseitig standen. Neben der Biographie enthält sein Buch daher auch eine Geschichte der OUN und Analysen der Schriften, die den Bandera-Kult bis heute fördern. Bandera selbst sei nicht zufällig »das zentrale Symbol des ukrainischen Nationalismus« geworden. Mit seiner Radikalität und doktrinären Entschlossenheit, die »Wiedergeburt« der ukrainischen Nation herbeizuführen, habe er die Erwartungen seiner Gefolgsleute erfüllt. Diese Eigenschaften hätten ihn zum Symbol der »gewalttätigsten westukrainischen Bewegung im 20. Jahrhundert« gemacht, der OUN, die Ende 1942, Anfang 1943 die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) gründete, nachdem Hitler seinen glühenden Verehrern einen ukrainischen Staat verweigert hatte. Anders als andere »Führer« seiner Zeit, regierte Bandera zwar nie einen Staat, die »Ironie der Geschichte«, so der Autor, habe es aber gewollt, dass der damalige ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko ihn 2010 zum »Helden der Ukraine« erklärte.
Der »politische Mythos um Bandera« war, so Rossoliński-Liebe, in der Ideologie des ukrainischen Nationalismus verankert, »der in den 1920er, 1930er und den frühen 1940er Jahren einen Prozess der Faschisierung durchlief«. Wie die NSDAP und die kroatische Ustascha habe die OUN den Begriff »Faschismus« nicht im Parteinamen genutzt, ihre Mitglieder seien aber davon ausgegangen, dass es sich beim ukrainischen Nationalismus um dasselbe handele. Zugleich hätten sie sich wie die kroatische Ustascha oder die slowakische Hlinka-Partei in der Tschechoslowakei als Befreiungsbewegung verstanden, »die in einem revolutionären Akt die Macht übernehmen und eine faschistische Diktatur errichten« sollten. Eine Spezifik der OUN sei zudem die Wahrnehmung der Sowjetunion als wichtigstem Feind gewesen.
Als Beispiel für Weißwäscherei vom Faschismusvorwurf führt Rossoliński-Liebe einen 1955 erschienenen Dokumentenband an, Titel: »Die OUN im Lichte der Resolutionen der Großen Kongresse«. Darin wurden die Beschlüsse des zweiten »Großen Kongresses«, der im April 1941 in Kraków im faschistisch besetzten Polen stattgefunden hatte, abgedruckt. Rossoliński-Liebe, der Original und Reprint verglichen hat, schreibt: »Gemäß den ursprünglichen Beschlüssen führte die OUN einen faschistischen Gruß ein, der darin bestand, den rechten Arm ›leicht nach rechts, leicht über den Scheitel‹ zu heben und dabei ›Ruhm der Ukraine!‹ zu sagen (Slawa Ukraini!) und als Antwort ›Ruhm den Helden!‹ (Geroiam Slawa!). In der Ausgabe von 1955 wurde dieser besondere Teil des Textes ausgelassen.«
Anzunehmen ist, dass der deutsche »Zeitenwende«-Bundeskanzler und seine Kabinettsmitglieder, die diesen Gruß seit Februar 2022 regelmäßig verwenden, auch nach Kenntnis von dessen Geschichte keinen Grund zur Retusche sehen.
Staatenverhältnisse
Rossoliński-Liebe vertritt die Ansicht, dass der Terminus »Ukraine« in Galizien um 1900 in Gebrauch kam, obwohl er offensichtlich schon länger existierte. Erst die ukrainische Nationalbewegung »behauptete« demnach, es habe schon im Mittelalter »Bewohner der ›ukrainischen Territorien‹« gegeben. Von Beginn im späten 19. Jahrhundert an, so Rossoliński-Liebe, wurde sie »zunehmend feindlicher gegenüber Juden, Polen und Russen«. Polen galten als Besatzer, Juden als deren Helfer, Russen als Vertreter des Reichs, das einen großen Teil der Ukraine beherrschte. Allerdings verstand sich demnach schon damals die Mehrheit der Ukrainer als ein den Russen verwandtes Volk. Nach dem Zerfall des Deutschen, des österreichischen und des Zarenreichs entstanden in Osteuropa mehrere neue Staaten, allerdings kein ukrainischer. Bei den Friedensverhandlungen in Versailles wurden Vertreter der Ukraine von oben herab behandelt. Der polnische panslawistische Politiker Roman Dmowski bezeichnete sie als »Banditen«, einen möglichen ukrainischen Staat als deutsche Intrige und die Westukrainer, die im Habsburger Reich Ruthenen genannt worden waren, als Leute, die nichts mit den Ukrainern zu tun hätten. Ähnlich sahen das nicht wenige Zeitgenossen, einschließlich Rosa Luxemburg.
Besiegelt wurden die Grenzen der Ukraine der Zwischenkriegszeit durch den Frieden von Riga am 18. März 1921 zwischen Polen, Sowjetrussland und der Sowjetukraine. Der Vertrag beendete zugleich seit 1917 anhaltende antijüdische Pogrome in der Westukraine, bei denen 50.000 bis 60.000 Menschen ums Leben gekommen waren.
Bis zum Zweiten Weltkrieg lebten Ukrainer somit in vier Staaten: 26 Millionen in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 0,5 Millionen in der Tschechoslowakei, 0,8 Millionen in Rumänien und fünf Millionen in Polen, 3,5 Millionen davon im ehemals österreichischen Galizien und 1,5 Millionen im früher russischen Wolynien. Dort war die führende politische Kraft unter den Ukrainern bis 1939 die Kommunistische Partei der Westukraine (KPSU), in Galizien waren es bürgerlich-nationalistische Gruppen. Die Sowjetukraine verfolgte zunächst einen Kurs der »Ukrainisierung«, die Tschechoslowakei gewährte großzügige Minderheitenrechte, Polen und Rumänien allerdings drängten auf Assimilation. Sie schränkten den Gebrauch der ukrainischen Sprache an Bildungsstätten ein oder verboten ihn. Im öffentlichen Dienst konnten Ukrainer kaum Karriere machen. Sie bildeten faktisch einen Staat im Staat, indem sie zum Beispiel Agrargesellschaften bildeten, die nur Ukrainer beschäftigten.
Rossoliński-Liebe zitiert einen deutschen Journalisten, der im Frühjahr 1939 Galizien bereiste: Die ukrainische Bevölkerung hoffe, dass »Onkel Führer« Ordnung schaffe und das Problem mit den Polen löse. Nach dem Münchner Abkommen versuchten die westukrainischen Nationalisten, die Karpato-Ukraine aus der Tschechoslowakei zu lösen, aber Hitler schenkte das Gebiet Horthy-Ungarn.
Erste Kultstufe
Die OUN war im Winter 1929 in Wien auf dem Ersten Kongress Ukrainischer Nationalisten gegründet worden. Ihr Ziel war, die »ukrainischen Massen« zum Aufstand gegen Polen und die Sowjetunion zu führen und einen »ethnisch reinen Staat« (Rossoliński-Liebe) zu gründen, der diktatorisch von der OUN regiert werden sollte. Der neuen Organisation schlossen sich mehrere Gruppen an, darunter die Liga Ukrainischer Faschisten (SUF), die den Gruß »Slawa Ukraini!« nach dem Vorbild von »Heil Hitler!« erfunden hatte – einschließlich ausgestrecktem rechtem Arm. Erster Feind war Polen, die Sowjetunion galt als gefährlicher, aber die OUN vermied es, auf sowjetischem Territorium aktiv zu werden. Die OUN-Führer behaupteten, die Bewohner der Sowjetukraine würden eine »befreite Ukraine« sofort begrüßen. Das stellte sich während des Zweiten Weltkriegs und danach als großer Irrtum heraus. Die Ostukrainer zeigten wenig Neigung zu Nationalismus, Rassismus und Faschismus. Ähnliche Differenzen gab es auch mit den in Wolynien lebenden Ukrainern.
Die OUN, der sich der 20jährige Bandera sofort anschloss, war von Anfang an, so Rossoliński-Liebe, gespalten. Auf der einen Seite standen um 1890 geborene Männer mit militärischer Erfahrung, auf der anderen die um 1910 Geborenen, die mit viel Enthusiasmus, um nicht zu sagen Wahnvorstellungen, trüben Ideen folgten. Diese »Bandera-Generation« idealisierte den Krieg und übernahm 1931–1932 die Inlands-OUN. Bereits 1932 war Bandera, der häufig für einige Tage oder Wochen in polnischen Gefängnissen saß, stellvertretender OUN-Inlandsleiter, wenig später Chef. Formal unterstand er der OUN-Führung im Exil, entwickelte zusammen mit seinen gleichaltrigen Mitstreitern aber rasch einen eigenen radikalen politischen Kurs: hemmungslose Anwendung von Terror. Bandera forcierte Attentate. Beseitigt wurden Polen, Juden und Russen, aber auch Ukrainer, die zum Beispiel als Lehrer arbeiteten und daher als Verräter galten, oder OUN-Mitglieder, die Bandera für Abweichler hielt. Hinzu kamen bewaffnete Überfälle auf Banken, Postämter, Polizeistationen und private Haushalte. Rossoliński-Liebe schätzt, dass die OUN und ihre Vorgängerorganisation UWO in der Zwischenkriegsperiode mehrere hundert Menschen ermordeten.
Am 14. Juni 1934 verhafteten die polnischen Behörden Bandera und seinen Sprengstoffchemiker. Zu diesem Zeitpunkt war bereits ein OUN-Attentäter unterwegs, um einen Tag später den polnischen Innenminister Bronisław Pieracki zu töten. Im Herbst 1935 fand der Prozess dazu in Warschau statt, ein Jahr später in Lwów ein zweites Verfahren zu anderen Morden, in die Bandera verwickelt war und zu denen er sich vor Gericht freimütig bekannte. Ab diesem Zeitpunkt galt Bandera in der ukrainischen Faschistenszene als Held und faktisch als »Prowidnik«, als »Führer« der OUN, d. h. als zukünftiger Staatschef. In Lwów hatte er eine faktenfreie, emotionsgeladene Rede gehalten, die den Kernsatz enthielt: »Unsere Idee ist so gewaltig, dass bei ihrer Verwirklichung nicht Hunderte, sondern Tausende menschlicher Leben geopfert werden müssen.« Das blieb sein Credo. In der Westukraine entstanden bald Lieder auf ihn.
Bandera erhielt die Todesstrafe, die aber aufgrund eines kurz zuvor verabschiedeten Gesetzes in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt werden musste. In Lwów kam noch einmal lebenslänglich hinzu. Das Urteil in Warschau quittierte Bandera, der sich geweigert hatte, vor Gericht polnisch zu sprechen, mit dem Faschistengruß »Slawa Ukraini!«. Das war für ihn eine Premiere. Das Armhochreißen veranstaltete er nun regelmäßig. Bandera wanderte in den polnischen Knast, was ihn zum Märtyrer machte – mit Wirkung bis heute.
Banderas Aufstieg
Am 13. September 1939 flüchtete Bandera aus dem Gefängnis in Brest, das seit 1921 zu Polen gehörte. Er hielt sich kurz in Lwów auf, reiste aber vor Ankunft der Roten Armee, die das Gebiet für die Sowjetunion in Besitz nahm, ins »Generalgouvernement«, d. h. in das von den deutschen Faschisten besetzte Polen. Die deutsche Abwehr ermöglichte ihm eine Reise nach Rom, wo er sich mit Andrij Melnik traf, der während der Haftzeit Banderas im Exil die Führung der OUN übernommen hatte. Die beanspruchte nun Bandera erneut, stieß aber bei Melnik auf Ablehnung, was zur Spaltung der OUN in die OUN-B und OUN-M führte. Bandera warnte Melnik, dieser sei von Verrätern, vor allem Juden, umgeben, und sorgte dafür, dass etliche Kader der OUN-M das Zeitliche segneten, während Melnik Bandera bei einem OUN-Tribunal zum Tode verurteilen ließ – faschistische Mörder unter sich.
Die OUN-Spaltung, so Rossoliński-Liebe, »war der nächste bedeutende Schritt beim Aufstieg des politischen Kultes und Mythos« von Bandera: Die Mehrheit der jungen OUN-Mitglieder schloss sich ihm an. Die Vokabeln »Banderisten« und »Melnikiten« kamen auf. Beide Fraktionen überhäuften sich mit Pamphleten, in denen von jüdisch-bolschewistischen Agenten beim jeweils anderen die Rede war. Die OUN-B hielt zudem im Frühjahr 1941 in Kraków den schon erwähnten zweiten »Großen Kongress« ab und »legalisierte« sich selbst. Zwar hatte ein Kongress mit gleicher Bezeichnung schon 1939 in Rom stattgefunden, aber unter Melniks Leitung. Also schrieb die OUN-B unter fürsorglicher Betreuung durch Gestapo, SS und Abwehr, es gelte das Prinzip »Ein Volk, eine Partei, ein Führer«. Ziel sei, eine starke und gesunde »ukrainische Rasse« zu schaffen. Alle anderen Parteien hätten zu verschwinden. Die OUN-B sah sich an der Spitze des Kampfes gegen die Sowjetunion gemeinsam mit anderen »von Moskau versklavten und bedrohten Staaten«. Die »ukrainischen Massen« sollten für die »nationale Revolution« durch Zerstörung der Kollektivfarmen, Privatisierung des Bodens und »Umbau der bolschewistischen Sklavenwirtschaft in eine freie Ökonomie der ukrainischen Nation« gewonnen werden. Im übrigen seien »die Juden in der UdSSR die Hauptsäule des bolschewistischen Regimes und die Avantgarde des Moskauer Imperialismus in der Ukraine«. Sie müssten deswegen bekämpft werden, was aber kein Antisemitismus sei. Der werde vielmehr von Moskau geschürt, um die ukrainischen Massen vom wirklichen Verbrecher abzulenken. Neben dem Faschistengruß wurde für die OUN und den zukünftigen Staat die heute in der Ukraine wieder gebräuchliche schwarz-rote Fahne festgelegt. Sie symbolisiere Blut und Boden.
Je näher der Überfall auf die Sowjetunion rückte, desto praktischer wurden die Vorbereitungen der OUN-B. Im Mai 1941 erarbeiteten Bandera und seine engsten Mitarbeiter ein Grundsatzpapier unter dem Titel »Kampf und Aktivitäten der OUN in Kriegszeiten«. Die Organisation plante demnach, die »günstige Situation« eines »Krieges zwischen Moskau und anderen Staaten« zu nutzen, um die »nationale Revolution« herbeizuführen. Einen großen Abschnitt nahm in dem Dokument der Umgang mit Minderheiten ein. Sie wurden in zwei Gruppen eingeteilt: »a) unsere Freunde, d. h. die Mitglieder der versklavten Nationen, und b) unsere Feinde, Moskowiter, Polen und Juden«. Die letzteren seien »im Kampf zu zerstören« und: »Unsere Macht sollte für ihre Gegner schrecklich sein. Terror für feindliche Fremde und für Verräter.« Die einmarschierende deutsche Armee sei dagegen eine Armee von Verbündeten. »Unter der Führerschaft von Stepan Bandera« solle aber vorher »für Ordnung« gesorgt werden. Dazu gehöre die Erschießung von Feinden und die Registrierung aller Juden bei einer zu schaffenden Miliz.
Für diese Aufgaben wurden zusammen mit der deutschen Abwehr die Bataillone »Nachtigall« mit 350 Soldaten und »Roland« mit 330 Soldaten aufgestellt. Am 7. Juni 1941 teilte die OUN-Führung ihren etwa 20.000 Untergrundkämpfern in der Ukraine und den Einheiten im Generalgouvernement das genaue Datum des Kriegsbeginns gegen die Sowjetunion mit: 22. Juni 1941.
Kurz zuvor allerdings verbot die Gestapo einigen OUN-Führern, darunter auch Bandera, in die »neu besetzten Gebiete« zu fahren. Ihm blieb nur übrig, in der Nähe der Grenze zur Ukraine zu bleiben und von dort aus seine Truppen zu koordinieren. Mit dem »Fall Barbarossa« wurde die »Nationale Ukrainische Revolution« sofort zu einem Exzess an Massengewalt, insbesondere gegen Juden.
Hitler zum Dank
Der erste Schritt für die OUN aber war die Proklamierung eines ukrainischen Staates. Das übernahm der Stellvertreter Banderas, Jaroslaw Stezko, am 30. Juni 1941 nach dem Einmarsch in Lwów. Er bedankte sich dafür bei Hitler und wandte sich an alle faschistischen Regierungschefs Europas, um ihnen die Nachricht zukommen zu lassen. Noch während der Proklamation begann ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. Es dauerte bis zum 2. Juli. Deutsche Einsatzgruppen und Banderas Milizen zwangen die Juden der Stadt als angebliche Helfer der sowjetischen Behörden, Tausende Leichen, die das sowjetische NKWD vor seinem Abzug im Gefängnis hinterlassen hatte, zu bergen. Die ukrainische Bevölkerung jagte die Menschen durch die Straßen, der Abwehrmann und spätere Bonner Minister Theodor Oberländer sah den beiden ukrainischen Bataillonen zu: »Sie forderten die Bevölkerung auf, die Leichen außerhalb des Gefängnisses hinzulegen.« So seine Aussage vor dem westdeutschen Staatsanwalt Anfang der 1960er Jahre. Die Judenmorde erwähnte er nicht. Historiker schätzen, dass in jenen Tagen bis zu 7.000 Menschen umgebracht wurden. Überliefert ist der Satz des OUN-Führungsmitglieds Stepan Lenkawski: »Im Hinblick auf die Juden werden wir alle Methoden anwenden, die zu ihrer Vernichtung führen.« Lenkawski führte die OUN nach der Ermordung Banderas 1959 von der Bundesrepublik aus.
Am 6. Juli 1941 nahmen die Nazis Bandera in »Ehrenhaft«. Er wurde ebenso wie Stezko nach Berlin gebracht, erhielt bald Ausgang und suchte sich ein Appartement, durfte aber nicht die Stadt verlassen. 1942 oder 1943 – alle Angaben dazu sind widersprüchlich – brachte ihn die Gestapo in den sogenannten Zellenbau des Konzentrationslagers Sachsenhausen, wo er als »Ehrenhäftling« behandelt wurde. Andere OUN-Mitglieder, darunter zwei Brüder Banderas, wurden in das Arbeitslager Auschwitz I gebracht. Sie verstarben dort. Die Kontakte Banderas zur OUN rissen bis zu seiner Entlassung am 28. September 1944 nicht ab: Seine Frau wohnte in Berlin und durfte ihn besuchen, hinzu kamen andere Kanäle. Laut Rossoliński-Liebe traten Mitglieder der OUN systematisch in die ukrainische Polizei unter deutscher Führung ein.
Als im Oktober 1942 aber die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) gegründet wurde, änderte sich das Verhältnis zu den Besatzern. Man tat sich gegenseitig nicht besonders weh, so Rossoliński-Liebe, aber nach Stalingrad kam die OUN zu der Auffassung, dass Deutschland den Krieg verlieren werde und gegen die vorrückende Rote Armee wieder ein Verbündeter sei. Zunächst aber beschäftigte sich die OUN mit der Vernichtung von Polen und Juden, die den Nazis in den unzugänglichen Sümpfen und Wäldern Wolyniens entkommen waren. Rossoliński-Liebe zufolge entsprach das durchaus den Vorstellungen Banderas, die etwa in dem Papier vom Mai 1941 niedergelegt waren: rigorose Gewalt gegen Minderheiten. In jedem Fall habe die Ermordung von bis zu 100.000 Polen und Tausenden Juden durch die OUN zu dem Mythos um ihn beigetragen.
Nunmehr bereitete sich die OUN auf die Nachkriegszeit vor. Sie distanzierte sich auf ihrem dritten Kongress von der Identifikation mit dem Faschismus und den Pogromen von 1941 und erklärte Bandera zum einzigen Führer der Ukraine. Auf einem Flugblatt stellte sie ihn 1943 als großen Erdulder vor, der in Haft für die ukrainische Sache leide. Im März 1944 erhielt Bandera Besuch von einem ihrer militärischen Führer. Nach seiner Entlassung wurde er sofort bei den Nazigrößen vorstellig, es kam aber nur zu einem Gespräch mit einem SS-General. Der schlug ihm eine Kooperation mit der russischen Wlassow-Armee vor, was Bandera ablehnte: Das würden seine Anhänger nicht mittragen.
Die Richtung Westen marschierende Rote Armee veranlasste etwa 250.000 Ukrainer, ins Deutsche Reich auszuwandern, von denen die meisten nach Nordamerika und Großbritannien weiterzogen. Bandera war einer von ihnen.
Nach Stationen in Österreich, wo er sich die Karte eines Insassen des Konzentrationslagers Mauthausen besorgte, kam er im Sommer 1945 in München an, das sich zu einem der wichtigsten Zentren von OUN- und UPA-Emigranten entwickeln sollte. Er unterhielt zwar beste Verbindungen zu britischen und US-Geheimdiensten, denen er seine Kontakte zu den noch bis Anfang der 1950er Jahre in der Ukraine kämpfenden UPA-Leuten anbot, sowie später zum BND, hatte aber auch schwere Auseinandersetzungen im eigenen Lager zu bestehen. Offenbar löste er sie so wie zuvor: durch Mord. Die bayerische Polizei ging zeitweise von bis zu 100 »verschwundenen« ukrainischen Emigranten aus.
Nie antisemitisch gewesen
Mit seiner Ermordung 1959 durch einen KGB-Agenten begann die finale Phase der Bandera-Verehrung. Weltweit versammeln sich an dessen Todestag, dem 15. Oktober, seit 64 Jahren seine Anhänger oder deren Nachkommen vor allem in München, in den USA und Kanada. Bei den Gedenkfeiern wird verkündet, was Bandera selbst ab 1945 in Artikeln und Interviews verlautbaren ließ: Die OUN habe keine Beziehungen zu den Nazis gehabt und sei nie antisemitisch, nur antikommunistisch gewesen. Das überzeugte. 1979 sandte schließlich sogar ein Jüdisches Ukrainisches Komitee aus Jerusalem ein Grußtelegramm zum Gedenken.
Im selben Jahr schreckte allerdings die Serie »Holocaust« die Bandera-Gemeinde auf. Ukrainische Kämpfer kamen in ihr nicht gut weg. Verschiedene Aktivisten und Historiker machten sich daran, das zu korrigieren. Das Ergebnis war der »Holodomor«, die Erfindung eines ähnlich klingenden angeblichen russischen Völkermords an den Ukrainern durch Hunger. So etwas beeindruckte Washington. 1983 empfing Ronald Reagan die OUN-Leute im Weißen Haus.
Seither wurden weitere Retuschen vorgenommen. Aus Stezkos Staatsproklamation verschwand der Dank an Adolf Hitler. Auch Fälschungen anderer OUN-Dokumente waren laut Rossoliński-Liebe »gut organisiert«.
Nun kann in der Ukraine die Ernte eingefahren werden. Bereits vor Auflösung der Sowjetunion fanden in Banderas Geburtsort 1989 und 1990 Ehrungen in Anwesenheit von jeweils 10.000 Menschen statt. Dort wurde auch das erste Bandera-Denkmal aufgestellt. Laut Neuer Zürcher Zeitung sind es mittlerweile 40, darunter das sieben Meter hohe in Lwiw, nebst einem 30 Metern hohen Ehrenbogen.
Aus: junge welt, Ausgabe vom 28.10.2023, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
FASCHISMUS UND NEOFASCHISMUS
»Er redete sieben Stunden lang mit mir über seinen Judenhass ...«
Über »faschistische Gespenster« im Kalten Krieg der USA, investigativen Journalismus und die Friedensbewegung damals und heute. Ein Gespräch mit Russ Bellant
Interview: Susann Witt-Stahl
Sie haben seinerzeit in Ihrem Buch »Old Nazis, the New Right, and the Republican Party« die Kranzniederlegung durch den US-Präsidenten an SS-Gräbern am 5. Mai 1985 auf dem Bitburger Soldatenfriedhof sowie seine skandalösen Äußerungen analysiert. »Ronald Reagan hat die Nazi-Waffen-SS als ›Opfer‹ bezeichnet. Das scheint eher eine Umschreibung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu sein als ein Bekenntnis zu den schmerzlichen Lektionen«, heißt es in der Einleitung. War dieses symbolträchtige Ereignis der Auftakt zur Rehabilitierung der Täter und vergangenheitspolitischen Zeitenwende?
Ich glaube, die Rehabilitierung der Naziverbrecher hat unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, als beschlossen wurde, die Haupttäter aus Osteuropa nicht strafrechtlich zu verfolgen. Statt dessen haben westliche operative Geheimdienste sie für offene und verdeckte Programme weltweit rekrutiert. Dann hat man viele dieser Massenmörder nach Nordamerika umgesiedelt und sie sowie die SS-Strukturen, die aufrechterhalten worden waren, politisch integriert. Präsident Richard Nixon rehabilitierte sie schließlich weiter, indem er sie 1969 zum ethnischen Arm der regierenden Republikanischen Partei machte. Reagans Aktion in Bitburg war also nur ein weiterer Schritt in der langen Geschichte zur Akzeptanz von Mörderbanden in einem System, das nach dem Krieg auf der Weltbühne aufgestiegen war und ohne Reue massive Tötungsaktionen startete. Und nun haben wir einigen der schlimmsten aus dem Zweiten Weltkrieg übriggebliebenen Elementen in der Ukraine zur Macht verholfen.
In den 1980er Jahren haben Sie für Ihre Recherchen einige Naziverbrecher aus Osteuropa getroffen. Welches war Ihre denkwürdigste Begegnung?
Das war ein Interview im Jahr 1984 mit Nikolai Nazarenko, der während des Zweiten Weltkriegs Offizier einer Kosakeneinheit unter dem Kommando des SS-Obergruppenführers Helmuth von Pannwitz gewesen war. Er dokumentierte seine Geschichte mit Fotos von sich und seiner Truppe, seinem deutschen Offiziersausweis und seinen Rentenpapieren, aus denen hervorging, dass er Altersbezüge von der deutschen Bundesregierung für seinen Kriegsdienst erhielt. Er brachte einen ganzen Koffer voller solcher Unterlagen mit. Das tat er, um zu beweisen, dass er ein würdiger Führer der Kosakeneinheit des nationalen Organisationsgremiums der Republikaner war. Er redete sieben Stunden lang mit mir über seinen Judenhass, seine Affinität zu US-Nazigruppen und -publikationen sowie über seine Teilnahme an antikommunistischen Kundgebungen, bei denen er immer die traditionelle Kosakentracht trug.
Sie sind auch ukrainischen Faschisten vom Bandera-Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten, OUN-B, begegnet. Sie zitieren einen von ihnen anonym mit den Worten: »Wir sind eine Untergrundorganisation. Wir haben Jahre damit verbracht, im stillen in einflussreiche Positionen vorzudringen.« Wie haben Sie Verbindungen zu den klandestinen OUN-Strukturen hergestellt? Und konnten Sie offen mit diesen Leuten sprechen?
Ich war Mitte der 80er Jahre über die Konferenzen der World Anti-Communist League, WACL, in Kontakt zu ukrainischen Faschisten gekommen, die an geheimen US-Operationen beteiligt waren. Damals war der gesamte OUN-B-Apparat Teil davon. Die WACL-Konferenzen wurden von der CIA organisiert. In jenen Jahren konzentrierten sie sich auf die Reagan-Agenda des Kriegs gegen die Sandinisten in Nicaragua, die revolutionäre MPLA in Angola und auf die Unterstützung der Renamo in Mosambik in Kooperation mit dem südafrikanischen Apartheidregime. Die OUN-B war die ukrainische Sektion der WACL. Daher gingen die Gespräche mit ihnen auf den Konferenzen natürlich über Newsletterveröffentlichungen und Festtagssymbolik hinaus. Sie wollten als ebenso relevant wahrgenommen werden, wie es die anderen WACL-Partner waren. Nach dem Versprechen, den Namen des Informanten, der nicht allein war, geheimzuhalten, erhielt ich Informationen, aber nicht viele spezifische Details.
Sie sind auch mit einigen prominenten Vertretern der OUN zusammengekommen, darunter auch Nazikollaborateure. Wie verliefen diese Begegnungen?
Ich habe Slawa Stezko 1985 auf der WACL-Konferenz getroffen, sechs Jahre bevor sie Präsidentin der OUN-B wurde. Sie vertrat ihren Mann Jaroslaw, der Stellvertreter von Stepan Bandera war und 1941 die OUN-Truppen an der Seite der deutschen Invasionsarmee beim Einmarsch in Lwów (heute Lwiw, jW) angeführt hatte. Wir unterhielten uns nur kurz. Sie sagte mir, es müsste mehr »Zentren für psychologische und politische Kriegführung« geben. Ich traf auch Bogdan Fedorak, den Leiter der Abteilung für auswärtige Beziehungen der OUN-B. Es stellte sich heraus, dass er ganz in meiner Nähe wohnte. Er hatte Verbindungen zu zwei CIA-Professoren der Wayne State University in Detroit, die ich besucht hatte. Der eine hatte zehn Jahre lang für Radio Free Europe gearbeitet. Sie gehörten zu Fedoraks US-Geheimdienstkontakten. Er wollte mir allerdings nicht allzuviel erzählen, solange ich nicht mehr Loyalität gegenüber der OUN zeigen würde. Er sagte aber, er stehe auf der Gehaltsliste einer US-amerikanischen Rüstungsfirma.
Die OUN-B stand auch an der Spitze des Anti-Bolshevik Bloc of Nations, ABN, der den osteuropäischen Zweig der WACL bildete und Nachfolger des bereits 1943 auf Initiative des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, in Schitomir gegründeten Committee of Subjugated Nations war. »Dass viele von uns auf deutscher Seite gegen den russischen Imperialismus und Bolschewismus kämpften, lag in unserem nationalen Interesse«, heißt es in einer Broschüre des ABN. Während der Reagan-Ära wurden etliche Positionen im American Security Council, der den militärisch-industriellen Komplex der USA repräsentiert, von OUN-B-Leuten besetzt. Sie sagen in Ihrem Buch, dass die OUN-B im Bündnis mit den USA keine anderen Ziele verfolgte als vor 1945 – mit dem Unterschied, dass ihre führenden Ideologen die Faschisten in »Antikommunisten« und die Nazis in »aktive Antikommunisten« umbenannten, wie Slawa Stezko empfohlen hatte. Wie viele Elemente des Nazismus fanden sich in der Weltanschauung von Ronald Reagan, der unter anderem in seinem Grußwort an die WACL von 1984 einen Kreuzzug gegen die »Pest der marxistisch-leninistischen Diktatur« propagierte?
Das älteste Bandera-Denkmal der Welt wurde 1962 errichtet und findet sich in Ellenville im Bundesstaat New York
Für die verschiedenen Spielarten des Nazismus, die unter Präsident Reagan aufblühten, liefert der Aufstieg von Roger Pearson ein aufschlussreiches Beispiel. Pearson war ein rassistischer Eugeniker aus Großbritannien, der die Position vertrat, dass »rassisch überlegene« Gruppen die Pflicht hätten, »rassisch minderwertige« Gruppen auszurotten. Bei seinen frühen Arbeiten stützte er sich auf die Schriften des Freiburger Philologen Hans Günther, den »Rassepapst« Nazideutschlands. Pearson war Gründer der »Northern League«, einer Vereinigung europäischer Rassisten mit Sitz im Vereinigten Königreich und in Nordeuropa. Die Organisation hielt rituelle Versammlungen im Teutoburger Wald ab und warb für eine Vormachtstellung der »nordischen Rasse«. Pearson wurde 1965 von der protonazistischen Liberty Lobby in die USA gebracht. Er repräsentierte die USA in der WACL, übernahm 1975 die Führung und ersetzte die europäischen Mitglieder durch ehemalige Vertreter des »Dritten Reichs« und der anderen Achsenmächte. Während Pearson den Nazismus und anderen Faschismus auf der Weltbühne propagierte, arbeitete er auch mit den damals aufkommenden Kräften der neuen Rechten in den USA zusammen. Im Jahr 1978 entlarvte die Washington Post Pearson und die WACL als »faschistisches Gespenst«. US-amerikanische Rechte wussten also, wen sie umarmten, als Pearson sich mit ihnen vernetzte. Diese Kräfte verhalfen Ronald Reagan zum Einzug ins Weiße Haus, und Pearson, reueloser Befürworter der Ausrottungspolitik, wurde von Reagan mit einem Spendenaufruf bedacht, in die Vorstände von Organisationen der neuen Rechten aufgenommen und mit hohen Beamten der neuen Regierung in Kontakt gebracht. Selbst als das Wall Street Journal über Reagans Initiative für Pearson berichtete und unangenehme Details aus dessen Biographie aufdeckte, weigerten sich das Weiße Haus und seine Verbündeten, ihre Verbindungen zu ihm zu kappen. Reagans Leute nutzten ihre Macht, um landesweit Stützpunkte für die Rechten aufzubauen und sie in den USA zu institutionalisieren. Damit schufen sie auch schon früh die Grundlagen für Donald Trumps Wahlsieg viele Jahre später. Trump lobte Mitglieder des Ku-Klux-Klans. Nachdem er 2016 Präsident geworden war, erzählte er hochrangigen Militärs, dass Hitler »auch viele gute Sachen gemacht« habe.
Die OUN-B und andere osteuropäische Hitler-Kollaborateure haben offenbar nicht nur Weltanschauungen exportiert. Sie sagen, dass der ABN auch der hohe Rat für die ausländischen nationalistischen Gruppen gewesen sei, die die Polizei-, Militär- und Milizeinheiten gebildet hatten, die ab 1941 für die deutschen Besatzer Massenmorde in der Sowjetunion begingen und ganze Dörfer auslöschten. »Diese mobilen Killereinheiten waren die Vorläufer der modernen Todesschwadronen«, heißt es in einer Passage Ihres Buchs. Welchen Einfluss hatte die berüchtigte Brutalität der OUN und ähnlicher Organisationen auf die Methoden der Kriegführung, die später von prowestlichen Faschisten in Südamerika, Afrika und Asien angewandt wurde?
Die Rolle der OUN, von Nazikriegsverbrechern und den Kollaborateuren aus anderen Achsenländern als Unterstützer der jahrzehntelangen Unterdrückung der Befreiungskämpfe in Lateinamerika, Südafrika und Rhodesien ist leider nicht gut erforscht. Die Geschichte von Klaus Barbie, der in Bolivien und Mittelamerika an Strafoperationen beteiligt war und Verbindungen zu faschistischen Terrornetzwerken in Europa wie »Avanguardia Nazionale« von Stephano della Chiaie unterhielt, ist bekannt. Und es gibt allgemeine Hinweise darauf, dass ehemalige Mörder der Achsenmächte in Argentinien und Paraguay sowie in anderen lateinamerikanischen Ländern weiter ihre Praktiken anwendeten. In Chile schien das Pinochet-Regime eine Vorliebe für die rumänische »Eiserne Garde« zu haben. Pinochet lud Repräsentanten der Bewegung aus der ganzen Welt nach Santiago ein und würdigte sie. Alexander Ronnett, ein Anführer der »Eisernen Garde« in den USA, zeigte mir eine Reihe von Fotos, auf denen sie mit Pinochet posierten. Ein Autor der Bewegung deutete an, dass die »Eiserne Garde« eine tragende Rolle beim Pinochet-Putsch der USA gegen Allende gespielt hatte. Er schrieb, dass »der antikommunistische Sieg dort posthume Siege für Corneliu Codreanu eingeleitet hat«, der Führer der 1930 von ihm gegründeten »Eisernen Garde« war.
Ihre Enthüllungen über die Verbindungen der Republikaner zu Nazis und anderen Faschisten erfuhren die Aufmerksamkeit der US-Presse – sogar der New York Times.
Im Boston Globe gab es Artikel zu meinem Buch, ebenso im Philadelphia Inquirer. Dessen Reporter kannte die ukrainische Geschichte: Seine Mutter gehörte zu einer Gruppe von Juden, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten, weil sie sich in Lwów 16 Monate lang in einem Abwasserkanal verstecken konnten. Die New York Times berichtete zwar nicht über meine Arbeit, erlaubte mir aber, einen Meinungsbetrag zu schreiben. Der Text lag der Redaktion schon einen Monat vor der Präsidentschaftswahl 1988 vor, sie wartete aber, bis alles gelaufen war, um sie am Wochentag mit der niedrigsten Auflage zu drucken. Das war offenbar der Kompromiss zwischen den Redakteuren, die ihn veröffentlichen wollten, und denen, die das nicht wollten. Die genannten drei Zeitungen waren die einzigen der kommerziellen Presse in den USA, die berichtet haben.
Waren Sie auch mit Anfeindungen konfrontiert?
Es gab keine Androhungen von Gerichtsverfahren. Die Kläger hätten kein Bein auf den Boden bekommen. Wir hatten ein Team, das das Manuskript Wort für Wort durchgegangen ist, um sicherzustellen, dass wir jede enthaltene Behauptung beweisen konnten. Außerdem hätte jede Klage die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Personen lenken können, um die es in meinem Buch geht. Sie haben sich lieber darauf verlassen, dass die Presse schweigt und sie nicht auffliegen lässt.
Wäre es heute in einer Zeit, in der die etablierten Medien weitgehend gleichgeschaltet sind, noch möglich, mit Recherchen, wie Sie sie damals angestellt haben, die Öffentlichkeit zu erreichen?
Das bezweifle ich. Auch investigativer Journalismus, wie es ihn in den 1970er Jahren über geheime Vorgänge im Vietnamkrieg und illegale CIA-Aktivitäten gab, findet nicht mehr statt. So ignorierte die Presse die Rolle der USA beim Maidan-Putsch und die Bombardierung ostukrainischer Städte durch das neue Kiewer Regime. Heute sind die sozialen Medien so ziemlich die einzige Möglichkeit, kritische Berichte über die Machenschaften derjenigen zu verbreiten, die in den USA die Macht haben.
Im Schlusswort Ihres Buchs sprachen Sie über die »schmerzliche Ironie«, dass die Nazikollaborateure, die im Zweiten Weltkrieg durch das Vorrücken der Alliierten in Europa zur Flucht gezwungen worden waren, nun die Politik der führenden westlichen Siegermacht »auf höchster Ebene beeinflussen«. Wie schätzen Sie die Bedeutung der ukrainischen Faschisten und ihrer Pressure Groups heute ein – wirken sie auch ins Militär und den Sicherheitsapparat hinein?
Die Banderisten sind eindeutig in den Militär- und Geheimdienstkomplex der USA eingebettet – so wie sie es seit nunmehr 75 Jahren sind. Die USA haben sie zu den Aktionen auf dem Maidan ermächtigt, bewaffnet und trainiert. Ich glaube aber nicht, dass rechte Gruppierungen heute in der US-amerikanischen Politik sonderlich bedeutend sind. Sie werden nicht gebraucht. Das Weiße Haus und der Kongress treiben den Krieg in der Ukraine voran und dominieren die Medienberichterstattung darüber. Aber die Banderisten dienen als nützliche Werkzeuge, um die ukrainische Gemeinschaft durch von ihnen kontrollierte Frontorganisationen zu mobilisieren und die Zustimmung der Wähler für diesen Krieg zu bekommen.
Sie trauen US-Regierungen offenbar so gut wie alles zu. Es gibt Kritiker, die sagen, dass die Bürger der Vereinigten Staaten bei der Präsidentschaftswahl 2024 eigentlich nur entscheiden dürfen, ob die nächste Regierung den dritten Weltkrieg mit Russland oder mit China beginnen wird. Teilen Sie diese dystopische Prognose?
Ich denke, dass die USA unter Biden einen hochgradigen Konfrontationskurs gegen Russland und China fahren werden. Trump wird vermutlich bald im Gefängnis sitzen. Die Republikaner werden dann Ron DeSantis nominieren – einen weiteren Irren, nur ohne Kultgefolgschaft, wie sie Trump genießt. Aber egal, ob Biden oder DeSantis gewählt werden: Der nächste US-Präsident wird die Außenpolitik wahrscheinlich noch stärker militarisieren und die Marinepräsenz im Schwarzen Meer, in der Nähe der chinesischen Küsten und im Südpazifik ausweiten.
Sie sind seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung aktiv, die in den USA während des Vietnamkriegs sehr stark war. Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen damals und heute, was ihre Lage und die Herausforderungen anbelangt?
Bei der Invasion der USA in Vietnam kam es zu einem massiven Truppeneinsatz. Außerdem wurden US-amerikanische Männer durch die Wehrpflicht zum Kriegsdienst gezwungen. Die anfängliche Unterstützung schwand, als der Krieg sich in die Länge zog und es zu erheblichen Verlusten kam. Die vietnamesischen Opfer waren für die Bevölkerung kein wirklicher Faktor – außer für die Gegner des imperialistischen Kriegs und des Systems, das ihn hervorgebracht hat. Heute hingegen setzen die USA Stellvertreterarmeen ein, wie wir es in der Ukraine und Syrien beobachten können, und es kommen keine Landsleute ums Leben. So gibt es keine Grundlage für eine breite Antikriegsbewegung. Die kleinen Gruppen, die aktiv sind, werden von den US-Medien ignoriert. Und es ist gelungen, die große Antipathie gegenüber der UdSSR, die durch jahrzehntelange Indoktrination im Kalten Krieg aufgebaut wurde, auf Russland zu übertragen. So war es leicht, die US-Öffentlichkeit zur Unterstützung der Eskalation des Ukraine-Kriegs durch Washington zu bewegen. Jeder Krieg hat eben sein eigenes Narrativ.
Welche ist die dringlichste Einsicht, die Sie am Sonntag mit Ihren Beiträgen zur Konferenz »Der Bandera-Komplex« vermitteln helfen wollen?
Seit dem Zusammenbruch der UdSSR hat die NATO ihre Größe verdoppelt, und Washington kann über einen gewaltigen Militärapparat verfügen, den es auch für seine regionalen Ziele einsetzen kann. Die langjährige CIA-Finanzierung von Parteien in Westeuropa hat eine politische Kultur der Unterordnung unter die Autorität der USA hervorgebracht. Ich hoffe, dass eine tiefergehende Beschäftigung mit dem realen US-amerikanischen Machtsystem Menschen in Europa in die Lage versetzen wird, sich davon abzugrenzen.
Beide Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion junge welt