06.10.2023

„Die USA waren sich im Klaren darüber, dass die Offensive keinen Erfolg haben würde“

 

Trauerzeremonie am 4.10. für Kompaniechef Oleksandr Pastukh (Dobry), der am 29. September in der Nähe von Kreminnaja in der Region Luhansk starb. Pastukh war ab 2014 Kämpfer im Bataillon Asow und ab Beginn des Kriegs im Ukrainischen Freiwilligenkorps „Rechter Sektor“. Bild: Censor.net

 

Baud über den Zynismus und die Falscheinschätzungen des Westens, das russische Verteidigungskonzept und den Grund für das Scheitern des Westens in Afrika.

Das Gespräch mit Jacques Baud führte Thomas Kaiser für die neueste Ausgabe von Zeitgeschehen im Fokus.

Thomas Kaiser/Zeitgeschehen im Fokus: Ihr Buch «Putin – Herr des Geschehens?» ist vor etwa zwei Monaten auf Deutsch erschienen. Was hat es für Reaktionen ausgelöst?

Jacques Baud: In den Mainstream-Medien wurde es kaum erwähnt, aber ich weiß, dass sehr viele Journalisten aus den großen Medienhäusern es gelesen haben. Es beruht auf Fakten, die mit Quellen belegt werden. Es enthält andere Aspekte und Einschätzungen als die, die tagtäglich von den Mainstream-Medien verbreitet werden. Aufgrund der vielen Quellen, die die Beurteilung der Vorgänge belegen, ist es sehr schwierig, Kritik daran zu üben. Das ist sicherlich auch der Grund, warum ich keine negativen Kritiken erhalten habe, obwohl ich glaube, dass dieses Buch viele Menschen verstört.

In den Rückmeldungen einiger Journalisten habe ich festgestellt, dass sie über den Konflikt sehr schlecht informiert sind. Viele fragten mich nach Informationen, die von den Ukrainern selbst gegeben worden waren! Sehr viele haben auf das Buch gewartet. Viele merken jetzt, dass alles, was über die Ukraine, die Russen und den Krieg berichtet wurde, nicht stimmt.

Die Schwierigkeiten in der Ukraine sind massiv. Nicht nur auf der militärischen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene: mit Anpassung der Gesetze, die Verstärkung der Strafen gegen Deserteure, Verbot der Ausreise und so weiter. Das sind alles Indikatoren dafür, dass die ukrainische Verteidigung nicht so funktioniert, wie sie bei uns dargestellt worden ist. Diese Diskrepanz zwischen dem, was man heute sieht und hört, und dem, was man uns vor anderthalb Jahren erzählt hat, ist das Haupthindernis für die Lösung des Konflikts. Ganz konkret bedeutet das, unsere Medien sind die Architekten der Niederlage der Ukraine und die Ursache, dass keine Verhandlungslösung gefunden wird. 

Thomas Kaiser: Sie haben Schwierigkeiten der Ukraine auf militärischer und gesellschaftlicher Ebene erwähnt. Wie hat sich die militärische Lage seit der Sommeroffensive entwickelt? Haben wir immer noch den Status quo: Die Ukrainer greifen an, und die Russen lassen sie dabei ins Messer laufen?

Jacques Baud: Das ist genau so. Seit dem Oktober letzten Jahres haben die Russen, und das wurde von General Sorowikin deutlich kommuniziert, eine neue Strategie gefahren: Wir werden keine großen Operationen mehr durchführen. Wir werden auf den Feind warten und ihn systematisch vernichten. Dadurch entstand der Ausdruck, der für Bachmut benutzt worden ist: «Der Fleischwolf».

Die Russen planten diese Strategie genau, bereiteten sie vor und führten sie durch. Sie erstellen seit fast einem Jahr ein Verteidigungsdispositiv entlang der Frontlinie, das in der Tiefe gestaffelt ist. Die erste Zone ist eine Überwachungszone, als nächstes folgt eine zwei- bis dreistufige Verteidigungslinie, die sogenannte Surowikin-Linie. Die erste Zone bildet ein Landstreifen mit einer Breite von ungefähr 5 bis 10 Kilometern. In dieser Überwachungszone gibt es kein Verteidigungsdispositiv, aber Minenfelder. Auch operieren dort leichte dynamische Verbände, sogenannte Panzerjäger, die ausgebildet und ausgerüstet sind, Panzer zu jagen und diese zu bekämpfen. Unterstützt werden sie dabei durch Drohnen. In einigen Gebieten scheinen die Russen sogar Roboter getestet zu haben. Es gibt keine befestigten Verteidigungsanlagen wie Panzersperren, Schützengräben und so weiter.

Diese Zone hat nicht das Ziel, den Feind zu stoppen, sondern ihn zu filtrieren und zu kanalisieren. Es geht darum, zu verhindern, dass sich die ukrainische Armee entfalten und einen Hauptstoß bilden kann und so weiter. Die dort vorhandenen Minenfelder können relativ einfach überquert werden, wenn man die richtigen Mittel dafür einsetzt. Hat der Feind eine Bresche in das Minenfeld geschlagen, wird der feindliche Panzer kanalisiert. Er wird dann genau dort durchkommen, wo man ihn erwartet und wo er unschädlich gemacht werden kann.

Ein ähnliches Verteidigungskonzept gab es auch in der Schweizer Armee. Man hatte Minenfelder rund um die Schweiz und dahinter auch eine dynamische Verteidigung mit Panzern und Ähnlichem. Auch hier ging es darum, den Feind zu kanalisieren. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Russen ihre Aufklärungs- und Feuermittel in ein einziges Führungssystem integriert haben, das es ihnen ermöglicht, in Echtzeit zu reagieren.

Obwohl laut ukrainischen Quellen die Offensive offiziell bereits im Mai begonnen hat, gehen wir von einem Beginn am 4. Juni aus, was bereits mehr als drei Monate her ist. In dieser Zeit erreichten die Ukrainer nicht einmal die Surowikin-Linie der Russen. Der Durchbruch, der erwartet worden war, erfolgte nicht. Was übrig bleibt, sind Kapazitäten, die nicht mehr ausreichen, um einen weiteren Vorstoß durchzuführen. Man kann sagen, militärisch ist die Gegenoffensive ein Misserfolg.

Thomas Kaiser: Dann gehört der in unseren Medien aufgeblasene «Durchbruch von Rabotino» ins gleiche Kapitel?

Jacques Baud: Ja, so ist es. Die Ukrainer sind zwar in die Nähe der ersten Verteidigungslinie gekommen, waren im Raum Rabotino, aber ein Durchbruch ist nicht gelungen. Tarnavskij, General der ukrainischen Streitkräfte, berichtete, es hätte einen Durchbruch gegeben. Er betrachtete die Sicherheitszone als Verteidigungslinie. Man spielt hier mit Begriffen.

Aber Fakten sind Fakten: Es gibt keinen Durchbruch. Man weiß, die USA waren sich im Klaren, dass die Offensive keinen Erfolg haben würde. Die Situation wurde mit einem Kriegsspiel durchgespielt. Es hat gezeigt, dass das keinen Erfolg bringen wird. Die USA haben die Ukraine in die Offensive gegen die Russen einsteigen lassen, wohlwissend, dass sie verlieren wird. Das zeigt den Zynismus der westlichen Länder gegenüber der Ukraine.

 

„Das Ziel der westlichen Länder war nicht der Sieg der Ukraine, sondern die Niederlage Russlands“

Thomas Kaiser: Muss man sich das Kriegsspiel wie ein Computerspiel vorstellen mit Simulation und Algorithmen, um zu einer möglichst realistischen Darstellung und Einschätzung zu kommen?

Jacques Baud: Es ist genau das. Es ist eine modellhafte Simulation eines Kampfes. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg bis in die 60er, 70er Jahre hatte man das im Sandkasten gemacht, bis die Computerisierung weit genug fortgeschritten war, um das am Bildschirm zu simulieren. So konnte man die Möglichkeiten des Feindes und die eigenen ausloten. Man versucht, die möglichst beste Entscheidung zu treffen. Die Schweiz arbeitet ebenfalls mit Simulationen.

Thomas Kaiser: Warum ließen die USA die Ukraine mit der Frühjahrsoffensive in dieses Desaster laufen, obwohl sie doch genau wussten, dass es nicht gelingen wird, die Russen zurückzudrängen?

Jacques Baud: Das Ziel der westlichen Länder war nicht der Sieg der Ukraine, sondern die Niederlage Russlands. Das scheint zunächst das Gleiche zu sein, aber es gibt einen Unterschied. Der Ukraine geht es darum, das Territorium zurückzuerobern. Das ist verständlich. Ihr Ziel ist die Wiederherstellung der territorialen Integrität und der Souveränität über die eroberten Gebiete. Im Westen ist die Zielsetzung etwas anders.

Schon am Anfang – das weiß man aus Aussagen von Arestowitsch sowie der Rand-Cooperation im Frühling 2019 – war es das Ziel der USA, einen Sturz der Regierung in Russland zu erreichen. Man wusste und weiß, dass die Ukraine nicht die Stärke und auch nicht die Fähigkeit hat, die Russen militärisch zu besiegen. Aber man war überzeugt, dass ein längerer Krieg die russische Bevölkerung beeinflusst. Man erwartete in diesem Krieg eine Ermüdung der Russen. Am Schluss sollte der verlängerte Krieg eine politische Krise auslösen, die zum Sturz der jetzigen Regierung führen sollte. Das Grundelement für diese Idee ist die Überzeugung des Westens, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung Putin hasst und jede Möglichkeit sucht, um gegen die Regierung vorgehen zu können. Das ist die Logik.

Thomas Kaiser: Ich möchte nochmals auf Rabotino zurückkommen. Wurden die Ukrainer wieder aus der Sicherheitszone herausgedrängt?

Jacques Baud: Das Problem ist, dass Rabotino an der Frontlinie liegt. Es ist sozusagen das, was man im Ersten Weltkrieg als «Niemandsland» bezeichnete. Das Dorf liegt in der Kampfzone, aber die Ukraine hat es nicht unter Kontrolle. Doch was heute gilt, ist morgen vielleicht nicht mehr wahr, da die Ukrainer vorrücken und sich wieder zurückziehen. Die Russen lassen die Ukrainer vorrücken, zerstören sie mit Artillerie und gewinnen dann wieder an Boden; das gleiche Szenario wiederholt sich unaufhörlich. Im Fall von Rabotino setzten die Ukrainer etwa 10 Brigaden in diesem Gebiet ein und erlitten enorme Verluste. Rabotino ist ein Dorf und hatte vor dem Krieg etwa 480 Einwohner. Die Menschen wurden natürlich evakuiert. Das ist im Grunde genommen ein unbedeutendes Dorf. Die 12 Brigaden, die für diese Gegenoffensive vorbereitet, ausgerüstet und ausgebildet wurden – 9 Brigaden im Westen, zum Beispiel in Deutschland und so weiter, und drei Brigaden in der Ukraine – waren an dem Vorstoß beteiligt.

Vor einigen Tagen führten die Russen eine Rotation der im Sektor Rabotino eingesetzten Truppen durch. Offenbar wechselten sie nur 500 Mann aus. Die Zahl ist nicht bestätigt, aber sie könnte darauf hindeuten, dass den zehn Brigaden etwa 500 Männer gegenüberstanden. Wenn dies zutrifft, bedeutet dies, dass diese 500 Männer 30.000 bis 40.000 ukrainische Soldaten zurückgehalten hätten. Dies ist nicht unmöglich, wenn man das Gelände einbezieht. Vor allem aber könnte die bemerkenswerte Integration des Kampfs der verbundenen Waffen durch die  russische Führung diesen Erfolg erklären.

Thomas Kaiser: War diese Taktik nicht auch an anderen Orten für die Russen erfolgreich?

Jacques Baud: Ja, die Taktik der Russen wurde in Charkow im September 2022 und in Cherson im Oktober 2022 angewendet. Damals hatten unsere Medien das so interpretiert, dass die Ukraine eine viel bessere operationelle Führung habe und den Russen überlegen sei. Das ist eine falsche Beurteilung. Ich hatte das immer wieder erklärt: In Charkow und Cherson zogen sich die Russen zurück, weil sie die Gebiete nicht verteidigen, die Frontlinie verkürzen und in ihrem Dispositiv eine höhere Dichte in der Verteidigungslinie wollten. Sie verließen diese Gebiete, erst dann «griffen» die Ukrainer an.

Die USA entdeckten damals, dass die Russen diese Gebiete verlassen hatten und informierten die Ukrainer. Zu dem Zeitpunkt hatten die Ukrainer eine Offensive im Gebiet um Cherson. Die USA teilten ihnen dann mit, dass sie jetzt nach Charkow wechseln sollten. Die Ukraine warf ihre Pläne über den Haufen und verlegte Truppen nach Charkow. Dort kamen sie in ein leeres Gebiet. Sobald die Ukrainer weiter in Gebiete vorstießen, wurden sie vom Artilleriefeuer der Russen empfangen und hatten große Verluste, obwohl es zu keiner Schlacht kam. In unseren Medien konnte man dann über den Erfolg der Ukrainer lesen. Tatsächlich wurden sie in eine Falle gelockt und von massiver russischer Artillerie empfangen.

Das ist auch der Grund, warum Selenskij einen Monat später sehr vorsichtig war, Charkow anzugreifen. Er hat gesagt, sie würden erneut in eine Falle gelockt. Er hatte Recht! Bei der ukrainischen Gegenoffensive wandten die Russen die gleiche Taktik an.

Der Westen erwartete aber, sobald die Gegenoffensive beginne, würden die Russen sofort in Panik geraten und fliehen. Die Folge wäre eine politische Krise in Russland, indem die Bevölkerung gegen die Regierung auf die Straße ginge. Diese Krise würde den Sturz Putins bewirken. Das war eine verrückte Idee …

Thomas Kaiser: Bei jeder militärischen Operation steckt immer die gleiche Idee dahinter, die russische Bevölkerung zu einem Aufstand zu bringen oder den Sturz Putins zu erreichen. Ist das nicht fern jeglicher Realität?

Jacques Baud: Ja, das ist eine falsche Einschätzung des Westens über die Stimmung in Russland. Man ignoriert die Realität seit dem Beginn der «Sonderoperation». Im Januar 2022 lag die Popularitätsquote Putins bei etwa 69 Prozent. Nach dem Beginn der Sonderoperation in der Ukraine stieg diese Quote auf 80 Prozent. Seit diesem Zeitpunkt erreichte sie über 80 Prozent. Sie schwankte zwischen 80 und 83 Prozent. Es gab eine Ausnahme im Oktober 2022. Nach dem Verlassen von Charkow sank die Quote auf 77 Prozent. Danach kletterte sie wieder auf die erwähnten 83 Prozent.

Was können wir daraus schließen? Die politische Unterstützung für Putin ist extrem stark. Die Befürwortung der Militäroperation ist bei der Bevölkerung sehr hoch und liegt seit Februar 2022 im Durchschnitt bei 75 Prozent. Im Klartext heißt das, 20 Prozent sind dagegen, 5 Prozent wissen es nicht, was sie dazu denken sollen, und 75 Prozent stehen hinter Putin. Also die Idee, dass man durch diese Strategie eine politische Krise auslösen und den Regierungswechsel erreichen könnte, ist illusorisch.

Darum haben die ganzen Geschehnisse um Prigoschin im Westen einen so großen Widerhall gefunden. In den westlichen Ländern behaupteten die Pseudoexperten und Journalisten unserer Medien, der Plan werde jetzt aufgehen. Die Gegenoffensive im Süden werde einen destabilisierenden Effekt haben und dieser werde Wirkung zeigen. Das war aber eine falsche Interpretation dessen, was Prigoschin gemacht hatte. Das ist genau der Mechanismus einer Verschwörungstheorie. Man nimmt Elemente, die einem passen, und erstellt damit eine Geschichte. Genauso sind die Medien seit Februar 2022 vorgegangen. Das ist der Grund, warum heute niemand begreift, dass durch diese Fehlinformationen die Ukraine den Preis bezahlt. Aufgrund dieser Falschinformationen und Fehlbeurteilung haben wir das Desaster in der Ukraine.

 

„Die ukrainische Bevölkerung hat kaum Vertrauen in die Regierung“

 Thomas Kaiser: Wie realistisch ist die Behauptung, Selenskij habe 400 Millionen an US-amerikanischen Geldern für sich und seine engsten Mitarbeiter abgezweigt?

Jacques Baud: Darüber kann ich nichts sagen. Das ist eine Aussage des berühmten US-Journalisten Seymour Hersh, der ein hohes Ansehen in den USA genießt. Aber grundsätzlich ist Korruption ein eindeutiges Problem in der Ukraine, das nun mehr und mehr an die Oberfläche gelangt. Im Grunde genommen weiß man das schon lange. Als ich mit der Nato in der Ukraine war, gab es ein Programm, um diese Korruption zu bekämpfen. Sie hat sich trotz allem nicht gebessert. Es gibt eine Studie des «Kiew Institut of Sociology». Sie haben dazu eine Umfrage gemacht. 89 Prozent der Bevölkerung sehen in der Korruption das größte Problem in der Ukraine. 81 Prozent denken, die politische Korruption sei am meisten verbreitet. 95 Prozent sind der Auffassung, dass Korruption in der ganzen Ukraine verbreitet sei. Interessant ist, dass 78,5 Prozent der ukrainischen Bevölkerung der Meinung sind, dass Selenskij für diese Korruption verantwortlich sei. Die ukrainische Bevölkerung hat kaum Vertrauen in die Regierung.

Unsere Medien wie «NZZ», «Blick» und so weiter, die sagen, die Ukraine sei ein demokratischer Staat, lügen, denn nicht einmal die ukrainische Bevölkerung hat diese Sichtweise. Der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow wurde unter dem Vorwand der Korruption entlassen. Man weiß seit Monaten, dass er korrupt ist. Der Hauptgrund, warum er entlassen wurde, ist der Misserfolg der Gegenoffensive im Süden der Ukraine. Allen wurde jetzt klar, dass die Ukraine einen Misserfolg erlitten hatte. Es wäre undenkbar gewesen, dass Selenskij nicht darauf reagiert hätte. Er wollte seine Generäle, vor allem General Saluschni, den Kommandanten der ukrainischen Streitkräfte, und General Zirsky, Chef des Heeres, nicht entlassen. Das sind Generäle, die das Vertrauen von Selenskij genießen. Er will diese nicht entlassen. Der Verteidigungsminister hat jetzt einen Posten als Botschafter in London. Hierbei handelt es sich um ein Signal an den Westen, dass Selenskij etwas gegen die Korruption tut. Es ist aber eine Reaktion auf den Misserfolg.

Thomas Kaiser: Laut einer Umfrage will die Bevölkerung, dass man den Krieg weiterführt.

Jacques Baud: Ja, das ist logisch. Ob die Bevölkerung immer noch Vertrauen in Selenskij hat, ist für mich eine offene Frage. Es ist egal, wie die Einstellung am Anfang der Militäroperation war, jetzt wollen sie den Krieg. Sie wollen Rache und so weiter. Das sind alles Aspekte, die anfänglich noch keine Rolle gespielt haben. Das ist logisch.

Ehrlicherweise muss man auch sagen, dass die Ukrainer nicht richtig über den Krieg informiert sind. Sie haben den Eindruck, ihr Land sei am Gewinnen. Denn die Desinformation, die wir in Europa erleben, widerspiegelt sich in der ukrainischen Bevölkerung. Viele Berichte in der ukrainischen Presse zeigen, dass die ukrainischen Soldaten von unseren Medien getäuscht wurden: Ihnen wird gesagt, dass die Russen geschwächt seien, keine Munition mehr hätten und schlecht kommandiert würden. Wenn sie jedoch an der Front sind, sehen sie, dass genau das Gegenteil der Fall ist.

In Europa wird jede Information, die gegen das offizielle Narrativ geht, gestrichen. Die Bevölkerung ist überzeugt, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Die russische Armee verliert mehr Soldaten als die Ukraine und so weiter. Das Bild, das die Ukrainer haben, entspricht nicht der Realität. Wenn man im Krieg ist, dann gilt diese Logik. Es ist kaum zu erwarten, dass die Ukrainer irgendwelche Sympathien für die Russen haben. Anfang 2022 war das sicher noch nicht so stark. Aber seither ist viel passiert, und sie haben den Krieg jeden Tag. Das Problem ist, sie haben so viel investiert, persönlich, finanziell und menschliches Leben, sie können nicht einfach zurückgehen. Sondern die Stimmung ist, weiter vorwärts zu gehen, weil man den Krieg gewinnt.

Es gab eine Umfrage, ebenfalls des «Kiew Institut for Sociology», die gezeigt hat, dass 63 Prozent der Bevölkerung mindestens drei Personen kennen, die in diesem Krieg gestorben sind.

 

„Wenn man die Probleme in Afrika lösen will, geht das nicht auf europäische Art“

Thomas Kaiser: Lassen Sie mich noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. Vor ein paar Wochen wurde die Regierung in Niger gestürzt. Die Medien vermittelten das Bild, Russland könnte etwas damit zu tun haben. Auf Demonstrationen in der Hauptstadt wurden angeblich auch russische Fahnen geschwenkt. Stimmt das Bild, das hier vermittelt wird?

Jacques Baud: Nein, das ist falsch. Die Russen waren an diesem Putsch nicht beteiligt. Das war die Präsidialgarde. Das kommt in afrikanischen Ländern immer wieder vor, dass die Präsidialgarde den Präsidenten verhaftet und absetzt. Mehr ist es nicht. Er steht unter Hausarrest. Es braucht keine große Organisation, auch nicht die Unterstützung durch einen fremden Staat.

Das Problem in Niger, in Mali, in Burkina Faso ist, dass die Franzosen einen Krieg führen, der nirgends hinführt. Alle wissen es. Ich war mehrmals in Mali und sprach mit vielen Menschen, auch mehrmals mit intellektuellen Journalisten, die das bestätigten. Es gab keine richtige Strategie. Die Regierung des Landes hatte keinen Einblick in diese Strategie und nicht einmal die Möglichkeit, ein Wort dazu zu sagen. Das ist der Grund, warum Mali und auch Niger die Franzosen dort nicht mehr wollen. Die malische Regierung hat die Franzosen aus dem Land geworfen. Danach verschoben sie ihre Truppen nach Niger und bauten dort eine ziemlich große Militärbasis. Die USA haben drei Basen im Niger. Der Westen betreibt einen Krieg, der die ganze Region destabilisiert. Das will er natürlich nicht akzeptieren, aber diese Länder sagen einfach «stopp».

Wir haben heute die Situation, dass die Menschen in ihrem eigenen Land bestimmen wollen. Sie möchten die Europäer weghaben und haben mehr Vertrauen gegenüber den Russen. Der Grund ist, dass die Europäer die afrikanischen Länder falsch behandeln. Man sagt, die Russen hätten dieses und jenes gemacht. Das ist Unsinn, sie haben sich nicht eingemischt. Niger hat aktuell ein Abkommen mit Russland geschlossen, aber es wird sich nicht in die Lokalpolitik einmischen, auch die Chinesen tun das nicht. Bei den Franzosen ist es genau das Gegenteil. Sie mischen sich in die Lokalpolitik ein.

Sie kommen wie die USA mit ihren gesellschaftlichen Vorstellungen und überfahren die Menschen. Sie wollen die Rolle der Frau ändern, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen steuern. Dass man die Situation der Frau verbessert, ist an und für sich keine schlechte Idee, aber man muss sich an der lokalen Kultur orientieren. Man kann nicht kommen und sagen: «Vergessen Sie Ihre Kultur, wir wissen und bestimmen, was für Sie gut ist.» Das haben die Afrikaner endgültig satt. Es ist offensichtlich, dass die Russen und die Chinesen nicht so vorgehen. Sie wollen helfen, aber sie sagen nicht, was die anderen zu tun haben. Es gibt keine Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben und die Organisation des Staates.

Die westlichen Länder, wie Sie eben sagten, hätten die Länder destabilisiert, was offenkundig ist. Was ist das Ziel?

Jacques Baud: Hier muss man vorsichtig sein. Die westlichen Länder haben die Region destabilisiert, aber ich glaube nicht, dass dies beabsichtigt war. Das liegt vor allem daran, dass man, ohne Strategie und ohne die Auswirkungen zu bedenken, Politik betreibt. Das ist eher das Ergebnis des fehlenden Hirns unserer Politiker als machiavellistischer Pläne.

Wenn man in den Ländern Mali oder Niger mit den Leuten spricht, sagen sie einem, das Problem habe begonnen, als 2011 Frankreich, Großbritannien und die USA in Libyen Gaddafi gestürzt hätten. Dadurch wurde der ganze Norden in Afrika destabilisiert. Gaddafi hatte mit seiner Kenntnis über die Verhältnisse, die Gesellschaft und Kultur in diesem Gebiet eine zentrale Funktion, die Gesellschaft in dieser Zone im Gleichgewicht zu halten. Nachdem Gaddafi gefallen war, begannen alle diese Stämme, sich gegenseitig zu bekämpfen. Das ist das ganze Problem in der Sahel-Zone, vom Sudan bis nach Mauretanien.

Heute hisst man die islamische Flagge dort, aber es geht nicht um Religion. Es ist ein Mittel, um die Menschen gegen den westlichen Einfluss zu mobilisieren. Aber die bestehenden Probleme haben nichts mit der Religion zu tun. Die Probleme entstanden vor allem aus der Stammeskultur heraus, und die Stämme können nicht zusammenleben. Sie kämpfen gegeneinander seit Jahrhunderten. So ist zum Beispiel die Situation in Mail.

Wenn man die Probleme lösen will, geht das nicht auf europäische Art, sondern auf afrikanische Art. Bei uns ging es darum, einfach Leute zu töten, denn in unseren Augen sind das alles «Terroristen», und das löst das Problem nicht. Dieses Verhalten der Franzosen hat die Spannungen massiv erhöht, und zwar im ganzen Gebiet. Das ist der Grund, warum die Afrikaner die Europäer nicht mehr haben wollen. Die Europäer verstehen die Situation ganz und gar nicht. Die sogenannte französische Erfahrung in Afrika ist total verschwunden. Diejenigen, die heute in Afrika sind, haben keine Erfahrung. Vor 70 Jahren gab es Leute, die in Afrika gelebt hatten. Sie hatten eine sehr tiefe Kenntnis über die Stämme. Dadurch konnten sie das Gleichgewicht zwischen ihnen aufrechterhalten. Dieses Know-how ist verschwunden. So kann man das grundsätzliche Problem nicht lösen und dessen Ursache beheben.

Spielen Bodenschätze keine Rolle? Gibt es nicht viel Uran in Mali?

Jacques Baud: Ja, Uran gibt es, aber das ist nicht unbedingt das Problem. Mali hat diese Bodenschätze, und sie werden das an denjenigen verkaufen, der es haben möchte. Die Bodenschätze sind sicher ein Aspekt und der Preis, den Frankreich dafür bezahlen muss, sie sind aber nicht das Hauptelement. Das zentrale Problem ist der Eingriff in die Gesellschaft und der mangelnde Respekt des Westens gegenüber den afrikanischen Ländern und ihrer Kultur. Es wäre nicht richtig, wenn man die Entwicklung in Niger oder Mail nur auf das Uran reduzieren würde. Es sind mehrere Faktoren, die hier eine Rolle spielen.

Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch.

 

Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation. 2023 erschien sein Buch »Putin. Herr des Geschehens« beim Westend Verlag.

 

 

 

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