12.06.2023

Bringt der NATO-Gipfel im Juli die weitere Eskalation?

 

Der Kampf hinter den Kulissen um das weitere Vorgehen der NATO scheint sich zuzuspitzen. Der NATO-Gipfel in Vilnius wird vermutlich zeigen, wie die Würfel gefallen sind. Aber die Chancen, dass sich die Vernunft durchsetzt, stehen nicht gut.

Von Dagmar Henn

Schon die RAND-Studie, die Anfang des Jahres die Empfehlung an die USA enthielt, sich aus der Ukraine zurückzuziehen, deutete an, dass im Inneren der US-Administration und der NATO eine größere Auseinandersetzung darüber stattfindet, wie man mit dem Projekt Ukraine nach Abarbeitung dieser Offensive weiter umgeht, nachdem klar ist, dass sowohl die Sanktionsstrategie als auch der militärische Konflikt das gewünschte Ziel nicht erreichten und auch nicht erreichen werden. Inzwischen hat nicht nur einer der Autoren der Studie nachgelegt; mit den Aussagen von Ex-NATO-Generalsekretär Anders Rasmussen liegt nun auch der Plan der anderen Seite auf dem Tisch.

Dass es sich um eine interne Auseinandersetzung handelt, zeigt sich nicht nur an Veröffentlichungen in Foreign Affairs, der wichtigsten außenpolitischen Zeitschrift der USA. Es lässt sich auch daran erkennen, dass in den letzten Wochen immer wieder Artikel auftauchten, die die Nazi-Ideologie in der Ukraine thematisierten (wie jener Artikel in der New York Times, in dem erwähnt wurde, dass Fotografen stets darauf achten müssen, die Nazi-Insignien ukrainischer Soldaten nicht mit abzulichten). Angesichts des erbitterten Schweigens, mit dem auf diese Tatsachen neun Jahre lang reagiert wurde, ist jede derartige Information ein Hinweis darauf, dass jemand aus den US-Strukturen ein Interesse hat, Distanz zu jenem Verbündeten zu schaffen.

Rasmussens Aussagen deuten folgende weitere Entwicklung an: über bilaterale Beistandsverträge (das verbirgt sich hinter der Formulierung "Sicherheitsgarantie") sollen die europäischen NATO-Mitgliedsländer ihre eigenen Truppen in den ukrainischen Krieg schicken können, ohne dass dadurch der Artikel 5 des NATO-Statuts aktiviert wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre das vor allem Polen; die winzigen baltischen Staaten könnten aus der dort verbliebenen männlichen Bevölkerung unterhalb des Rentenalters vielleicht zusammen eine Brigade aufbringen.

Würden die übrigen EU-Länder eine solche Entwicklung mittragen? Das vergangene Jahr hat deutlich genug gezeigt, dass die Neokons bereit sind, für ihre Pläne Europa komplett zu ruinieren. Von den gegenwärtigen Regierungen ist wenig Widerstand zu erwarten, sie haben sich ebenso vollständig dem Projekt Ukraine verschrieben wie der größere Teil der Biden-Regierung, und die meisten haben, wie Bundeskanzler Olaf Scholz, weder die Intelligenz noch das Rückgrat, um für die Interessen ihrer Länder einzutreten.

Gerade Scholz lieferte in den letzten Monaten ein geradezu historisches Spektakel; denn die auch in Deutschland verbreitete Version der Nord Stream-Saga mit der Ukraine als Täter müsste zumindest zu zunehmender Distanz führen; seine diesbezügliche Harthörigkeit lässt eigentlich nur noch die Option offen, dass er von dieser Kriegshandlung gegen Deutschland vorab nicht nur gewusst, sondern sie gebilligt hat, was ein Verhalten wäre, für das das deutsche Strafrecht weder einen wirklich angemessenen Paragrafen noch eine wirklich angemessene Strafe kennt.

Bei Frau von der Leyen muss man nicht weiter nachdenken; sie wie die gesamte Brüsseler Entourage wären vermutlich gerne bereit, eine EU-Armee gen Kiew zu schicken, um die amerikanischen Kastanien aus dem Feuer zu holen, und leiden gerade darunter, dass sie ebendies noch nicht können. Aber das Nachlegen bei der Nord Stream-Saga zeigt auch, dass unterhalb der EU-Bürokratie noch Kräfte vorhanden sind, die dem nicht folgen wollen; die Tatsache, dass eine belgische Zeitung unter Berufung auf den belgischen Geheimdienst schreibt, dort sei man lange vorab über den geplanten Anschlag auf Nord Stream informiert gewesen, besagt vor allem, dass auch innerhalb dieses Dienstes zumindest Teile einen Rückzug aus dem Ukraine-Projekt befürworten.

Mit Polen wäre es nämlich vermutlich nicht getan. Dieser Zug dürfte genauso scheitern wie die ganze Liste bisheriger Wunderwaffen; es sind seit Monaten bereits polnische Söldner in der Ukraine, und selbst wenn die gesamte polnische Armee dorthin geschickt würde, erreichte sie weder die Zahl noch die Ausrüstung, die die Ukraine am Anfang letzten Jahres noch besaß. Wer Englisch versteht, kann sich in einem neuen Video von The Duran eine ausführliche Debatte zu diesem Thema anschauen, in der viele Aspekte dieser Frage abgehandelt werden. Leider kommen die beiden zu dem deprimierenden Schluss, dass die Neokons in dieser Auseinandersetzung die Oberhand behalten dürften, und nach der polnischen Nummer ein Eintritt der USA und damit ein dritter Weltkrieg die logische Folge wären.

Auch in Bezug auf die politischen Entwicklungen rund um die Biden-Regierung wird in Europa so getan, als gäbe es das alles nicht. Das gilt sowohl für die jüngsten Enthüllungen über die zehn Millionen Dollar, die die Biden-Sippe nach Aussagen einer FBI-Quelle zu Zeiten von Joe Bidens Vizepräsidentschaft von Burisma erhalten haben soll, als auch für die bizarre Entwicklung der neuesten Anklage gegen Donald Trump. Letztere sollte man einmal mit den Vorwürfen vergleichen, wegen derer Russland keine Demokratie sein soll – Donald Trump ist als ehemaliger US-Präsident und im Falle seiner Kandidatur als wahrscheinlicher Wahlsieger ein ganz anderes Kaliber als die Guaidò, Tichanowka etc., die der Westen als "Oppositionsführer" vorführt. Ihn mit juristischen Tricks an einer Kandidatur hindern zu wollen, macht es schwer, die Vereinigten Staaten selbst formell noch eine Demokratie zu nennen.

Nachdem der Moment der Entscheidung bereits festzustehen scheint, auf eben jenem NATO-Gipfel im Juli, kann man davon ausgehen, dass davor beide Seiten versuchen werden, ihre Ausgangsposition zu verbessern. Die Sprengung des Kachowka-Damms kann man durchaus in diesen Zusammenhang einordnen, und wenn man das ukrainische Verhalten der letzten Jahre kennt, dürfte in dieser Richtung noch etwas nachkommen, irgendeine Inszenierung, um die man wieder ein großes Geschrei über russische Kriegsverbrechen anstimmen kann, um auf die gewünschten Beschlüsse vorzubereiten. Die Gegenseite scheint vor allem darauf zu setzen, zumindest eine Ecke des gigantischen Teppichs, unter den der Westen alle ukrainischen Verbrechen der letzten Jahre gekehrt hat, anzuheben. Noch mit einer gewissen Vorsicht, aber es ist noch Zeit bis zum 13. Juli, und der Vorrat unter diesem Teppich ist groß und reichhaltig.

Das wirkliche Problem bei dieser Konfrontation hinter den Kulissen ist allerdings, dass keine der beiden Fraktionen eine bessere Antwort auf den Niedergang des US-Imperiums bieten kann als mehr vom Selben und eine nüchterne Einschätzung bei beiden Varianten zum gleichen Ergebnis kommt.

Wenn schon für alle außerhalb des Westens gut sichtbar eine – auch noch selbst herbeigeführte – Auseinandersetzung mit Russland in einer Niederlage endet, wie soll dann eine Auseinandersetzung mit China zum Erfolg führen? Beide Gruppen haben weder die Absicht noch die Kenntnisse, um den für einen Ex-Hegemon angemessenen Platz in einer veränderten Welt zu schaffen. Selbst die Fraktion, für die Samuel Charap und die RAND-Studie stehen, setzt alles auf eine Karte, nur dass die Karte eben China heißt und nicht Russland, und beide den grundsätzlichen Irrtum begehen anzunehmen, ein Entweder-oder sei überhaupt zu haben.

Bei der pessimistischen Bewertung, die The Duran zu dieser Konstellation liefern, bleibt letztlich nur eine positive Option – dass die Eskalationsschritte seitens der USA irgendwann dazu führen, dass sich die anderen großen und aufsteigenden Mächte, also Russland, China, Indien, Brasilien usw., zusammenschließen, um ihrerseits die Vereinigten Staaten aus der so viel zitierten Weltgemeinschaft zu verbannen. Eine andere Option gäbe es nur, wenn die Bevölkerungen des Westens selbst dafür sorgten, dass diese Politik des immerwährenden Krieges beendet wird.

Das immerhin wäre ein historisch nützlicher Beitrag, den jene zweite Fraktion leisten könnte: durch ihre Versuche, die Position zur Ukraine zu verändern, die Informationsbarriere so weit zu durchbrechen, dass einer Mehrheit der Menschen im Westen bewusst wird, welchen Pfad sie seit 2014 entlang geführt wurden und welche Gefahren bei einer weiteren Eskalation drohen. Um sich das zu vergegenwärtigen, genügt eigentlich bereits ein Blick auf die Fantasien, die in der NATO gehegt werden, mit einem Beitritt Schwedens die Ostsee zu einem NATO-Meer zu machen und die Passage für die russische Marine zu blockieren; ein Schritt, der nicht anders enden kann als mit einer Reihe von NATO-Schiffen auf dem Grund der Ostsee.

So vielgestaltig die Manöver sind, mit denen Öl ins Feuer gegossen wird – entscheidend ist, dass die Menschen im Westen erkennen, wer die Ölkanne in der Hand hält. Aber von der gegenwärtigen Friedhofsruhe bis zu einem Moment, an dem in Westeuropa Regierungen nachgeben oder gar gestürzt werden, ist noch eine gehörige Strecke zurückzulegen.

 

Link zum Originalartikel:
rtde: Bringt der NATO-Gipfel im Juli die weitere Eskalation?
11.06.2023  21:07 Uhr

jp

 

 

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