Tradition und Traditionspflege

ein Diskussionsbeitrag von Walter Müller
11.12.2013

 

Bemerkungen zur Diskussionsvorlage

Unstimmigkeiten über die Wahrnahme von Traditionen der bewaffneten Organe der DDR haben jüngst zu einer Spaltung des „Traditionsverbandes Nationale Volksarmee e.V.“ geführt. Am 26. Januar 2013 gründete sich deshalb der „Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR e.V.“ Ausgehend von den Führungs- und Bildungsansprüchen des neuen Verbandes, kommt der begrifflichen Bestimmung seines Traditionsbildes eine entscheidende Bedeutung zu. Erste Grundsätze wurden in der Satzung fixiert.

Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Beitritt der DDR zur BRD stellt sich unser Verband die Aufgabe, die geschichtliche Legitimation der DDR und ihrer bewaffneten Organe aufzuarbeiten und sich für den Erhalt und die Bewahrung ihrer humanistischen und revolutionären Traditionen zu verwenden.

Das ist Neuland. Diffuse Vorstellungen müssen überwunden, gemeinsame geschaffen werden. Wir brauchen eine unverstellte, klare und parteiliche Sicht auf die Definition unserer Traditionen. Ohne Kenntnisnahme der zu tradierenden

Werte und Ideale werden wir keine Prozesse zur Identifikationsfindung anstoßen können.

Mit dem vorliegenden Papier möchte ich eine Diskussion anregen, die uns bei der Herbeiführung gemeinsamer Vorstellungen über das Traditionsbild unseres Verbandes behilflich sein soll.

 

Gliederung:

  • Prolog
  • Zu den Traditionen der Nationalen Volksarmee
  • Die Pflege der Traditionen der NVA/GT der DDR
  • Die Doppelfunktion der Traditionspflege


Ein Prolog

Kein Mensch hat die Möglichkeit, auf Ort und Zeitpunkt seines Ankommens auf dieser Erde Einfluß zu nehmen und nach eigenem Gutdünken seine Daseinsbedingungen zu gestalten. Jeder ist gezwungen, die unmittelbar vorgefundenen Umstände, insbesondere das gegebene Entwicklungsniveau der Produktivkräfte und die ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse, zur Kenntnis zu nehmen und sie als Ausgangspunkt für seine Lebensgestaltung zu nutzen. Die Welt ist so wie sie ist.

Ihre Gesellschaften reproduzieren sich immer materiell und symbolisch. Auf diese Weise sichern sie sich ihre Fortexistenz. Reproduktion heißt hier: Die kulturellen Gehalte, ihre Praktiken, Sprachen, Institutionen, Normen, Leistungen und Werke von früheren Generationen aufnehmen und an die nächste Generation weitergeben. Daß jede Gesellschaft aus ihrer Vergangenheit ihre Gegenwart und Zukunft gestalten muß, kann man als universelle Tradition bezeichnen.

Der Werdegang von Natur und Gesellschaft, also von Geschichte, ist der Werdegang vom Niederen zum Höheren, vom Entstehen des Menschengeschlechts bis zur Gegenwart. Geschichte vollzieht sich auf der Grundlage objektiver Gesetzmäßigkeiten. Gesellschaftliche Gesetze kommen durch die materiell bedingte Tätigkeit der Menschen zur Geltung. Die ganze bisherige Geschichte der Menschheit - mit Ausnahme der Geschichte der Urgesellschaft, in der es noch keine Klassenspaltung gab – ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.

Die Entwicklung der Produktivkräfte und die Erhöhung der Arbeitsproduktivität waren die erste Voraussetzung für das Entstehen von Klassen, das Aufkommen des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Besitzunterschiede die zweite. Mit der Herausbildung des Privateigentums und der Ausbeutung spaltete sich die Gesellschaft in antagonistische Klassen. Zur Sicherung der Ausbeuter im Klassenkampf und zur Unterdrückung der ausgebeuteten Klassen wurde die Schaffung eines besonderen Gewaltapparates notwendig. So entstand der Staat als Produkt und Ausdruck der Unversöhnbarkeit der Klassengegensätze zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten.

Der Staat ist eine Zwangsorganisation der in der jeweiligen Gesellschaft ökonomisch und politisch herrschenden Klasse, mit deren Hilfe diese Klasse ihre Diktatur verwirklicht und ihre Klassengegner niederhält.

Erst nach dem Sturz der Bourgeoisie und nach der Errichtung der Diktatur des Proletariats wird der Staat zu einem Instrument der werktätigen Klassen und verteidigt die Interessen des Volkes.

Als Machtinstrument der herrschenden Klasse in der DDR bezeichneten sich die Streitkräfte zu Recht als „Volksarmee“.

 

Zu den Traditionen der Nationalen Volksarmee

Im Zusammenhang mit dem Auftreten einer uniformierten Gruppe von früheren Angehörigen der bewaffneten Organe der DDR am 9. Mai 2013 am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow  erschien ein Pressebeitrag unter dem Titel „Wichtigste Tradition  ist die Sicherung des Friedens“. Jürgen Meller vom „Traditionsverband NVA“ traf diese Aussage (jW. v. 14.05.13).

Daß Art und Weise des Auftretens eher den Eindruck  einer Karikatur hinterließen und so das Ansehen und die Erinnerung an Exaktheit, Disziplin und korrektes Äußeres von DDR-Soldaten in Mißkredit brachten, ist das eine, das andere ist die Frage, ob die Sicherung des Friedens tatsächlich als unsere wichtigste Tradition bezeichnet werden kann.

Auftrag und Tradition sind zwar verschiedene Dinge, man kann sie aber auch nicht losgelöst voneinander betrachten. Die Reduzierung von Tradition auf Friedenssicherung ist in diesem Falle wohl dem Zeitgeist geschuldet, sie erlaubt, den Auftraggeber der bewaffneten Organe der DDR aus dem Blickfeld zu rücken. Gerade hier hätte sich doch ein Traditionsbezug angeboten, denn gewonnene Macht, will sie sich behaupten, muß sich ihrer bewaffneten Instrumente zur Niederhaltung der gestürzten Klasse bedienen. Von deren Widerstand hängt es ab, wieviel Gewaltpotential dagegen aufgeboten werden muß. In der DDR ging es um die Sicherung der Arbeiter- und Bauernmacht, ohne sie sind die Traditionen ihrer bewaffneten Organe nicht definierbar.

Bei Oberst a.D. Wolfgang Gerhard habe ich ( in „Wir über uns“, Zeitzeugen berichten über die politische Arbeit in der NVA, Seite 193) eine treffende und kompakte Aussage zu diesem Thema gefunden. Er schreibt:

„Die Traditionspflege der NVA unterschied sich ihrem Ziel, ihrem Inhalt und den Vorbildern nach grundlegend von der Traditionspflege anderer Streitkräfte.

Auswahlkriterien für die beanspruchten Traditionen als Werteüberlieferungen aus der Geschichte war das Selbstverständnis der Armee in Abhängigkeit von dem des Staates. Und wie sich die DDR als Ergebnis des jahrhundertelangen Ringens des Volkes gegen Ausbeuter und Unterdrücker für einen sozial gerechten Staat sah, der nie wieder Ausgangspunkt eines Krieges sein sollte, so wurden nach dem Traditionsverständnis der NVA jene militärpolitischen, militärtheoretischen und militärischen Bestrebungen sowie ihre Träger aus der Geschichte ausgewählt, die den Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt verkörperten.“

Traditionen haben in der Militärgeschichte schon immer eine herausragende Rolle gespielt. Ihre Orientierungsfunktion unterstützt die Sinngebung und Identitätsstiftung des Soldatseins  im Sozialismus. Ihre aus der Geschichte abgeleiteten Erfahrungen, Normen und Werte begründen die Legitimität soldatischen Handelns.

Als Erbe und Fortsetzer aller vorangegangenen progressiven Entwicklungen sah sich die DDR auf der höchsten Entwicklungsstufe des gesellschaftlichen Fortschritts angekommen. Am Nimbus ihrer Einmaligkeit sind auch die staatlichen Machtinstrumente beteiligt. Neben dem radikalen Bruch mit allen reaktionären Entwicklungsformen in der deutschen Geschichte stellte sich in den bewaffneten Organen der DDR die Aufgabe, die progressiven humanistischen und revolutionären Traditionen des Volkes aufzugreifen, zu bewahren und zu vollenden. Im Mittelpunkt der Erziehung und Bildung der Soldatenpersönlich-keit standen die Vermittlung von Internationalismus, Antifaschismus, Antimili-tarismus und Volksverbundenheit. Im Einklang mit den politischen und sozialen Errungenschaften der DDR entstanden vielfältige und breitgefächerte Identifikationsmöglichkeiten.

Der Charakter einer wirklichen „Volksarmee“ war nicht nur aus der Historie geschöpft, aktuell resultierte dieser auch aus dem besonderen Platz, der den Streitkräften der DDR als östlichster Vorposten in der Systemauseinandersetzung zugewiesen war. Die Angehörigen der NVA und der Grenztruppen erfuhren in der Öffentlichkeit eine beachtliche Wertschätzung.

Die Mehrheit der DDR-Bürger war vom Friedenswillen der eigenen Seite überzeugt, aus der offensichtlichen Bedrohung des Friedens durch die Westmächte entwickelte sich ein öffentliches Verständnis für die Verteidigungsbereitschaft der DDR.

Die soziale Herkunft der Führungskader und des Offizierskorps der „Volksarmee“ entsprach der Gesellschaftsstruktur der DDR. Auf vielfache Weise entwickelten Waffengattungen, Truppenteile und Einheiten dauerhafte Beziehungen zu Patenbetrieben in der Industrie und Landwirtschaft, zu Städten und Gemeinden in den Garnisonstandorten, zu gesellschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Einrichtungen. Volksverbundenheit war ein Alltagswert in der Traditionskultur der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR.

Tradititionsverbundenheit pflegten die Veranstaltungen des Erich-Weinert-Ensembles, vermittelten die Manöver, Paraden und Aufmärsche der NVA, das Historische Militärkonzert auf dem Berliner Gendarmenmarkt, die Musikparaden der vereinigten Musikkorps der NVA bei den Arbeiterfestspielen, der wöchentliche Große Wachaufzug Unter den Linden u.v.a. Die öffentliche Wahrnahme des Militärischen in der DDR war zum großen Teil von  Hochachtung und Sympathie gekennzeichnet.

Mit über 200 Traditionsnamen erinnerte und ehrte die NVA jene Persönlich-keiten, die sich im Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit, im Widerstand gegen Krieg und Faschismus bewährt hatten. Gepflegt wurde die Identifikation mit den Fortschrittskräften der deutschen und Weltgeschichte in der Arbeit von Traditionszimmern, Traditionskabinetten und –zirkeln. Führungsdokumente, u.a. die „Traditionspflegeordnung“, benannten Ziel, Inhalt und Formen der Führung der militärischen Traditionspflege.

In der Verfassung der DDR (Artikel 7,8 und 23), auf die sich die Traditionsarbeit in den bewaffneten Organen stützte, war festgeschrieben, daß die DDR niemals einen Eroberungskrieg unternehmen oder ihre Streitkräfte gegen die Freiheit eine anderen Volkes einsetzen wird. Kritisches zur Führung und Praxis der Traditionspflege in der NVA äußerten Mitarbeiter des Instituts für Militärgeschichte der DDR in Potsdam.

Nachdem sie sich „vom Druck eines totalitären Regimes befreit“ hatten, äußerten sie sich 1991 als Zeitzeugen in dem Buch „NVA  Ein Rückblick für die Zukunft“, für das sich Generalleutnant Jörg Schönbohm, damaliger Befehlshaber des Bundeswehrkommandos Ost, als Vorwort-Schreiber zur Verfügung stellte. Aus ihren Erkenntnissen nachfolgend einige Kernaussagen:

  • Die Entwicklung hat sich nicht nach den Marx`schen Gesetzmäßigkeiten und Vorgaben für die Epochenentwicklung gerichtet. Wir brauchen eine Neubewertung der Auffassung von der gesetzmäßigen Abfolge von Gesellschaftsformationen.
  • Das Sicherheitsbedürfnis der sozialistischen Staaten war überzogen.
  • Der Zusammenhang  von Imperialismus und Gewalt wurde unzulässig verallgemeinert.
  • Die Beurteilung der Militärpolitik der BRD im Rahmen der NATO war falsch.
  • Die Traditionspflege wurde „von oben verordnet“. Dirigismus schmälerte die Resonanz der ethischen Werte und Leistungen.
  • Die Auswahl bewahrenswerter Ereignisse und Leistungen war eingeschränkt. Die Arbeiterklasse wurde zum vorrangigen Fortschrittsträger des Geschichtsprozesses erklärt, andere soziale Kräfte wurden nur beschränkt für würdig befunden, sich an der Traditionsbildung beteiligen zu können.
  • Die Legitimierungsfunktion der Traditionspflege wurde mißbraucht. Ideologisch überfrachtet diente sie vor allem der Legitimation der führenden Rolle der Partei, der Erziehung zum Klassenhass auf den Imperialismus und der Feindbildpropaganda.
  • In der Traditionspflege keine Überbewertung des sozialen Aspektes einerseits und die Unterbewertung von Demokratie und Freiheit andererseits zulassen.
  • Traditionen nicht von Weltanschauung oder Parteiinteressen abhängig machen.                 

Die Folgerungen der oben zitierten Zeitzeugen sind von der Hoffnung geprägt, von nun an gemeinsam mit Militärwissenschaftlern der BRD an der Gestaltung eines neuen Friedensstaates mitwirken zu dürfen.

Am Ende der DDR werden ihre Militärs ebensowenig gebraucht wie konzeptionelles Denken, das den NATO- und Bundeswehrstrategien hätte Steine in den Weg legen können. In Klassengesellschaften geben nun mal die Klasseninteressen den Ton an.. Für eine Traditionskultur ohne Weltanschauung gibt es hier keinen Raum. Das vorläufige Scheitern des Sozialismus schafft den Sozialismus nicht aus der Welt und die Sieger von Heute repräsentieren nicht das Ende der Geschichte. Es gibt keinen Grund, Marx mit dem Bade auszuschütten. Doch nicht alle kritischen Anmerkungen gehören in den Papierkorb, es sind auch überlegenswerte Hinweise darunter.

 

Die Pflege der Traditionen der NVA/GT der DDR

Umgangssprachlich sollten die Unterschiede zwischen Tradition und Traditionspflege stets beachtet werden

Die Traditionspflege ist Anliegen unseres Verbandes. Sein Operationsfeld ist die Geschichte. Sein Bildungsziel ist die Förderung und Gestaltung von Geschichtsbewußtsein, vor allem gerichtet auf die dialektische Aufhebung aller in ihrer Zeit progressiven Vorgänge, Bewegungen, Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe.

Die in der Satzung getroffenen Aussagen über unser Traditionsbildverständnis entsprechen dem heutigen Stand unserer Erkenntnisse und Erfahrungen. Verkürzt und zusammengefaßt besagen sie:

1. Die bewaffneten Organe der DDR stehen für Antifaschismus, Antimilitarismus und sozialistischen Internationalismus. Sie stehen in der Tradition des Kampfes um Humanität, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Fortschritt.

2. Den Interessen des werktätigen Volkes, insbesondere der Arbeiterklasse und der Bauernschaft der DDR verpflichtet, waren die Nationale Volksarmee und die Grenztruppen der DDR Instrumente der Systemauseinandersetzung.

Was wollen wir daraus schlußfolgernd tradieren? Formulieren wir einige Beispiele:

- Leistungen und Wirken von Karl Marx und Friedrich Engels, August Bebel und Wilhelm Liebknecht, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Ernst Thälmann ( Wilhem Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht ) usw.

- Lehren und Erfahrungen aus Ideen, Ereignissen und Prozessen, die nachhaltig zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft beigetragen haben.           

- Jene Taten, Leistungen und Vorgänge des Geschichtsverlaufs, aus denen wir unsere Ideale und Werte schöpfen.

- Rolle, Bedeutung und Lehren der Französischen Revolution, der 1848er und der Novemberevolution in Deutschland sowie der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution.

- Den heldenhaften und opferreichen Kampf der Christen, Sozialdemokraten, Kommunisten und Vertreter der Intelligenz gegen Faschismus und Krieg.

- Die Gründung der DDR als revolutionäre Tat und bedeutende Kulturleistung in der deutschen Geschichte.

- Die militärische Sicherung und Bewahrung des Friedens in Europa in der Koalition mit den Bruderarmeen der sozialistischen Staatengemeinschaft. Unsere Traditionspflege heute ist nicht mehr die der Jahre von 1956  bis 1990. DDR-Sozialismus, Arbeiter- und Bauernmacht und DDR-Soldaten sind Erscheinungen eines abgeschlossenen und beendeten Geschichtsabschnittes. Unser Erbe muß neu hinterfragt und bewertet werden. D.h.

- unter den spezifischen Bedingungen einer Klassengesellschaft, die unserer Art von Nachlaßinteressen ihren Widerstand entgegensetzt,     

- mit einem Abstand von mehr als zwei Jahrzehnten, im Rahmen derer wir unsere Erfahrungen und Erkenntnisse über gesetzmäßigen Geschichtsverlauf vervollkommnen konnten und im Sinne des Marxismus-Leninismus bestätigt sehen.

Wenn wir davon ausgehen, daß die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, dann kann die Aneignung von Erbe kein ungeordneter oder spontaner Vorgang, sondern nur ein zielgerichteter, bewußter und strategischer Vorgang sein, in dem die Interessen der Klassen eine besondere Rolle spielen.

Tatsächlich ist Geschichtsrezeption ein gesteuerter Prozeß.

An seinem Anfang steht die Erbmasse, die Hinterlassenschaft, das Überlieferungsgut, aus dem Traditionen gebildet oder entwickelt werden können.

Dem folgen die Akte der Tradierung. Das ist der eigentliche Überlieferungsprozeß. Bewahrenswerte ausgewählte Teile der Vergangenheit bzw. des Erbes werden empfangen, übernommen und weitergegeben.

Am Ende liegt uns das Resultat der Überlieferung vor. Die Gestalt, die Formen, in der das Überlieferte in der Gegenwart anzutreffen ist.

Eine Tradition ist eine gemeinschaftliche öffentliche Meinungs- und Standortäußerung. Sie ist die Wiederholung, die Serie, die Folge, eine wiederbelebte Ausdrucksform oder Handlung, mit der wir an Ereignisse, Leistungen, Personen der Vergangenheit, in der Regel zeitrhythmisch, erinnern und sie würdigen.

Traditionen pflegen heißt, die Steuerung des Überlieferungsprozesses zu übernehmen, mitauszuwählen, was uns die Vergangenheit an Wertvollem und Bewahrenswertem hinterlassen hat, was des besonderen Schutzes – z.B. der eigenen Tradition – gegenüber den Angriffen, Entstellungen und Verfälschungen durch die herrschende Tradition bedarf. Maßstab für die Auswahl des pflegewürdigen Überlieferungsgutes sind unsere Werte und Ideale , die dem Wohl des Volkes und dem Progreß der gesellschaftlichen Entwicklung dienen. Grundlage unseres Herangehens ist der Marxismus-Leninismus, die materialistische Geschichtsauffassung .

Ohne Marx sind Fortschritt und Revolution, Ideale und Werte, sind Humanität. Gleichheit und Brüderlichkeit nicht definierbar. Ohne den dialektischen Materialismus fehlte uns das Verständnis für Geschichte, für die Praxis, den Sinn für die gesamte Tätigkeit der Menschen zur Veränderung der objektiven Wirklichkeit. Marx zeigt im „Kapital“ auf, daß hinter den verschiedenartigen äußeren Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens , mit denen der Mensch täglich bekannt wird, die hauptsächlichen ökonomischen Verhältnisse liegen, die letzten Endes die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen. Das Eindringen in das Wesen der Dinge ist jedoch nur mit Hilfe des Denkens möglich.

Die Einheit von Theorie und Praxis ständig zu sichern muß ein Grundsatz unserer Verbandsarbeit sein. Aus der wechselseitigen Verbindung von Theorie und Praxis erwächst ihre Orientierungsfunktion.

Weil die Klasseninteressen des Proletariats mit dem objektiven Gang der historischen Entwicklung übereinstimmen, braucht die Arbeiterklasse, wenn sie ihre Klasseninteressen verwirklichen will, Einsicht in das Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung. Ohne revolutionäre Theorie, sagt Lenin, kann es keine revolutionäre Praxis geben.

Das ist auch heute noch so. Ein vorrangiges Medium der Überlieferung ist die Sprache. Mündliche und schriftliche Überlieferungen vermitteln Ursprünglichkeit und Authentizität, sie formen unsere Persönlichkeit und unsere Bewußtheit, sie verleihen unseren Erkenntnissen und Erfahrungen Legitimation und Bestand in der politischen Auseinandersetzung. Sie sind unabdingbar für Inhalt und Gestaltung der Traditionspflege.

Wir stehen vor der Aufgabe, den Mitgliedern unseres Verbandes behilflich zu sein, aus dem Reichtum der philosophischen ,wissenschaftlichen, künstlerischen und erzählenden Literatur zu schöpfen, um daraus Schlußfolgerungen für die eigene Lebensführung abzuleiten.

Zeitzeugen sollten angeregt werden, über ihr Leben und Wirken in der Nationalen Volksarmee oder in den Grenztruppen der DDR in Wort und Schrift zu berichten. Nicht in Form einer chronologischen Auflistung von Daten über die Einführung von Waffen, Geräten oder Gefechtsführungssytemen, sondern in Gestalt erzählter Erinnerungen und Berichte aus einer Zeit, in der Millionen Bürger der DDR nicht mehr Objekt, sondern Subjekt des Geschichtsverlaufs sein und über Krieg und Frieden in Europa mitentscheiden wollten.

Traditionspflege verlangt immer die menschlichen Bewährungen aufzuspüren, die Motive und die Beweggründe soldatischen Handelns sichtbar zu machen, ohne die wir unseren militärischen Auftrag nicht hätten erfüllen können,

 

„Denn in der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden
lauter mit Bewußtsein begabte, mit Überlegung und Leidenschaft
Handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen,
nichts geschieht ohne bewußte Absicht, ohne gewolltes Ziel.“

                                Engels, MEW, 21 S. 296

 

Ordnen wir das bisher Gesagte über die Organisation des Überlieferungsprozesses:

  • Drei Bestandteile gliedern den Überlieferungsprozeß: Die Auswahl, das Weitergeben, das Erhalten und Verteidigen der Überlieferung. Sie beinhalten die Reflexion von Geschichte, die Ableitung von Erfahrungen und Lehren aus der Geschichte.
  • Da unser Traditionsverständnis auf einem marxistischen Weltbild vom Gesamtverlauf der menschlichen Gesellschaft beruht, geht es hier um die Art und Weise der Vergegenwärtigung von Geschichte. Damit rückt die Historie, das Geschichtsbewußtsein, in den Mittelpunkt der Pflege und Erhaltung unserer Traditionen vor allem jener, die zum Progreß der gesellschaftlichen Entwicklung beigetragen haben.
  • Die Sprache ist ein vorrangiges Medium der Überlieferung. Für die Überlieferung der symbolischen Ordnung von Gesellschaften sowie von

     Kenntnissen über das Wirken der gesellschaftlichen Triebkräfte sind Wort und Schrift unverzichtbar.

  • Die Wiederholung ist eine spezifische Eigenschaft der Tradition. Festgemacht an Daten, Jahrestagen, Jubiläen, Festen, Ritualen, Inhalten, Handlungen oder Ereignissen, werden ständig erneuerte Erinnerungen und Würdigungen zu einer Tradition der Weitergabe von Erfahrungen, Einstellungen und Weltsichten an die nächste Generation.
  • Die Erinnerung ist eine Form der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, eine Form der Wiederbelebung von Vergangenheit. Sie hilft uns die Geschichte zu erklären und begreiflich zu machen. Hier finden individuell-lebensgeschichtliche Erinnerungen Eingang in eine gruppenbezogene Erinnerungskultur. Einerseits wird durch Erinnerung Geschichte gebildet, andererseits trägt sie zur sozialen Verortung des Einzelnen in der Geschichtskonstellation bei. In der kollektiven Identität findet die Erhaltung der eigenen Identität Bestätigung, Weiterentwicklung und Schutz.
  • Traditionsbefolgung und Zugehörigkeitsgefühl gehören immer zusammen. Beide stehen in einer engen Wechselbeziehung. Aus Zugehörigkeitsgefühlen entwickeln sich Bedürfnisse zur Teilhabe an Ausdrucksformen kollektiver Identität. Traditionspflege muß sich - will sie erfolgreich sein - auf die Befriedigung der Zugehörigkeitsbedürfnisse  orientieren.
  • Zugehörigkeitsbedürfnisse stehen im Zentrum der Konfrontation der eigenen, derzeitig unterlegenen, mit der in Deutschland gegenwärtig herrschenden Tradition der Bundeswehr. Beide Traditionslinien, die der NVA und die der Bundeswehr stehen sich, bedingt durch die Divergenz ihrer geschichtlichen Rolle und Aufgaben, unversöhnlich gegenüber.

Die Militärpolitik der Bundesrepublik hat die Teilhabe an globaler Führerschaft und somit an weltweiten Militäreinsätzen zum Ziel. Offiziell darf das aber so nicht unter die Leute. Deshalb kämpfen die „Staatsbürger in Uniform“ unter der Fahne von Friedensmissionen,  des Schutzes von Menschenrechten und der Abwehr terroristischer Gefahren.

Ergo: Das Anliegen unserer Traditionspflege ist immer eine starke Tradition, ein Hort unserer Parteilichkeit, unserer Bekenntnisse und Weltsicht. In einer Konfrontation mit der herrschenden Tradition ist Abgrenzung und Auseinandersetzung unausbleiblich. Wir müssen uns so deutlich wie möglich kenntlich machen. Traditionspflege light würde nur eine revisionistische Spielart sein. Nirgendwo in Deutschland, nur in unserem Verband, finden die Traditionen der NVA und der Grenztruppen der DDR gegenwärtig Bewahrung, Schutz und Würdigung.

 

Die Doppelfunktion der Traditionspflege

Traditionspflege ist Öffentlichkeitsarbeit, für die im Verbandsleben die Grundlagen geschaffen werden  –  das ist ihre Doppelfunktion.

 1. Die innerverbandliche, auf kollektive Identitätsfindung gerichtete Funktion

 An der Vergegenwärtigung von Geschichte müssen alle Mitglieder des Verbandes beteiligt werden. Ihre Einbeziehung in den „Überlieferungsprozeß“ fördert das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, das Verstehen von Vergangenheit, die Bedeutung ihrer Lehren für Gegenwart und Zukunft. Die Inbesitznahme der militärischen Traditionen und ihrer Vorgeschichte sollte als anschaulicher, schöpferischer und vergnüglicher Lernprozeß organisiert werden, aus dem die Ideen und Initiativen für die Öffentlichkeitsarbeit  des Verbandes hervorgehen. Unsere Tradition muß von allen gewollt sein, alle müssen sich eingebunden und sich mit ihren Meinungen und Erfahrungen aufgefordert und eingeladen fühlen. Problematisch: Der Verband hat ein Generationsproblem, auch personell stößt er an eine biologische Schranke. Jene, die bereits im Gründungsjahr der DDR bei den bewaffneten Organen waren, sind heute über 80 Jahre alt. Die Wehrpflichtigen aus den 70ern erreichen das Rentenalter. Die jetzt in Gang kommende inhaltliche und organisatorische Profilierung des Verbandes, noch von Leuten gemacht, die dabei waren. ist wichtig und unersetzbar.

Längerfristig entscheidet über Theorie und Praxis unserer Traditionsarbeit die Gewinnung neuer Mitglieder aus den Reihen der „unteren Dienstgrade“ und interessierter Bürger aus dem Zivilleben. Beachtenswert ist auch: Für einen Teil unserer Verbandsmitglieder war der Dienst in den bewaffneten Organen eine Lebensleistung, für einen anderen Teil nur ein Lebensabschnitt, für einen Wehrpflichtigen möglicherweise eine Last. Die zwischenmenschlichen Beziehungen im Verband verdienen deshalb eine besondere Aufmerksamkeit. An Stelle von Beziehungen nach „Rangordnung“ treten Beziehungen des Miteinanders, der Achtung, der Kameradschaftlichkeit und der gegenseitigen Fürsorge unter Genossen. Es gibt keine Subordination mehr. Alle sind gleichberechtigt. Jeder kann uneingeschränkt sein Recht zur Teilnahme am demokratischen Meinungsbildungsprozeß in Anspruch nehmen. Jedes Bekenntnis zu der Traditionen der NVA/GT der DDR genießt Respekt, Heimstatt und Schutz.

 

2. Die öffentliche Funktion. Positionsdarstellung, Auseinandersetzung und Aufklärung.

Mit der Bewahrung unserer Traditionen trotzen wir der in der Bundesrepublik Deutschland staatlich verordneten Delegitimierung des Sozialismus, der DDR und ihrer Streitkräfte. Hier halten die früheren Angehörigen der bewaffneten Organe noch immer an Idealen und Werten fest, die dem Volk den Weg in eine antifaschistische und demokratische, sozial gerechte und menschliche Zukunft weisen, eine Zukunft ohne Ausbeutung und Krieg.

Mit der Bewahrung und Weitergabe unserer Traditionen erinnern wir daran, daß sich in der Nachkriegszeit zwei deutsche Staaten in ganz unterschiedlichen Militärbündnissen gegenüberstanden. Wir sind stolz darauf, gefährlichen Roll-back-Hoffnungen  aus dem Westen Paroli geboten und einen Beitrag zur Balance des militärischen Kräfteverhältnisses und damit zur Sicherung des Friedens in Europa geleistet zu haben.

Mit seinem öffentlichen Wirksamwerden äußert sich der Verband in Veranstaltungen, bei Gedenkfeiern, in Leserforen und Pressebeiträgen kritisch zu zeitgeschichtlichen und aktuellen Themen wie z.B.

- zur Ursache von Kriegen.

- zum Großmachtstreben der USA und den Folgen.

- zur NATO-Politik gegenüber Russland, Syrien, Afghanistan usw.

- zur deutschen Rüstungspolitik und zum Erwerb von Drohnen.

- zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr.

- zur Verfälschung geschichtlicher Ereignisse ( 17. Juni / 13. August / 3. Okt.u.ä.)

- zum Traditionsbild der Bundeswehr und des Bundeswehrverbandes

- zur Rolle der militärhistorischen Museen in Dresden und Berlin-Gatow.

- zur Rede des Bundespräsidenten am 20.Juni 2013 vor dem Reichstag
  („Wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung stehlen, Wir müssen dem Frieden dienen,
    wo nötig, mit Gewalt.“).

 

Weitere Themen könnten sein:

- Die NVA , die Alternative zu allen anderen deutschen Armeen.

- Der 400. Jahrestag der Garnisonstadt Strausberg

- Zum Abbild des Militärischen im Kunstschaffen der DDR usw.

 

Bezugsdokumente sind dabei:

- Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik,

- Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland,

- Der Einigungsvertrag,

- Der 2 + 4 - Vertrag,

- Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (UNO-Menschenrechtscharta).

Ich schlage dem Vorstand des „Verbandes zur Pflege der Traditionen der NVA/GT der DDR“ die Herausgabe eines Kalendariums vor, dem die Standortgruppen Daten und Informationen für ihre Öffentlichkeitsarbeit entnehmen können. Das Kalendarium enthält Hinweise auf Jahrestage, geschichtlicher Ereignisse, Daten über zu würdigende Persönlichkeiten,

Auskünfte über Angehörige der bewaffneten Organe, die beim Schutz der Staatsgrenze der DDR ums Leben gekommen sind usw. Eine Beilage des Kalendariums informiert über die in der NVA/GT vergebenen Traditionsnamen.

Unsere Webseite verwendet für die optimale Funktion Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.