Die Mär vom Zwischenfall im Golf von Tonkin im August 1964
Begründung der USA für das direkte Eingreifen in den 2.Vietnamkrieg

von Horst Kerzig
Kapitän zur See a.D.

 

Zur Vorgeschichte

Nach der Niederlage Frankreichs in der Schlacht von Dien Bien Phu vereinbarten Kriegsgegner und beteiligte Großmächte auf der Indochinakonferenz in Genf vom 08.05. bis 21.07.1954 einen sofortigen Waffenstillstand, den beidseitigen Truppenrückzug, eine entmilitarisierte Pufferzone entlang des 17. Breitengrades und landesweite, international beaufsichtigte demokratische Wahlen der künftigen Regierung für 1956. Der am 07.07.1954 mit Unterstützung der USA ernannte südvietnamesische Premierminister Ngo Dinh Diem sagte 1956 die gesamtvietnamesischen Wahlen ab und brach damit die Genfer Vereinbahrungen von 1954. Diem war Katholik, aber 90 % der Südvietnamesen waren Buddhisten – Spannungen und Antipathien waren vorprogrammiert. 1955 schloss Diem die Grenzen nach Nordvietnam, unterband den Postverkehr zwischen Norden und Süden und begann mit der Liquidierung der im Süden verbliebenen Kader der Vietminh.

Diem erhielt großzügige US-Finanzmittel, überwiegend zum Aufbau seiner „Armee der Republik Vietnam“ (ARVN). Im März 1956 wurde eine von Diem konzipierte Verfassung in Saigon beschlossen, womit Vietnam endgültig in zwei Staaten geteilt wurde. Beide Seiten beanspruchten für sich die rechtmäßige Staatsform für ganz Vietnam. Ab 1959 kam es zu Gefechten zwischen den Vietminh und der ARVN. Trotz zunehmenden Rückhalts in der südvietnamesischen Bevölkerung wurden immer mehr Vietminh in Südvietnam getötet. Um ihren Einfluss auf die Bevölkerung nicht zu verlieren, drängten sie Nordvietnams Regierung, Kampftruppen zu entsenden. Ab September 1959 gestattete die nordvietnamesische Regierung, dass in Südvietnam geborene ehemalige Vietminh nach Südvietnam zurückkehren können. Am 20. Dezember 1960 vereinigten sich die Vietminh mit weiteren Oppositiongruppen zur „Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams“ (NLF). Ziel der NLF war es, den Rückzug der US-Militärberater zu erzwingen und eine Koalitionsregierung aller Gruppen Südvietnams zu bilden.

 

Zur Eskalation des 2. Vietnamkrieges

Der seit Januar 1961 amtierende US-Präsident John F. Kennedy stellte mit seiner antikommunistischen Rollback-Politik die Weichen zur Eskalation des Vietnamkrieges. Er ordnete verdeckte Militäroperationen gegen Nordvietnam an und erhöhte die Zahl der US-Militärberater in Südvietnam bis 1962 von 400 auf 16.575. Bereits 1962 flog die US-Air Force Luftangriffe gegen vietnamesische Dörfer in Südvietnam, die als Vietcong-Stützpunkte galten und setzte dabei auch Napalm ein. Für verdeckte Militäroperationen gegen Nordvietnam wurde die ARVN ausgerüstet und ausgebildet.

Unmittelbar vor dem Tonkin-Zwischenfall beschossen am 30.07.1964 südvietnamesische Schnellboote zwei Inseln vor der nordvietnamesischen Küste. Am Morgen des 31.07.1964 befand sich  der US-amerikanische Zerstörer USS Maddox auf Erkundungsfahrt im Golf von Tonkin, offensichtlich mit dem Ziel des Ausspähens nordvietnamesischer Radaranlagen und anderer Militäreinrichtungen im Zielgebiet südvietnamesischer Marineoperationen. Am Abend des 01.08.1964 näherte sich der Zerstörer einer der angegriffenen Inseln. An Bord befindliche NSA-Abhörexperten informierten den Kapitän der Maddox über „offensichtliche“ Vorbereitungen eines Angriffes der nordvietnamesischen Marine. Bei ihrer Fahrt entlang der vietnamesischen Küste traf die Maddox am Mittag des 02.08.1964 auf drei nordvietname-sische Schnellboote. Die Maddox befürchtete einen Torpedoangriff, entging einer möglichen Umkreisung durch Kursänderung aufs offene Meer und forderte Luftunterstützung vom in der Nähe befindlichen Flugzeugträger USS Ticonderoga an. Flugzeuge griffen die Schnellboote an, versenkten eins der Schnellboote, die beiden anderen wurden beschädigt.

Die Nachricht von der ersten Auseinandersetzung erreichte das „Weiße Haus“. Präsident Johnson lehnte zunächst eine militärische Vergeltung ausdrücklich ab und reagierte lediglich mit einer Protestnote an die DRV.

Anders reagierte das Verteidigungsministerium. Sie wies den Kapitän der Maddox an, zusammen mit einem zweiten Zerstörer, der USS Turner Joy, die abgebrochene Mission entlang der vietnamesischen Küste fortzusetzen. Unter dem Schutz beider Zerstörer wurden erneute Angriffe südvietnamesischer Kommandos gestartet und am 03.08.1964 auch erstmals Ziele auf dem Festland angegriffen. Am 04.08.1964 meldete die Turner Joy während eines typischen tropischen Monsunregens irrtümlich weitere Torpedoangriffe, zog diese Meldung aber zurück, als man den Irrtum erkannte. Was tat die NSA? Sie legte Präsident Johnson nur jene 10% des für den Zwischenfall relevanten Funkverkehrs vor, die einen Angriff nahe legten. Johnson ordnete noch am selben Abend Luftangriffe auf Nordvietnam an und begründete diese im US-Fernsehen als Vergeltungsakte für „wiederholte unprovozierte Gewaltakte“. Am 07.08.1964 beschloss der US-Kongress auf Grundlage des NSA-Materials die Tonkin-Resolution, die der US-Regierung  „alle notwendigen Maßnahmen, um irgendeinen bewaffneten Angriff auf US-Streitkräfte abzuwehren …“ erlaubte. Der Grund für die Legalisierung und Ausweitung eines uneingeschränkten Luftkrieges auf Nordvietnam war gefunden und die NSA bewies, dass sie zu jeder Lüge fähig und bereit war – und noch ist.

 

Zum Luftkrieg

Mit gezielten und angedrohten weiteren Luftschlägen erprobte die US-Regierung, wie sich 1970 herausstellte, ein um 1960 entwickeltes Konzept der „Nötigungsdiplomatie“, das koordinierte Gewalt und Verhandlungsangebote kombinierte. Aber Hanoi reagierte anders als erwartet, rechnete nicht mehr mit dem Rückzug der USA nach dem Zusammenbruch des Regimes in Südvietnam, sondern mit einer Invasion der USA in ganz Vietnam und stellte sich darauf ein. So entsandte der Norden ab September 1964 nunmehr bewaffnete Kampftruppen über den Ho-Chi-Minh-Pfad nach Südvietnam, um die US-Truppen direkt zu bekämpfen. Am 01.11.1964 griff die NLF erstmals eine US-Militärbasis in Bien Hoa an.

Weiter zum Luftkrieg: Mit der Bombardierung von Militärstützpunkten und ökonomischen Zentren Nordvietnams und von der NLF beherrschter Gebiete Südvietnams sowie der Nachschublinien (Ho-Chi-Minh-Pfad) wollten die USA den Krieg für Nordvietnam unbezahlbar machen. Sogenannte Strafexpeditionen (Operation Flaming Dart, Operation Rolling Hunter) 1965 sollten Hanoi verhandlungsbereiter machen. Aber bei den Verhandlungen vom 13. bis 18. Mai 1965 gab der Norden sein Ziel nach einem unabhängigen und wiedervereinigten Vietnam nicht auf.

Der Luftkrieg nahm an Intensität und Härte zu. Ab 1965 begann unter Johnson das bisher historisch größte Programm chemischer Kriegsführung. Die mit Dioxin verunreinigten Herbizide (Agent Orange)  entlaubten den Dschungel, vernichteten Reisfelder und Menschen. Im Norden Vietnams wurden bis 1968 die Infrastruktur, militärische Einrichtungen und die Energieproduktion nahezu vollständig zerstört, ohne das strategische Ziel, die Infiltration in den Süden zu stoppen, zu erreichen. Erst 1971 wurde der Einsatz chemischer Kampfmittel gestoppt. Johnson hatte bereits am 31.03.1968 in einer Rede an die Nation bekannt gegeben, die Bombardements zu begrenzen und Nordvietnam Verhandlungen anzubieten. Ab Mai 1968 begannen in Paris erneut Verhandlungen, ohne dass beide Seiten von ihren Positionen abwichen. Vor dem Hintergrund der Präsidentschaftswahl stellte Johnson die Bombardierung des Nordens am 01.11.1968 ein.

Nixon gewann die US-Präsidentschaftswahl 1968 u. a. mit dem Versprechen, in Vietnam einen „Frieden mit Ehre“ auszuhandeln. Aber Nixon war und blieb erbitterter Antikommunist und versuchte mit einem unberechenbaren Vorgehen die nordvietnamesische Seite zu Kompromissen bei den Pariser Verhandlungen zu zwingen. Eine solche unberechenbare Aktion begann im Februar 1969, als er mit Duldung von Prinz Sihanouk Flächenbombardements auf Rückzugsgebiete der NLF und PAVN (Volksarmee Nordvietnams) im Osten Kambodschas befahl. Ein Ultimatum Nixons an Nordvietnam, bis zum 01.11.1969 seine Truppen aus Südvietnam ab zu ziehen, lehnte Hanoi ab. Als der US-freundliche Minister Lon Nol im März 1970 Prinz Sihanouk stürzte, nutzten  die US-Bodentruppen für eine Offensive gegen Grenzgebiete Kambodschas. Die NLF musste personelle Verluste und die Zerstörung von Waffenlagern hinnehmen, aber das Hauptquartier der NLF fanden die Amerikaner nicht. Anwachsende Proteste im US-Kongress zwangen Nixon, die Invasion Kambodschas im Juni 1970 zu beenden. Dagegen konnte die NLF während der Kambodscha-Invasion ihren Einfluss im Mekong-Delta wieder festigen und bis Mitte April 1971 auch in anderen Teilen Südvietnams wieder Fuß fassen.

Auch Hanoi blieb nicht inaktiv und bereitete einen Großangriff auf Südvietnam vor. Im März 1972 begann die Oster-Offensive der Nordvietnamesischen Volkarmee (PAVN). Mit 120.000 Soldaten überschritt die PAVN in drei Angriffskeilen die Grenzen zu Südvietnam, eroberte in wenigen Tagen die 5 nördlichen Provinzen und große Teile des zentralen Hochlandes. Für Nixon waren eine militärische Niederlage und der Verlust Südvietnams im Wahljahr 1972 unannehmbar. Er kündigte mit der Operation „Linebacker I“ die Verminung des Hafens Haiphong, eine Seeblockade Nordvietnams und erneute Flächenbombardements des Nordens als bisher schwerste Eskalation des Krieges an. Vor allem die Flächenbombardements unterbrachen die Nachschublinien der PAVN wirksam und versetzten die ARVN in die Lage, die PAVN zurück zu schlagen.

Die damals inkonsequente Haltung der Sowjetunion und insbesondere Chinas machten Hanoi deutlich, dass Kompromisse mit den USA unvermeidbar waren. Der nordvietname-sische Verhandlungsführer Le Duc Tho erkannte, dass man den USA entgegen kommen musste, ohne Gesichtsverlust aus dem Krieg herauszukommen. So stimmte er im Herbst 1972 einem  Waffenstillstand zu, wenn die USA ihre Angriffe einstellen und in 60 Tagen ihre Truppen aus Südvietnam abziehen.                                                                                                                

Kissinger erklärte am 25. Oktober 1972: „Wir glauben, der Frieden steht vor der Tür“. Diese Äußerung Kissingers begünstigte Nixons erneuten hohen Wahlsieg im November 1972. Aber was waren den USA Zusagen wert: Um eine Missachtung des Waffenstillstands zu verhindern, befahl Nixon am 13.12.1972 die Operation „Linebacker II“, bei der die US-Luftwaffe vom 18. bis 29.12.1972 pausenlos 3.500 Luftangriffe flog und dabei einige Stadtteile Hanois und Haiphongs zerstörte.

Am 27.01.1973 wurde schließlich das Pariser Abkommen unterzeichnet. Die USA stellten das Abkommen als den von Nixon fünf Jahre zuvor versprochenen „ehrenvollen Frieden“ dar.                                                                               

 

Deutsche Positionen in WEST und OST

1. Der Regierende Bürgermeister von Westberlin, Klaus Schütz (SPD),  antwortete auf  die Studentenproteste gegen den von den USA ausgeweiteten 2. Vietnamkrieg 1968:  „Wir lassen nicht zu, dass den Amerikanern hier unwidersprochen auf die Stiefel gespuckt wird.“ Und weiter drohte er in einem Auftritt am 11. März 1968 vor dem Bundestag:  Es werde mit Entschiedenheit gegen all jene vorgegangen werden, „die den Amerikanern … die Schuld an dem Krieg, seiner Entstehung wie seiner Entwicklung, vorwerfen.“

2. Vom Vietnam-Krieg profitierten ab 1965 auch bundesdeutsche Konzerne. Den größten Anteil am Vietnam-Geschäft über die USA hatten die Stahl- und die chemische Industrie – bei letzterer insbesondere die Nachfolgeunternehmen der IG Farben – die Bayer-AG, BASF und die Farbwerke Hoechst. Seit Mai 1966 gelangten u.a. hochwirksame Pflanzenvernichtungsmittel aus der Bayer-Produktion nach Südvietnam.

3. Im Dezember 1971 verurteilte die DDR-Regierung die Wiederaufnahme des Luftkrieges gegen dicht besiedelte Gebiete Nordvietnams trotz in Paris andauernder Friedensverhandlungen. Am 11. Mai 1972 erklärte sie: „ Die vom Präsidenten der USA, Nixon, befohlene Blockade und Verminung der Häfen der DRV sowie die Ausdehnung des Luftterrors der USA auf das gesamte Territorium der DRV stellen einen weiteren flagranten Bruch des Völkerrechts dar. Die Rechtsnormen der internationalen Seefahrt wie die Genfer Konvention von 1948, denen auch die USA beigetreten sind, werden auf das gröblichste verletzt.“

 4. Im Rahmen der sich entwickelnden Handelsbeziehungen DDR/DRV lieferte die DDR in großem Umfang Güter für die Wirtschaft und den Bevölkerungsbedarf. Von entscheidender Bedeutung für den reibungslosen Transport dieser Güter und den Solidaritätsgütern war die Einrichtung der von der Deutschen Seereederei (DSR) der DDR betriebenen Frachtschifffahrtslinie Rostock-Haiphong, die Anfang Februar 1971 eröffnet wurde. Im April 1972 wurde das MS „Halberstadt“, die an einem Liegeplatz in Haiphong lag, Zeuge des barbarischen US-Luftterrors. In der Nacht zum 16. April erlebte die Besatzung  der „Halberstadt“ mehrere Angriffswellen von B-52 Bombern auf Haiphong, ein ganzes Stadtviertel lag in Trümmern. In den Morgenstunden flogen Jagdbomber mehrere Angriffe gegen den Hafen Haiphong. Mit der 2. Angriffswelle wurde das MS „Halberstadt“ von einer Luft-Boden-Rakete getroffen. Es grenzt an ein Wunder, dass Besatzungsmitglieder nicht zu Schaden kamen.

 

Unsere Webseite verwendet für die optimale Funktion Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.