29.07.2025

Unbekannte Aspekte der deutsch–russischen Beziehungen
- Teil 4 -

 

Der Vertrag und geheimes Zusatzprotokoll - bei Lichte besehen

 

Der Nichtangriffsvertrag versetzte den Westen in einen einmaligen Schockzustand, man sprach in allen Medien von Verrat.

Dabei hatte die UdSSR keinen verraten oder Verträge gebrochen. Auch inhaltlich gab dieser Vertrag nichts her, was derlei Aufregungen rechtfertigen konnte. Es war faktisch ein Neutralitätsabkommen, den üblichen Verträgen jener Art angepasst und sogar denen der Westalliierten mit den Nazis von 1938 ähnlich.
Dass Hitler dadurch seinen Krieg beginnen konnte, wurde bis 1989 selbst von bundesdeutschen Historikern als reine Spekulation betrachtet.
Als wie auch immer interpretierter Kriegsgrund konnte der nicht herhalten.

Dieser Vertrag gehört aber zu den sensationellen Überraschungen, die die UdSSR und Russland zu ihrer Verteidigung den Westen bereitet hatten.
In diesem Falle war es Niederlage und Misserfolg gleichzeitig: Die jahrelangen Bemühungen, Deutschland auf die Sowjetunion zu hetzen, waren in einer für Moskau sehr ungünstigen Situation vorerst auf unabsehbare Zeit gescheitert!
Der Traum von einem antisowjetischen Krieg mit westlicher Beobachterrolle war ausgeträumt.
Zudem war der Westen durch seine eigene Politik nun selbst ins Fadenkreuz der Nazis geraten. Als die Nazis die UdSSR dann doch überfielen, waren sie schon von denen unterworfen oder führten einen Abwehrkampf, für den sie die Sowjetunion nun selbst brauchten.
Die Nazis hingegen werteten das sofort als propagandistischen Erfolg und suggerierten, dass die Sowjets nun mit ihnen verbündet wären. Damit sollten der Westen eingeschüchtert und von einem künftigen militärischen Eingreifen gegen Deutschland angehalten werden. Diese Rechnung ist teilweise aufgegangen.
Andererseits fielen die verantwortlichen Politiker des Westens nicht darauf herein. Die UdSSR wurde als künftiger Bündnispartner behandelt, nach dem sowjetischen Einmarsch in Ostpolen erfolgte keine Kriegserklärung. Die Besetzung Ostpolens wurde sogar von Premier Churchill nicht nur gebilligt, sondern als gerechtfertigt bezeichnet.

Zudem sollten alle Antifaschisten, vor allem die Kommunisten in ganz Europa irritiert werden. Das ist weitgehend gelungen! Dennoch wurden deutsche Kommunisten, immerhin einer von Moskau geführten Partei, weiter verfolgt, eingekerkert und ermordet. Frankreich reagierte aus Frust mit dem Verbot der Partei und Verfolgung von Kommunisten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nichts im gesamten Vertragswerk auf ein gemeinsames Bündnis hinweist. Auch in der Praxis kam es zu keinen gemeinsamen Aktionen. Auch die sogenannte „Siegesparade“ in Brest – Litowsk hat es nicht gegeben, sondern nur einen am 21. September vereinbarten und dokumentierten „Vorbei – bzw. Ausmarsch der deutschen Truppen“, wovon im Wortlaut jener Wochenschau die Rede ist.
Der Ordnung halber muss man allerdings noch das Militärabkommen vom 22. September 1939 erwähnen. Das regelte die Entflechtung sowjetischer und deutscher Truppen, nachdem es bei Lwow zwischen beiden zu Kämpfen gekommen war. Hier wurde ein gemeinsames Handeln gegen versprengte polnischc Truppen eingeräumt, die abziehende oder vorrückende Truppen bekämpften. Das fand aber nie Anwendung!

Die Bündnisversion bleibt eine Erfindung der Nazis, die bis heute unbewiesen in Medien und Veröffentlichungen geistert.
Da der Anschluss des Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939 letztlich nicht für eine angebliche Kriegsschuld der Sowjets herhalten kann, konzentrierte man sich auf das Geheime Zusatzprotokoll, in dem angeblich Osteuropa zwischen den Sowjets und den Nazis aufgeteilt worden wäre.
Hierzu kann man der UdSSR vorwerfen, dieses Papier über Jahrzehnte verschwiegen, ignoriert und abgestritten zu haben, was antisowjetischen Propagandisten aller Couleur unendlichen Raum für Verleumdungen und Spekulationen einräumen konnte. Moskau hätte besser daran getan, sich zum Geheimprotokoll zu bekennen, es zu publizieren und zu erläutern. Diese Verweigerung der Sowjets war unsinnig, wirkungslos und letztlich kontraproduktiv.
Hierzu gibt es noch verschwiegene Fakten: Am Tage der Unterzeichnung hat ein deutscher Botschaftsangestellter heimlich die USA über das Protokoll informiert. Man kann davon ausgehen, dass der Westen im Wesentlichen darüber Bescheid wusste, auch die Polen. Doch die kannten die sowjetischen Wünsche und glaubten sich sicher.

1940 wurden die baltischen Regierungschefs, die mit ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber Moskau lavierten und mit den Nazis liebäugelten, mit dem Inhalt des Geheimprotokolls bekanntgemacht.
In den nächsten zwei Jahren waren hierzu die wesentlichen Punkte bekannt. Im sowjetisch - polnischen Bündnisvertrag vom Juli 1941 gab die sowjetische Seite jene Gebietsabsprachen bekannt und erklärte sie für nichtig.
Als in den 1990er Jahren jedem dieses Protokoll vorlag, war die Empörung groß: Von Landschacher, imperialen Vorgehen und Verletzung von Prinzipien sozialistischer Außenpolitik war die Rede. Jene Moralisten mit anbiedernder Heuchelei und ahistorische Betrachtungsweise vergessen, dass sich die UdSSR in einer tödlichen Bedrohung von West und Ost befand. Sie nutzte daher alle Möglichkeiten, die ihr das bürgerliche Völkerrecht bot und war hierbei außerordentlich erfolgreich: Es war ein genialer Schachzug der jungen Sowjetdiplomatie, der der UdSSR wesentlich mehr Vorteile verschaffte als den Nazis.
Obwohl die Kriegsvorbereitungen unübersehbar waren, waren die sowjetischen Forderungen auf ein von den Briten favorisiertes neues München ausgerichtet. Von Krieg war nicht die Rede, sondern nur von „territorial-politischen Umgestaltung“, die Zerschlagung Polens wurde nicht postuliert, für Polen „eine „weitere politischen Entwicklung“ vorgesehen.

Beide Seiten sprachen von Interessensphären, ein im Völkerrecht und der politischen Praxis durchaus gängiger und auch von den Westmächten damals wie heute realisierten Begriff. Zudem ist eine Interessensphäre auch keine Aufteilung, sondern allein eine politische Willenserklärung. Aufteilen kann man auch nur, was zur Verfügung steht.

Bessarabien (Moldawien), seit 1918 von Rumänien annektiert, von Moskau ständig zurückgefordert, wurde nicht als Interessensphäre bezeichnet, sondern als Interesse. Dadurch konnte die UdSSR 1940 mit Einverständnis der Rumänen dies Gebiete zurückholen. Von Aggression und Okkupation war hier nie die Rede.
Interessensphäre bedeutet, dass sich andere Vertragspartner dort in keiner Weise einmischen. Daher kamen die baltischen Staaten (ab 28. August auch Litauen) in die sowjetische Interessensphäre. „Hierbei wird das Interesse Litauens am Wilnaer Gebiet beiderseits anerkannt“. Im Oktober 1939 besetzten die Litauer mit sowjetischer Erlaubnis das bisher polnische Wilna (Vilnius). Damit waren sie an den territorialen Veränderungen mitbeteiligt, was bis heute totgeschwiegen wird.
Obwohl die Nazis das annahmen, hatte die UdSSR 1939 nicht die Absicht, diese Länder sich einzuverleiben, wie auch neuere Forschungen bestätigen.
Erst die innenpolitische Entwicklung und die Aktivitäten der baltischen Kommunisten veränderten im Sommer 1940 die Lage:
Während des sowjetischen Finnland – Feldzuges versuchten die baltischen Führungen, sich aus den Bündnisverpflichtungen mit der UdSSR zurückzuziehen. Nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Mai 1940 rechnete Moskau mit einem baldigen Überfall und wollte ihre Truppen im Baltikum verstärken. Da die Balten lavierten, forderte Moskau nicht nur eine Truppenverstärkung, sondern auch die Einsetzung einer bündnisgerechten Regierung. Hierzu wurden sie von breiten Massen unterstützt. Dem kamen die Balten nach und erlaubten weitere sowjetische Truppenstationierungen. Das wird heute versucht, grundlos als Aggression und Okkupation zu bezeichnen.

Die Balten sollten mit der UdSSR verbündet und souverän bleiben, daher wurden 1939 mit ihnen Bündnisverträge abgeschlossen. Die Bündnispolitik gegenüber den Balten zeigt auch, dass die UdSSR mit einem Angriff der Deutschen an diesem Abschnitt rechnete, entsprechend dort in der Haupteinfallsrichtung Truppen stationierte und auch deshalb die Bündnisbehauptung der Nazis und ihrer heutigen Rezipienten gegenstandslos war und ist.
Eine andere Lage bestand für die westbelorussische und westukrainischen Gebiete Ostpolens.

Offiziell war seit 1923 bekannt, dass die UdSSR Ansprüche auf dies Gebiete erhoben hatte. Es war völlig klar, dass im Falle eines „Neuen München“ hier Forderungen gestellt werden würden. Das war auch im Westen bekannt und der schwieg dazu.
Im Falle einer deutschen Aggression und des Zerfalls der polnischen Staatlichkeit war die Besetzung dieser Territorien eine logische Folge. Hier ging es nicht nur um den Schutz der Bevölkerung, sondern auch um die nationale Vereinigung des belorussischen und ukrainischen Volkes. Daher wird der 17. September in Belarus bis heute als Tag der nationalen Vereinigung gefeiert.

Moskau hätte aber, um Moralisten zu genügen, auch darauf verzichten können, die Bevölkerung jener Gebiete unter ihren Schutz zu nehmen.
Das hätte man ihr später berechtigterweise zum Vorwurf machen können und sich womöglich so angehört: „Moskau hatte es trotz Forderungen auch aus den eigenen Reihen gegenüber den Deutschen unterlassen, sich der westbelorussischen und westukrainischen Bevölkerung anzunehmen, von denen sie wusste, dass sie wahrscheinlich in allernächster Zeit ebenfalls der nationalsozialistischen Eroberung anheim fallen würde. Das betrachtete die deutsche Führung als einen bewussten Verzicht und somit Freibrief für die Vernichtung prosowjetischer Bevölkerungsgruppen. Die damit einhergehende faktische Auslieferung der jüdischen Bevölkerung Ostpolens (etwa zwei Millionen) wertete Berlin als stillschweigende Zustimmung zur Judenpolitik des Dritten Reiches. Den deutschen Vernichtungsmaßnahmen sah Moskau dann tatenlos zu. Damit machte sich Moskau mitschuldig am Tod von Millionen Menschen....“
Über den Zeitpunkt des sowjetischen Einmarsches gibt es die verschiedensten Spekulationen. Es ist der absolute Schwachpunkt der antisowjetischen Legende über den angeblichen Hitler- Stalin – Pakt: Moskau hätte sich so spät zum Eingreifen entschlossen, um nicht mit den Deutschen als Aggressor dazustehen. Doch das wurde der UdSSR ohnehin angedichtet.

Doch hierzu gibt es eine Reihe dokumentierter Fakten, die ein anderes Bild entstehen lassen und für die Sowjetunion sprechen:
Die Nazis waren an einem gleichzeitigen Einmarsch in Polen interessiert und drängten Moskau. Schaut man sich den diplomatischen Verkehr an, so entsteht der Eindruck, dass die UdSSR die Deutschen hingehalten hatte und scheinbar auf etwas Wesentliches wartete. Zugleich wurden in der UdSSR militärökonomische und militärpolitische Maßnahmen getroffen, die auf einen großen Krieg und nicht nur auf eine begrenzte Militäraktion hinwiesen. Moskau wartete darauf, wie sich der Westen verhalten würde. So kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich bei einem aktiven Westeinsatz gegen Deutschland die Sowjets dem angeschlossen hätten.
Der kam aber nicht: Zwar hatten die Briten/ Franzosen Deutschland am 3. September überraschend den Krieg erklärt, doch keine Offensive geführt, wozu sich Frankreich im Mai vertraglich verpflichtet hatte.
Schlimmer noch: Am 10. September trafen sich die britischen/ französischen Staatsführer in Abbeville (Frankreich). Dort wurde beschlossen, Polen nicht zu helfen. Damit wurde Polen verraten. Es war die Krönung der Appeasement - Politik. Die polnische Regierung wie die Weltöffentlichkeit wurden darüber nicht informiert. Allerdings wurde die Sowjetregierung heimlich durch französische Quellen innerhalb der nächsten zwei Tage darüber in Kenntnis gesetzt.

Aber auch die Deutschen haben das mitbekommen und drangen nun auch Gebiete vor, die den Sowjets als Einflusssphäre zugeordnet worden waren. Am 12. September riefen die ukrainischen Nationalisten zu einem Aufstand auf und griffen die sich zurückziehenden Polen an.
Einen Tag später gingen die ersten und völlig überstürzten Befehle an die Rote Armee. Zum direkten Eingreifen waren die Sowjets zu jenem Zeitpunkt noch nicht vorbereitet. Sie wollten später eingreifen, auf die Ergebnisse der Westoffensive warten und riskierten hierbei ein weites Vordringen der Nazis.
Dann wollte Moskau die Situation der polnischen Staatsführung abwarten. Die war geflohen und bereitete sich für den 17. September auf ihren Übertritt nach Rumänien vor. Damit war der Vertragspartner des Nichtangriffsvertrages von 1932 nicht mehr vorhanden. Die UdSSR hatte diesen Vertrag also nicht gebrochen. Demzufolge verbot die polnische Militärführung aktiven militärischen Widerstand und es erfolgte keine polnische Kriegserklärung.

Angesichts des deutschen Vormarsches, der schon seit einer Woche weit in ostslawische Territorien Ostpolens reichte, wurde dem polnischen Botschafter übermittelt, dass sich die UdSSR nicht gleichgültig gegenüber dem verhalten könne, „dass die ukrainischen und belorussischen Blutsbrüder die auf dem Territorium Polens leben, ihrem Schicksal überlassen werden und schutzlos bleiben...“ Daher werde die Rote Armee die Grenze überschreiten „und das Leben und Eigentum der Bevölkerung der Westukraine und Westbelorusslands unter ihrem Schutz zustellen.“
Zugleich wurde der Friedensvertrag von 1921 und der Nichtangriffsvertrag aufgekündigt.

Am 17. September überschritt die Rote Armee überall die bisherige sowjetisch – polnische Grenze.

Die Polen erklärten die UdSSR als Aggressor. Tatsächlich traf dieser Begriff nach dem Protokoll über die Aggressor-Definition vom Juli 1933, den Moskau initiiert und unterschrieben hatte, formal durchaus zu. Diese Definition sah aber kein Verbot für militärische Handlungen im Falle eines Einmarsches zur Sicherung der Lebensgrundlagen von unterdrückten Teilen des eigenen Volkes in einem Nachbarstaat vor.

Das sollte auch das Vorgehen Russland gegen die Ukraine rechtfertigen.

 

 

Dr. Holger Michael

 

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