24.07.2025
Unbekannte Aspekte der deutsch–russischen Beziehungen
- Teil 3 -
Der Weg zum Nichtangriffsvertrag
Im November 1938 war der rumänische König in Paris wegen Hilfe gegen die Deutschen vorstellig. Dort sagte man ihm eindeutig, dass in Osteuropa nun die Deutschen das Sagen hätten. Rumänien könnte eine Sicherheitsgarantie für seine Unabhängigkeit, nicht aber für seine territoriale Integrität erhalten. Tatsächlich gab der Westen im April 1939 Rumänien eine derartige Sicherheitsgarantie, die aber nichts wert war.
Jene Sicherheitsgarantien hatten einen rein propagandistischen Effekt, täuschten Aktivität vor, schienen die eigene Bevölkerung zu beruhigen und hielten das Vertrauen an die Westmächte und ihren politischen Einfluss in Osteuropa am Leben.
Allein der Begriff Sicherheitsgarantie, und das durch Großmächte gegeben, suggeriert Autorität, Solidität, Effektivität und einen höheren Wert als direkte militärische Bündnisse. Praktisch hatten sie keinen Wert und verhießen keinen wirksamen Schutz. In der Praxis waren sie weitläufig interpretierbar und beinhalteten keine konkreten Verpflichtungen.
Damit hatten sich Briten und Franzosen von jeglicher Hilfeleistung im Osten verabschiedet und diese Länder den Deutschen überlassen. Diese Tatsache ist heute kaum bekannt.
Zudem hatten Paris und London sich Hitlerdeutschland gegenüber im Herbst 1939 zum Nichtangriff verpflichtet. Die Nazis hatten also freie Bahn!
Daher konnten die Nazis im März 1939 ohne die geringsten Bedenken das Münchener Abkommen brechen, die restliche ČSR zerschlagen und das Memel – Land annektieren.
Dennoch brachte die Zerschlagung der ČSR Unruhe, allerdings keine Kampfbereitschaft, in den Westen. Um die Bevölkerung zu beruhigen, wurden nun Verhandlungsangebote zu einem antideutschen Bündnis nach Moskau gesandt und den Polen, die sich nun den deutschen Forderungen widersetzte, Sicherheitsgarantien gegeben.
Für Polen, die durch ihre enge Zusammenarbeit und ihr Zusammengehen mit den Nazis bei der Zerschlagung und Besetzung der ČSR 1938 im Westen an Sympathie verloren hatte, war das ein außenpolitischer Erfolg.
Die Sowjetführung hingegen, die seit 20 Jahren die Westmächte als Hauptgegner hatte, blickte hier wieder weiter. Auf dem XVIII. KPdSU-Parteitag im März 1939 wurde verkündet, dass die UdSSR nicht für andere die Kastanien aus dem Feuer holen würde. Die Sowjets würden sich nicht in einen Konflikt europäischer Mächte untereinander einmischen, sie würden draußen bleiben. Der spätere Nichtangriffsvertrag konnte also keine Überraschung sein, wie bis heute behauptet wird.
Doch gerade das wollte der Westen nicht; die UdSSR sollte in ein diffuses Bündnis in Osteuropa gebunden, ihr die Hauptlast zugedacht werden und so bei einem deutschen Angriff zur direkten Konfrontation mit den Nazis gezwungen werden.
Hier wollten die Westeuropäer allerdings nicht direkt beteiligt werden.
Doch dem widersetzten sich die Polen, die kein Bündnis mit Moskau wollten. Sowjetische Truppen sollten nicht nach Polen kommen. Sollte ganz Polen durch die Nazis besetzt werden, so könnte anschließend die Rote Armee eingreifen, ohne polnisches Territorium zu betreten. Damit hätte der Westen sein Ziel erreicht!
Da die Polen bis zum Schluss bei ihrer Ablehnung blieben, waren die westlichen Pläne zur Einbeziehung der UdSSR in ein selbstmörderisches oder zumindest fragwürdiges Bündnissystem eigentlich praktisch vom Tisch.
Die UdSSR, die den Braten gerochen hatte, verhandelte dennoch weiter aus drei Gründen: Der Westen nutzte propagandistisch die diplomatischen Aktivitäten, um Friedenswille und Verhandlungsbereitschaft zu demonstrieren. Moskau musste darauf eingehen, solange noch eine geringe Chance zu einem Bündnis bestand.
Dann war Polen kampfbereit, was Moskau immer wieder in den diplomatischen Verkehr einbrachte und Hoffnungen auf ein Bündnis nährte.
Zudem gab es eine ernste Gefahr für die UdSSR im Fernen Osten. Japan begann im Mai einen Angriff auf mongolisch–sowjetische Streitkräfte und konnte erst im August besiegt werden.
Moskau musste also alle Möglichkeiten prüfen und nutzen, um sich aus einem Zweifrontenkrieg herauszuhalten und nicht in die Falle der Westmächte zu tappen.
Am 17. April 1939 schlug Moskau dem Westen ein ausgewogenes Militärbündnisprojekt vor, das nur die UdSSR, Großbritannien und Frankreich betroffen hätte. Polen wäre nicht einbegriffen, doch durch ihre Sicherheitsgarantien, verstärkt durch ein wirksames Bündnis geschützt gewesen. Doch Polen lehnte wieder ab. Für den Westen war das ein Vorwand, auf das Projekt nicht einzugehen.
Selbst wenn die Polen sich weiter verweigert hätten, wäre bei einem effektiven Kampfeinsatz des Westens gegen die Nazis für Polen eine günstige Lage entstanden, die möglicherweise eine direkte sowjetische Beteiligung überflüssig machte. Daher war Moskau in erster Linie an der Realisierung ihres Projektes interessiert gewesen. Doch der Westen äußerte sich nicht.
Nach fast zwei Monaten ergebnislosen diplomatische Bemühungen warf am 29. Juni Moskau dem Westen in einem Prawda – Artikel vor, nicht an einem Bündnis interessiert zu sein und nicht kämpfen zu wollen. Damit wurde lediglich erreicht, dass der Westen nun direkte Verhandlungen ankündigte, die allerdings erst zwei Monate später stattfinden sollten.
Die Hoffnung auf ein Bündnis schwand immer mehr, doch Moskau gab nicht auf.
Der Westen hatte allerdings schon seine Entscheidung getroffen. Wie der polnische Historiker Lech Wyszczelski herausgefunden hatte, wurden sich Paris und London sich schon am 4. Mai darin einig, Polen nicht zu unterstützen, es aber hinzuhalten.
So schloss Paris im gleichen Monat mit Polen eine Militärkonvention ab, nachdem Frankreich und somit der Westen 15 Tage nach einer deutschen Aggression auf Polen im Westen eine Großoffensive gegen die Nazis beginnen sollte. Die Polen fühlten sich erleichtert und sicher.
Die Nazis waren offenbar über die kapitulantenhafte Haltung der Westmächte ausreichend informiert.
Am 23. Mai hatte Hitler auf einer Kommandeurstagung erklärt, den Krieg auch zu beginnen, wenn sich die UdSSR und die Westmächte gegen ihn verbünden würden: „Grundsatz: Auseinandersetzung mit Polen – beginnend mit Angriff gegen Polen – ist nur dann von Erfolg, wenn der Westen aus dem Spiel bleibt. Ist das nicht möglich, dann ist es besser, den Westen anzufallen und dabei Polen zugleich zu erledigen... Ein Bündnis Frankreich – England – Russland gegen Deutschland – Italien – Japan würde mich veranlassen, mit einigen vernichtenden Schlägen England und Frankreich anzugreifen.“
Hitler wollte unbedingt den Krieg, die UdSSR hatte daran keinen Anteil.
Es war nicht allein Hitlers Wunsch, noch zu seinen aktiven Lebzeiten den Krieg zu führen, sondern vor allem wirtschaftliche Gründe:
Die deutsche Kriegswirtschaft, vor allem auf Pump finanziert, kam an seine Grenzen. Die Reserven Deutschlands reichten nur noch für ein Jahr. Eine Wirtschaftskrise stand bevor, die das Nazisystem hätte grundsätzlich erschüttern können.
Der Krieg musste also bald kommen!
Hitlers Plan wäre so kaum durchführbar gewesen und und hätte Deutschland sofort in einen Zweifrontenkrieg geführt. Den wollte er unbedingt vermeiden.
Einem Bündnis des Westens mit der UdSSR, die im Falle einer deutschen Aggression gegen Polen nicht untätig geblieben wäre, war Deutschland noch nicht gewachsen. Angesichts des regen diplomatischen Verkehrs des Westens mit Moskau war man sich in Berlin nicht mehr sicher, ob auch dieses Mal der Westen Deutschland gewähren ließ.
So begannen Geheimverhandlungen mit den Briten, die unterhalb der Regierungsebene bis in den Herbst geführt wurden. Sie brachten den Nazis keinen Erfolg, obwohl die Briten zu weitgehenden Zugeständnissen bereit waren. Zugleich signalisierten sie den Nazis, dass sie mit dem Westen rechnen müssten.
Das war in Moskau bekannt.
Es schien nun angeraten zu sein, die ungünstigere Option ins Auge zu fassen, die schon auf dem letzten Parteitag in aller Munde war: Wir bleiben bei einem Krieg draußen.
Das hieß, mit den Deutschen einen Nichtangriffsvertrag zu schließen.
Heute wird behauptet, dass sich Moskau aus imperialen Gründen von vornherein mit den Deutschen einigen wollte und die Option eines Bündnisses mit dem Westen ablehnte. Der Westen hätte sich geweigert, die UdSSR dafür mit Gebietszuwachs zu honorieren. Hitler hingegen wäre dazu bereit und das hätte den Ausschlag gegeben.
Falsch: Man brauchte die Sowjets nicht zu honorieren, denn sie wollte seit Jahren ein Bündnis mit dem Westen. Zu keiner Zeit gab es in diesen Verhandlungen sowjetische Gebietsansprüche.
Im Verlauf der nächsten Jahre waren es hingegen die Westmächte, die alle sowjetischen Gebietszuwächse von 1939/40 auf den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam bestätigten.
Eine „deutsche Option“, eine andere Entscheidungsmöglichkeit für die UdSSR, gab es bis zum Sommer 1939 nicht.
Eine auf vielen Gebieten erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau wie in der Weimarer Republik gab es nicht mehr.
Dennoch wurde unter Hitler die Verlängerung des Berliner Neutralitätsvertrages
von 1926 im Mai 1933 ratifiziert und war fortan gültig.
Hier gab es also rein formal ein Vertragswerk, an dem man anknüpfen konnte. Das wird heute verschwiegen, auch, dass das Nichtangriffsabkommen de facto einem Neutralitätsabkommen gleichkam. Das also der UdSSR anzulasten, entbehrt jeglicher Grundlage. Ein derartiges Abkommen kann auch keinen Krieg auslösen, wie der UdSSR angelastet wird, aber für die abschließenden Vertragspartner verhindern, was die Sowjets wollten.
Ferner wird behauptet, dass der Nichtangriffsvertrag von der UdSSR initiiert worden war. Außenminister Ribbentrop hat sich während des Internationalen Kriegsverbrecherprozesses in Nürnberg im März und April 1946 eindeutig zur deutschen Initiative bekannt. Hitler und er waren hierbei die treibenden Kräfte.
Selbst wenn dem so gewesen sein sollte, hätte man das der Sowjetunion nicht anlasten können. Einen Krieg mit seinem Land zu verhindern, kann keinem zum Vorwurf gemacht werden.
Am 30. Mai und 17. Juni gab es zwei offizielle Gespräche mit dem sowjetischen Vertreter über die Möglichkeiten der Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen. Sie gingen von deutscher Seite aus, doch von sowjetischer Seite erfolgte daraufhin keine Reaktion. Wenn die Sowjetunion die deutsche Option bevorzugt hätte, so wäre man jetzt schnell zu Stuhle gekommen.
Am 28. Juni kam die eigentliche offizielle Initiative. Botschafter von Schulenburg machte Außenminister Molotow in Moskau den Vorschlag eines Nichtangriffsvertrages.
Molotow wich einer konkreten Antwort aus. Am 26. Juli wandte sich die deutsche Regierung wieder an die sowjetische Botschaft. Wiederum erfolgte keine Reaktion aus Moskau.
Nun legte Berlin zu. Am 3. August bat Außenminister Ribbentrop den sowjetischen Geschäftsträger zu sich. Ribbentrop versprach ein aktualisiertes Neutralitätsabkommen. Moskau positionierte sich dazu nicht.
Einen Tag später meldete von Schulenburg nach Berlin, daß in Moskau alles für ein Bündnis mit den Franzosen und Briten spräche. Jetzt wurde man in Berlin unruhig, so man am 10. August vom sowjetischen Vertreter eine unverzügliche Stellungnahme aus Moskau verlangte.
Dennoch wartete Moskau immer noch auf die Briten und Franzosen, die sich erst am 5. August in Bewegung setzten. Jene trafen dann endlich am 10. August ein und verhandelten ohne Kompetenz und Vollmacht, so dass die sowjetische Seite sich zusätzlich nicht als gleichberechtigt, sondern auch noch hintergangen und hingehalten fühlte.
In dieser Situation überreichte am 17. August der deutsche Botschafter bei Außenminister Molotow eine Note seiner Regierung zur Bereitschaft des Abschlusses eines Nichtangriffsvertrages.
Damit war für die Sowjetunion eine neue Lage entstanden, die heute völlig ausgeblendet wird: Die Ablehnung eines Nichtangriffsabkommens kann die ablehnende Seite völkerrechtlich ins Unrecht setzen und die Gegenseite der Kriegsvorbereitungen bezichtigen und, was noch wichtiger ist, einen eigenen Angriff als berechtigte Gegenmaßnahme rechtfertigen.
Die UdSSR stand nun unter Zugzwang, auf den sie aber vorbereitet war. Am gleichen Tage erklärte sich Moskau bereit, den deutschen Außenminister am 26. oder 27. August zu empfangen. Moskau wollte also auch hier noch mindestens eine Woche abwarten und mit den Westmächten zu irgend einem Ergebnis kommen, was auch wieder für die Bevorzugung der westlichen Option spricht. Doch mit der Briten und Franzosen, die auch nicht legitimiert waren, kam man nicht weiter. Die wichen einem Bündnisvertrag aus, über den noch Monate verhandelt werden sollte.
Damit waren für die sowjetische Seite alle Möglichkeiten ausgereizt.
Die westliche Seite hatte nichts anzubieten, noch nicht einmal die Möglichkeit, durch ein Bündnis dem sich abzeichnenden Krieg entgegenzuwirken.
Die erfolglosen Verhandlungen mit den westlichen Vertretern wurden daher abgebrochen.
Eine westliche Option, eine mögliche reale Wahl, eine Alternative zur deutschen, gab es für die UdSSR daher überhaupt nicht!
Schlimmer noch: Die UdSSR hatte keine andere Wahl!
Die UdSSR betonte jedoch hierbei, dass sie weiterhin an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Westmächten interessiert wäre und Verhandlungen später fortgeführt werden könnten, signalisierte damit, dass sie zwar nicht jetzt, aber in Zukunft über das gleiche Thema diskutieren könnte. Diese verlesene Erklärung ist vom Westen völlig missverstanden: Die Sowjets hatten sich einem Bündnis mit dem Westen nicht verweigert, sondern vorerst verschoben. Das ist insofern auch wichtig, da dadurch die Westmächte später fast reibungslos die Beziehungen mit der UdSSR intensivieren konnten.
Hier gab es also keine Entscheidung gegen den Westen und für die Nazis, denn der Nichtangriffsvertrag war kein Bündnisvertrag.
Am 21. August ließ Hitler persönlich in einer Eilbotschaft in Moskau anfragen, ob Ribbentrop schon in den nächsten Tagen empfangen werden könnte. Außenminister Ribbentrop wurde am 23. August empfangen und der Vertrag unterzeichnet.
Dr. Holger Michael
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