18.07.2025
Unbekannte Aspekte der deutsch–russischen Beziehungen
- Teil 1 -
Von den Anfängen bis 1932
Außenminister Johann Wadephul offenbarte hinsichtlich der deutsch – russischen Beziehungen für sein Amt erhebliche Inkompetenz: Russland würde immer Deutschlands Feind bleiben.
Damit wird deutsche Geschichte verleugnet:
Über 1000 Jahre waren die Beziehungen zu Russland im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern gut. Man war sogar miteinander verbündet, Russen bewunderten die Deutschen und jene waren von den Russen fasziniert. Russland war das einzige Land, wo deutsche Siedler massenhaft einwandern sollten und konnten, viele deutsche Prinzessinnen wurden russische Fürstinnen und Zarinnen, die bekannteste war Katharina die Große. Die deutsche Sprache wurde Pflichtfach bis heute.
Sie teilten gemeinsam Polen auf und russische Truppen wurden im Kampf gegen Napoleon von den Deutschen herzlich begrüßt.
Nach dem Sieg über die Franzosen veränderte sich allerdings das deutsche Russland – Bild. Die europäischen Monarchen schlossen sich mit Russland zur reaktionären Heiligen Allianz zusammen, Russland galt als der „Gendarm Europas“. Die Liberalen und die aufstrebende Arbeiterbewegung betrachteten Russland als politischen Feind. Hier verfestigte sich eine Haltung, die hundert Jahre später von der bürgerlichen Klasse missbraucht werden konnte.
Unter den Konservativen, vor allem unter Bismarck, blieben hingegen die Beziehungen zu Russland gut. St. Petersburg begünstigte die deutsche Reichseinigung. Nach dem Abgang Bismarcks und der Machtübernahme des letzten Kaisers kühlten sich die Beziehungen ab, die Herrscherhäuser, miteinander verwandt, blieben jedoch in engem Kontakt.
In den folgenden Jahrzehnten wurden die Beziehungen vor allem wegen des nassforsch - aggressiv agierenden Kaisers zunehmend getrübt, doch Streitigkeiten und territoriale Konflikte gab es nicht. Erst 1795 bestand mit Preußen und 1870 die erste Grenze mit dem neuen deutschen Reich. Hier existierte keine sogenannte „Erbfeindschaft“ wie zu den Franzosen.
Schrittweise näherte sich der Kaiser auch Österreich – Ungarn an, faktisch seinen einzigen Verbündeten, und damit dessen antirussischer Haltung. Wien konkurrierte mit den Russen auf den Balkan.
1914 ließ sich der Kaiser nicht nur in den antirussischen Konflikt der Österreicher hineinziehen, sondern befeuerte ihn zusätzlich. Hier war durch deutsche Schuld ein neuer, künstlicher und zudem völlig überflüssiger Konflikt entstanden, der später und sogar bis heute katastrophale Ausmaße annehmen sollte.
Diese außenpolitische Neuorientierung vollzog sich scheinbar überraschend schnell, wenn man bedenkt, dass noch 1913 alle europäischen Monarchen harmonisch in Berlin beieinandersaßen.
Die antirussische Kriegsbegeisterung wurde von den Konservativen, den Liberalen und Teilen der SPD mitgetragen. Das Kleinbürgertum, nach der Reichseinigung zumeist kaisertreu, hielt an seiner antirussischen Haltung fest. Das Junkertum, bislang Bewunderer zaristischer Herrschaftsmethoden und wirtschaftlich auf dem absteigenden Ast, glaubte nun, sich an den unendlichen östlichen Landmassen bereichern zu können. Das Großkapital lockten billige Arbeitskräfte und scheinbar unendliche Rohstoffressourcen, darunter Getreide. Das alles war weit günstiger als die mehr prestigeträchtigen, weit entfernte, zerstreuten und oft unrentablen deutschen Kolonien.
Die Arbeiterschaft wurde von der SPD – Führung damit geködert, dass der reaktionäre Zarismus ihre sozialen und politischen Errungenschaften zerstören wollte.
Die antirussische Propaganda hatte strukturell vieles gemeinsam mit der heutigen: Landhungrige Aggressivität, Brutalität und zivilisatorische Rückständigkeit der Russen. Hier sollte also demagogisch der Fortschritt gegen die Reaktion, im übertragenen Sinne die Demokratie gegen ein autoritäres Regime verteidigt werden. Dabei war das deutsche Kaiserreich ähnlich totalitär und reaktionär wie das russische.
Daraufhin antworteten die Russen wie als Beweis mit einem Vorstoß auf Ostpreußen, der sich zu einem strategischen Fiasko entwickelte. Im August 1914 wurde das russische Heer von Hindenburg, der damit seinen Kriegsruhm begründete, vernichtend geschlagen. Deutschland, so schien es dem meisten, führte einen Verteidigungskrieg.
Auf einer Welle enormer Kriegsbegeisterung verkündete die Reichsregierung im September ihre Kriegsziele: Russland sollte seine Herrschaft über die nichtrussischen Völker verlieren; eine Forderung mit pseudodemokratischem Anstrich. Das hörte sich nach einer Befreiungstat an. Hierbei konnten sich die kriegswilligen SPD – Führer sogar auf Marx, Engels und Lenin berufen, die Russland als ein Völkergefängnis charakterisiert hatten.
Praktisch hätte Russland dadurch den größten Teil seiner europäischen Territorien verloren und wäre auf seinen Besitzstand im 16. Jh. zurückgefallen. Tatsächlich verlor Russland gegen Ende des Ersten Weltkrieges Polen, die Westukraine, Westbelorussland, die baltischen Länder, Finnland und Moldawien.
Dieses Kriegsprogramm erfüllte sich jedoch erst völlig mit dem Untergang der Sowjetunion 1991.
Diese abgetrennten Gebiete sollten den deutschsprachigen Mittelmächten fallen, Teile davon Deutschland einverleibt werden, wie eine Postkarte 1916 als „Zukunftskarte Deutschlands“ auswies. Deutschland sollte von Belgien bis St. Petersburg reichen. Die anderen Gebiete wollte man den Österreichern überlassen.
Deutschland wollte zudem eine europäische Wirtschaftsunion führen, zu der auch okkupierte und unterworfene westeuropäische Gebiete einschließlich England gehören sollten. Dieser Traum hat sich inzwischen als Europäische Union erfüllt, wenngleich auf anderer Grundlage!
Die junge Sowjetmacht wurde 1918 zum Raubfrieden von Brest – Litowsk gezwungen, mit dem sie faktisch die Kriegsziele der Deutschen von 1914 erfüllte. Im gleichen Jahr besetzten die Deutschen noch die restliche Ukraine und Georgien.
Das alles klingt nach heute!
In diesem Zusammenhang legte der Kaiser noch zu, verlangte auch russische Gebiete, die Krim als deutsches Siedlergebiet und ein in vier „unabhängige“ Fürstentümer aufgeteiltes Russland.
Die Zerschlagung und Aufsplitterung Russlands als Kriegsziel ist also über 100 Jahre alt und blieb eine Konstante deutscher imperialistischer Ostpolitik bis heute. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass Deutschland hierbei bis 1918 schon recht weit gekommen war.
Mit der deutschen Niederlage 1918 und der Novemberrevolution waren jene hochfliegenden Pläne vorerst hinfällig.
Dennoch gab es hierzu eine Hinterlassenschaft, die bis in die Gegenwart reicht. In der Ukraine unterstützten die Deutschen den sich herausbildenden und kurzlebigen ukrainischen nationalistischen Staat, den die Weißen und Sowjets bis 1920 zerschlugen. Die ukrainischen Nationalisten, später Faschisten orientierten sich fortan und bis heute an Deutschland.
In Finnland hatten die Deutschen im Frühjahr 1918 die finnischen Weißen unterstützt und so maßgeblich die zweite Sowjetmacht stürzen können. Im Baltikum durften deutsche Truppen mit Billigung der Westalliierten und der sozialdemokratischen Reichsregierung bleiben, um die sich herausbildenden Sowjetrepubliken in Lettland, Estland und Litauen zu zerschlagen.
Obwohl die Balten froh waren, dass jene Deutschen ihre Länder wieder verlassen hatten, war das doch der Beginn einer antirussischen Waffenbrüderschaft, die während des Zweiten Weltkrieges gepflegt wurde und bis heute anhält.
Die Polen hingegen, mit deren lautstarken antirussischen Bedrohungsängsten man hierzulande solidarisch ist, übernahmen den deutschen Besitzstand und zerschlugen die damalige litauisch - belorussische Sowjetrepublik. Historisch gesehen der einzige Erfolg der Zerschlagung einer Sowjetrepublik.
Davon ermutigt, griff Polen 1920 wieder das Sowjetland an, wurden aber bis Warschau zurückgeschlagen. In einer Gegenoffensive konnten die Polen jedoch die Rote Armee zurücktreiben, die Westukraine und Westbelorussland annektieren. Dieser Sieg gilt bis heute als Gründungslegende des neuen Polen. Polen bestand 1921 zur Hälfte aus Gebiet mit belorussischen und ukrainischen Mehrheiten.
Angesichts des Linksrucks in Europa einschließlich des Sieges der Sowjetmacht über die Weißen und Interventionstruppen aus 14 Staaten, sowie den harten Bedingungen des Versailler Vertrages, musste der angeschlagenen deutsche Imperialismus zunächst andere Prioritäten setzen.
Da auch die Sowjets vom Westen politisch und wirtschaftlich isoliert worden waren, war für die Herrschenden in Deutschland nun Realpolitik angesagt. Zugleich hatten weitsichtige Politiker die von den Kommunisten geförderte zunehmende prosowjetische Stimmung erkannt. Der wollte man durch gute Beziehungen zum Sowjetland den Wind aus den Segeln nehmen. Unter Konservativen (heute CDU/CSU), Liberalen (heute FDP) als Parteien der Bourgeoisie, aber auch in der regierenden SPD griffen Ansichten um sich, mit Hilfe der Beziehungen zu den Sowjets den Westalliierten politisch und wirtschaftlich Paroli zu bieten. Mit einer scheinbar prosowjetischen Akzentuierung spekulierte man zudem darauf, dem Westen schrittweise Zugeständnisse hinsichtlich des Versailler Vertrages abtrotzen zu können.
Mit den Verträgen von Rapallo 1922 begannen sich die Beziehungen zum Sowjetland qualitativ zu verbessern und kulminierte im Neutralitätsvertrag von 1926, der den westlichen Bemühungen, Deutschland als künftigen Sturmbock gegen die Sowjetunion aufzubauen, einen erheblichen Rückschlag versetzte.
Die Rapallo – Politik, die auch eine Zusammenarbeit im militärtechnischen Bereich einschloss, brachte beiden Seiten erhebliche Vorteile, begünstigte die sowjetische Industrialisierung und half während der Weltwirtschaftskrise, seine katastrophalen Auswirkungen auf Deutschland abzufedern.
Diese Politik war in Deutschland heftig umstritten. Die reaktionärsten Kräfte erinnerten sich ihrer Kriegserfolge gegen Russland und dachten über eine Wiederholung einer antirussischen Aggression nach. Der wurde vor allem von den reaktionärsten Kreisen (NSDAP – Faschisten, faschistoide Freikorps, Deutschnationale) repräsentiert.
Ihr naiv - unrealistisches Russland – Bild war dem der heutigen CDU/CSU, GRÜNE, FDP und SPD verblüffend ähnlich.
Man glaubt weiter an eine angeblich zivilisatorische und wirtschaftliche Überlegenheit, Russland militärisch besiegen, unterordnen und hemmungslos ausplündern zu können. Dafür denkt man, jetzt alle nötigen Voraussetzungen zu haben, ganz Europa kräftemäßig gebündelt hinter sich zu wissen und somit strategisch den Rücken freizuhaben. Dabei werden bedenkenlos die bisherigen Erfolge deutscher Wirtschaftspolitik in Russland für eine „alles oder nichts“ - Politik geopfert.
1922 hingegen waren es die extremen Rechten, die gegen Rapallo Sturm liefen und seine regierungsamtlichen Anhänger verleumdeten und terrorisierten. Sie glaubten, wie die Selensky – Anhänger heute, eine Mehrheit hinter sich zu haben. Sie ermordeten im Sommer Außenminister Walther Rathenau, einen Rechtsliberalen jüdischer Herkunft, der den Vertrag unterzeichnet hatte. Dieser Mord sollte ein Signal für einen Rechtsruck werden. Doch der fand nicht statt! Millionen Deutsche gingen aus Protest auf die Straße und verteidigten Rapallo.
Ein eindeutiges Bekenntnis zu guten Beziehungen zur Sowjetunion! Das war nach der Niederschlagung des Kapp – Putsches die größte Niederlage der extremen Rechten in Deutschland und deren letzte vor 1945.
Rapallo und das Jahr 1922 schockierten den kollektiven Westen. Sollte Deutschland die guten Beziehungen zur UdSSR fortführen, käme eine Mobilisierung gegen die Sowjetunion nicht in Frage, ständen die Westmächte allein gegen die Sowjetmacht.
Nach der Zurückdrängung der revolutionären Kräfte im Herbst 1923 setzte ein Rechtsruck ein, kam es zur relativen Stabilisierung des Kapitalismus. 1925 wurde der Generalfeldmarschall von Hindenburg, der die Russen im Osten besiegt hatte, mit weitreichenden Befugnissen zum Reichspräsidenten gewählt. Für ihn hatte eine knappe Mehrheit aus reaktionären Parteien gestimmt. Obwohl der Rechtsruck in den folgenden Jahren zunahm, änderte sich die Rapallo – Politik kaum und blieb bis 1933 relativ konstant.
Die angestrebten taktischen Winkelzüge, die sich dem Westen gegenüber mit der Rapallo – Politik ergaben, zahlten sich langsam aus, denn es war nicht so, dass das westliche Appeasement – Politik der Begünstigung Deutschlands erst in den 30er Jahren begann.
Der Westen hatte sehr wohl die erfolgreichen Vorstöße der Deutschen während des Weltkrieges in Russland registriert. Engländer und Franzosen mussten sich nach ihren glücklosen Abenteuern aus Russland zurückziehen. Während des Weltkrieges hatten Briten wie Franzosen einen hohen Blutzoll zu entrichten, in Frankreich mit katastrophalen Konsequenzen. Ein neuer Krieg war der Bevölkerung nicht zu vermitteln. Das sollte nun und allein Deutschland richten.
Hierzu wurden den Deutschen Zugeständnisse gemacht. In den Locarno–Verträgen 1925 ließen sie sich ihre Grenzen gegenüber Deutschland absichern, dessen Grenzen im Osten jedoch nicht. Allein das war schon ein Bruch des Versailler Vertragssystems und löste vor allem in Polen permanente Unsicherheit aus. Das brachte auch Marschall Piłsudski, der sich als Reaktion daraufhin mit der UdSSR ins Benehmen setzte, an die Macht. In der ČSR, wo unter den Sudetendeutschen faschistische Auffassungen mehr als in Deutschland dominierten, begannen sich deutsche Separatisten zu sammeln und eine Abtrennung von der ČSR ins Auge zu fassen.
Um Deutschland mehr an den Westen und seine Pläne heranzuziehen, wurde Deutschland als gleichberechtigt in den Völkerbund aufgenommen. Durch den Berliner Neutralitätsvertrag1926 hatte sich Berlin allerdings nicht in eine antisowjetische Allianz hineinziehen lassen und konnte daher recht souverän agieren.
Diese doch vielversprechenden Aspekte deutscher Außenpolitik wurden schrittweise ab 1933 von den Nazis in eine Katastrophe geführt und sie steht heute wieder an einem gefährlichen Wendepunkt.
Dr. Holger Michael
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