Rede des russischen Außenministers Sergej Lawrow
auf der 4. Moskauer Konferenz für internationale Sicherheit
am 16. April 2015

 

Sehr geehrter Herr Schoigu,
sehr geehrter Herr Patruschew,
sehr geehrte Kollegen und Freunde,

die vom Verteidigungsministerium organisierte Moskauer Konferenz hat sich als eine wichtige Bühne für einen offenen und konstruktiven Meinungsaustausch über die wichtigsten Aspekte der globalen Sicherheit etabliert. Ein solches Gespräch ist enorm wichtig, wenn man die ständig neuen Instabilitäts- und Konfliktfaktoren in den internationalen Beziehungen bedenkt.

Lassen Sie mich ein Zitat anführen: „Wir müssen die Verantwortung für das Zusammenwirken in der Welt übernehmen oder für einen neuen globalen Konflikt verantwortlich werden – einen dritten Weg gibt es nicht.“ Das hat US-Präsident Franklin Roosevelt im März 1945 gesagt. Meines Erachtens ist darin eine der wichtigsten Lehren aus dem verheerendsten von allen globalen Konflikten der Geschichte gefasst: Wir können die gemeinsamen Herausforderungen in den Griff bekommen und den Frieden aufrechterhalten, nur wenn wir gemeinsam handeln und die legitimen Interessen voneinander respektieren.

In diesem Jahr wird der 70. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs und des Großen Sieges begangen. An den Festveranstaltungen am 9. Mai in Moskau werden sich die Staats- und Regierungsoberhäupter, Delegationen und nationale Truppenkontingente aus vielen Staaten beteiligen. Mit den Feierlichkeiten anlässlich des Jubiläums des Großen Sieges ehren wir nicht nur die Heldentaten der Soldaten, die die Welt vom nazistischen Wahnsinn befreit haben, sondern bekräftigen auch die enorme Bedeutung der historischen Entscheidungen, die in der Nachkriegszeit die Basis des Weltsystems, darunter selbstverständlich auch die Vereinten Nationen, gebildet haben.

Leider wurden bald nach der UN-Gründung die Möglichkeiten für die Verwaltung der Welt auf Basis einer richtigen Partnerschaft durch eine scharfe bipolare Konfrontation beeinträchtigt. Aber vor einem Vierteljahrhundert dachten alle, dass sich für die Menschheit nach dem Kalten Krieg zum ersten Mal die Perspektiven für den Übergang zu einer umfassenden Kooperation und schöpferischen Entwicklung eröffnet hätten. Russland handelte in dieser Richtung intensiv und konsequent, indem es unter anderem für die Förderung der ernsthaften Arbeit zwecks Etablierung des Prinzips der gleichen und unteilbaren Sicherheit im euroatlantischen Raum und für die Bildung eines einheitlichen wirtschaftlichen und humanitären Raums zwischen Lissabon und Wladiwostok plädierte. Leider wollte man uns aber nicht einmal zuhören geschweige denn uns erhören. Deshalb hat sich die Situation auf dem europäischen Kontinent in einer ganz anderen, und zwar negativen Richtung entwickelt.

In Washington und später auch in der Nato gewann die kurzsichtige Logik der Sieger im Kalten Krieg die Oberhand. Unsere Partner wurden von einer Euphorie erfasst, die durch die falschen Vorstellungen davon bedingt war, dass die westliche Welt für immer und ewig auf den politischen und wirtschaftlichen „Olymp“ gestiegen wäre – und das alles trotz der Fakten, der objektiven und offensichtlichen Prozesse der globalen Machtverteilung, trotz der Etablierung der Kultur- und Zivilisationsvielfalt als eine der wichtigsten Charakteristiken der Gegenwart. Deswegen befinden wir uns jetzt wieder an einem Ort, wo wir – genauso wie gleich nach dem Zweiten Weltkrieg – die entscheidende Wahl zwischen dem Zusammenwirken und dem Konflikt treffen müssen.

Russland hat stets an einer nüchternen und pragmatischen Vorgehensweise festgehalten – wir haben alles andere vor als „alarmistische“ Stimmungen zu provozieren. Dennoch müssen wir vor einer Unterschätzung der Perspektiven einer gefährlichen Anspannung der internationalen Situation warnen. In der Welt, die große Fortschritte auf dem Weg zur Globalisierung gemacht hat, wird die Gefahr immer größer, dass sich zahlreiche Sicherheitsprobleme in verschiedenen Regionen in einen großen Wulst verknoten. Aber wo liegt denn die Grenze, die das immer größere Chaos, die Förderung der Konfrontation in den europäischen Angelegenheiten und die Entstehung eines „Gürtels der Instabilität“ zwischen Nordafrika und Afghanistan trennen würde? Unter solchen Bedingungen kann man sich kaum auf das so genannte „Zellkompartiments-Prinzip“ verlassen, dem zufolge verschiedene Staaten sich über einige Fragen streiten, gleichzeitig aber an anderen Fragen durchaus erfolgreich zusammenwirken können. Die Entwicklung von regionalen Sicherheitssystemen auf Basis des Gleichberechtigungsprinzips, der gegenseitigen Berücksichtigung von Interessen und des Verzichts auf die Festigung der eigenen Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer Länder sollte effizienter werden und Rücksicht auf die immer größere gegenseitige Abhängigkeit verschiedener Staaten nehmen. Unseres Erachtens würde die multilaterale Zusammenarbeit solcher regionalen Strukturen eine wichtige Rolle für die Entstehung einer globalen Sicherheitsarchitektur auf Basis der UN-Charta und der kollektiven Handlungen zwecks Bekämpfung von gemeinsamen Herausforderungen spielen.

Es wird viel über die Ukraine geredet – dieses Thema kann man heutzutage wohl nicht verschweigen. Der Ukraine-Konflikt hat keine militärische Lösung. Dementsprechend gibt es auch keine vernünftige Alternative für die friedliche Regelung der Ukraine-Krise auf Basis einer vollständigen und bedingungslosen Erfüllung der Minsker Vereinbarungen vom 12. Februar. In erster Linie muss die strikte Einhaltung des Waffenstillstands und der baldmöglichste Abzug von schweren Rüstungen samt der Verifizierung dieses Prozesses durch die OSZE-Beobachtermission gewährleistet werden. Gleichzeig müssen künstliche Hürden auf dem Weg zur Lösung von humanitären Problemen geräumt werden; Kiew sollte zur Aufhebung der wirtschaftlichen Blockade der Donbass-Region gezwungen werden, damit ein realer und kein „dekorativer“ politischer Prozess samt der Verfassungsreform unter Berücksichtigung der Interessen aller Regionen und aller Staatsbürger der Ukraine beginnen kann. Eine besondere Bedeutung für die Integrität des ukrainischen Staates hat die Erfüllung der Amnestie-Verpflichtungen durch Kiew, das zudem nicht mehr versuchen sollte, die Minsker Vereinbarungen neu zu deuten. Ich bin überzeugt, dass der Westen die Kiewer Behörden überreden könnte und sollte, auf den vernichtenden Kurs der Heroisierung der Nazis bei gleichzeitiger Verfolgung derjenigen zu verzichten, die Europa vom Faschismus befreit haben. Das alles haben wir bei einem Treffen der Außenminister des „Normandie-Quartetts“ am 13. April in Berlin ausführlich besprochen.

Die politische Regelung in der Ukraine sollte zu einem wichtigen Impuls für die Überwindung von systematischen Problemen werden, die sich im Bereich der europäischen Sicherheit angehäuft haben und im Grunde die wichtigste Ursache der Ukraine-Krise waren. Vorerst beobachten wir aber das Gegenteil: Man versucht, neue Abgrenzungslinien in Europa festzulegen. In Washington spricht man immer wieder von „Frontstaaten“ in Bezug auf unsere Nachbarn und behauptet, Russland würde „vor der Tür der Nato stehen“, als ob unser Land nach Westen gegangen wäre und nicht die Nordatlantische Allianz sich bis zu unseren Grenzen ausgedehnt hätte, wo sie eine umfassende militärische Infrastruktur entwickelt hat. In Europa wimmelt es inzwischen von US-Militärtechnik, und US-Kriegsschiffe befinden sich fast ständig im Schwarzen Meer.

Sehr beunruhigend ist und bleibt das US-amerikanische Raketenabwehrprogramm. In diesem Jahr in Rumänien und bis 2018 in Polen werden bodengestützte Raketenabwehrkomplexe installiert. Auch eine Schiffsgruppierung mit einem beträchtlichen Anti-Raketen-Potenzial wird ständig ausgebaut. Wir betrachten das alles als Teil eines globalen Projekts, das Risiken für die russischen strategischen Abschreckungskräfte entstehen lässt und das regionale Gleichgewicht im Sicherheitsbereich ins Wanken bringt. Falls das Raketenabwehrprogramm weiterhin umgesetzt wird, ohne angesichts der jüngsten Fortschritte bei den Gesprächen über Irans Atomprogramm korrigiert zu werden – das haben Nato-Vertreter bereits angekündigt -, dann werden die wahren Motive für die Entwicklung der Raketenabwehr in Europa für alle offensichtlich. Schon jetzt ist klar, dass man uns angelogen hatte, als man von der so genannten „adaptiven“ Vorgehensweise bei der Aufstellung der Raketenabwehr sprach. Der Sinn dieser Vorgehensweise, wie US-Präsident Barack Obama damals erläuterte, bestand angeblich in der Bereitschaft der USA, die Raketenabwehrpläne der realen Situation bei den Verhandlungen über Irans Atomprogramm anzupassen. Jetzt wurden bei diesen Verhandlungen wesentliche Fortschritte gemacht, aber die Raketenabwehrpläne werden nicht der Situation angepasst, sondern nur weiter ausgebaut.

Die russischen Vorschläge bezüglich des gleichberechtigten Zusammenwirkens zwecks Neutralisierung von Raketengefahren verschweigt man in Washington schlicht.

Wir wollen niemanden zur Kooperation zwingen. Klar sollte aber auch sein, dass wird durch die Schwächung der Partnerschaft zwischen den führenden Staaten wertvolle Zeit bei der Bekämpfung von realen und wirklich großen Gefahren verlieren – vor allem im Nahen Osten und in Nordafrika. Die jüngste Anspannung der dortigen Situation, die Entwicklung des Terrorismus und Extremismus, die Erweiterung der vom so genannten Islamischen Staat kontrollierten Territorien, die immer größeren ethnischen und konfessionellen Auseinandersetzungen – das alles gefährdet unmittelbar die internationale Stabilität und Sicherheit und stellt die Perspektiven der stabilen Entwicklung der Völker dieser uns nahen Region infrage.

Besonders beunruhigend finden wir die Versuche, Auseinandersetzungen zwischen den Sunniten und Schiiten künstlich zu provozieren – wobei die Unterschiede zwischen diesen Konfessionen im Interesse von diesen oder jenen politischen Zielen ausgenutzt werden – und dem UN-Sicherheitsrat gewisse Schemata einer Einmischung in diese Situation von außerhalb aufzuzwingen. Ich rufe dazu auf, diese Situation möglichst ernst zu nehmen und sich dabei nach den Ideen der Toleranz und des gegenseitigen Respekts zu richten und nach Kompromissen zu suchen, was in der Deklaration von Amman verankert ist, die im Juli 2005 auf Initiative des jordanischen Königs Abdallah II. vereinbart wurde. Es ist offenbar höchste Zeit, die Prinzipien der Deklaration von Amman zu bestätigen. Ich bin überzeugt, dass die Arabische Liga und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit die große Gefahr begreifen, die mit der Spaltung der islamischen Welt verbunden wäre.

Eine effektive Förderung der Regelung von innerstaatlichen Konflikten sollte sich auf das Völkerrecht stützen und das Anspornen eines Dialogs zwischen den Konfliktseiten bei gleichzeitigem gemeinsamem Widerstand gegen extremistische Kräften vorsehen. Unter solchen Bedingungen sollte es keinen Platz für Doppelstandards und für Versuche geben, souveränen Staaten Rezepte der innenpolitischen Ordnung aufzuzwingen. Äußerst fragwürdig ist die Situation im Jemen, wo die USA die aktuelle gewaltsame Operation der Koalitionsmitglieder quasi begrüßen, deren Ziel die Rückkehr des ins Ausland geflüchteten Präsidenten an die Macht ist. Dabei hatte Washington den verfassungswidrigen Staatsstreich in der Ukraine intensiv unterstützt und sogar bei seiner Organisation mitgeholfen.

Wie der russische Präsident Wladimir Putin betonte, führen das einseitige Diktat und das Aufzwingen von eigenen Schablonen zu entgegengesetzten Ergebnissen: Statt der Konfliktregelung kommt es zu weiterer Eskalation, statt souveräner stabiler Staaten entsteht das Chaos. Wesentliche positive Ergebnisse sind nur dann möglich, wenn verschiedene Länder ohne jeglichen Hinterhalt ihre Bemühungen bündeln. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die beispiellose erfolgreiche internationale Operation zur Ausführung von allen Komponenten und Präkursoren chemischer Waffen aus Syrien und die politische Rahmenvereinbarung zwecks endgültiger Regelung der Situation um das iranische Atomprogramm. Das macht übrigens den Weg zum Verzicht auf die fehlerhafte Politik zur Isolierung des Irans frei, zur gleichberechtigten Einbeziehung dieses Landes in die kollektiven Bemühungen um die Lösung von immer neuen Problemen der regionalen Sicherheit, darunter in die politische Regelung in Syrien und im Jemen, in die Förderung des nationalen Einvernehmens im Libanon und im Irak, in die Voranbringung der Palästinenser-Aussöhnung und natürlich der israelisch-palästinensischen Konfliktregelung auf Basis des Völkerrechts und der Arabischen Friedensinitiative.

Immer wichtiger wird die Aufgabe zur Förderung des Dialogs über den Sicherheits- und Kooperationsrahmen in der persischen Golfregion unter Beteiligung der arabischen Länder und des Irans unter Mitwirkung der Arabischen Liga, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit und der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats.

Auch die Situation in Afghanistan verlangt die Vereinigung unserer Bemühungen. Eine Stabilisierung kommt dort vorerst nicht infrage – von diesem Land gehen nach wie vor Terror- und Drogengefahren für seine Nachbarstaaten und das ganze Zentralasien aus.

Wir sind auch an Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit im Asien-Pazifik-Raum interessiert, dessen nichtwegzudenkender Teil unser Land ist. Auf die Erarbeitung von allgemein anerkannten Verhaltensregeln im Interesse der Sicherheit und stabilen Entwicklung im Asien-Pazifik-Raum war die von Russland und China im Jahr 2010 geäußerte Initiative zum Aufbau der regionalen Architektur der gleichen und unteilbaren Sicherheit ausgerichtet. Gemeinsam mit anderen Ländern der Region haben wir einen multilateralen Dialog zu diesem Thema begonnen – im Rahmen des Mechanismus der Ostasiatischen Gipfeltreffen.

Am Anfang meiner Rede habe ich die Wichtigkeit der Entwicklung von regionalen Strukturen hervorgehoben, die für die Sicherheit in den jeweiligen Regionen verantwortlich sind. Wenn wir den Weg zu der einst deklarierten Aufgabe zur Gestaltung eines unteilbaren Sicherheitssystems im euroatlantischen Raum weiter gehen und nach Wegen zur Bildung einer umfassenden blockfreien Architektur im Asien-Pazifik-Raum suchen, dann wird die Bedeutung der Bemühungen Russlands und seiner Verbündeten und Partner um die Sicherheit im Zuständigkeitsbereich der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) wachsen.

Lassen Sie mich abermals an die Initiativen erinnern, die einst der UN-Generalsekretär und die OSZE-Führung äußerten, als Leiter von regionalen Organisationen, die im Sicherheitsbereich aktiv sind, zum Dialog und Erfahrungsaustausch eingeladen wurden. Meines Erachtens könnte sich Beratung über Zusammenwirken und Vertrauensmaßnahmen in Asien als eine gute Plattform für die Fortsetzung dieser Aktivitäten etablieren, die auf Initiative des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew gegründet wurde.

Wir sind entschlossen, unsere intensive Zusammenarbeit mit unseren Freunden und Partnern im Interesse der Gesundung der internationalen Beziehungen fortzusetzen. Die Festigung der internationalen und regionalen Sicherheit ist ein wichtiger Aspekt der Tagesordnung während unseres Vorsitzes in der BRICS und der SOZ. Russland ist für einen Dialog und ein Zusammenwirken mit allen Ländern offen, die dazu ebenfalls bereit sind.

Ich wünsche allen Teilnehmern der Konferenz eine erfolgreiche Arbeit.

Quelle: russische-botschaft.de