Zum 9. November 1989 –

unsere Verantwortung für Wahrhaftigkeit

von Oberstleutnant a.D. Werner Wagner

 

Über den 9. November 1989 ist in den letzten Jahren viel geschrieben und noch mehr diskutiert worden: sehr viel Wahres, vor allem von Zeitzeugen Erlebtes ; aber noch mehr Unwahres , Übertriebenes, besonders von sogenannten  Historikern, von außenstehenden  Journalisten oder  solchen, die sich dafür halten.

Mit diesem  Beitrag möchte ich Unwahrheiten und Verfälschungen der 25-jährigen Geschichte nach dem November 1989 entgegenwirken und der Wahrheit einen Dienst erweisen.

 

Eine Krise der Gesellschaft

Lange vor dem Herbst 1989 zeichnete sich eine deutliche Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Situation in der DDR und in den anderen sozialistischen Ländern ab. Mit der Ausreisewelle, vor allem jüngerer Menschen , im  Sommer 1989 wurde die Krise in der DDR offenkundig.

Im Herbst 1989 kam es zum offenen Ausbruch der gesellschaftlichen Krise in der DDR, die Teil der latenten Krise des Weltsozialismus war:

  • Es verschlechterte sich die Situation um so mehr, als die SED– Führungsspitze zur KPdSU und zu deren  Perestroika-Kurs  auf Distanz ging und die politische Gängelei zunahm.
  • Im  September 1989 öffnete die ungarische Regierung die Grenze zu Öster-reich auch für Bürger der DDR.
  • Tausende Ausreisewillige befanden sich in Botschaften der BRD in Prag und Warschau.
  • Das offene Ausbrechen von Massenprotesten in Großstädten wie Leipzig,Dresden,Berlin und in  anderen Städten signalisierte wachsende Konfrontation, was  auch zu Zusammenstößen mit der Polizei  führte.

Die sich rasch ändernde widersprüchliche, schwer überschaubare  Situation bewirk-te, dass die Idee der Erneuerung des Sozialismus von vielen Bürgern nicht mehr mitgetragen wurde. Die DDR wurde seit November 1998 nicht mehr nur vom Modrow-Kabinett und im Mit-oder Gegeneinander mit dem „Zentralen Runden Tisch”, sondern zugleich von Bonn regiert.

Eine wichtige Voraussetzung für die Sicherung des friedlichen Charakters der Entwicklung bestand darin, dass von den Angehörigen der bewaffneten Kräfte sowie auch von vielen Protestierenden erkannt wurde, dass die anfangs als „konter-revolutionäre Kräfte“ bezeichneten Demonstranten sich in der Mehrheit zunächst die demokratische Erneuerung des Sozialismus in der DDR, nicht dessen Beseitigung, zum Ziel gesetzt hatten.

In der Folgezeit überschlugen sich die Ereignisse. Es nützte auch nichts,dass der pass- und visafreie Reiseverkehr in die CSSR Anfang Oktober 1989 für Bürger der DDR ausgesetzt worden war. Oberst Lauter, Leiter Pass- und Meldewesen (PM) im MdI, äußerte dazu:“Es war eine Absprache zwischen Honecker, Mittag und Herrmann. Er und der Innenminister erfuhren es aus einer Radiomeldung.” 

Diese Festlegung löste eine Welle der Entrüstung aus und es kam zu Streiks in Betrieben im Süden der DDR und  führte auch zu Protesten bei vielen Mitarbeitern der Meldestellen in den VP- Kreisämtern. Egon Krenz stellte auf dem ZK-Plenum am 9.November fest:„Schließen wir die Grenzen zu unseren Nachbarn CSSR und Ungarn ….. machen wir einen falschen Schritt“.

 

Das Reisegesetz und seine Folgen

Im September/Oktober 1989 wurde beschlossen, ein neues Reisegesetz der DDR zu verabschieden. Der Innenminister, der Außenminister und der Minister für Staats-sicherheit bekamen im November 1989 den Auftrag, durch ihre Fachorgane für ein neues Reisegesetz die Regularien erarbeiten zu lassen.

“Ein technisches Unterfangen, für zwölf Millionen passpflichtige Bürger, in wenigen Tagen entsprechende Pässe herzustellen, diese einzuführen und zu verteilen, ist ein Unding”, so Oberst Lauter, Leiter der Abteilung PM im MdI. Das könne wahrschein-lich kein Land der Welt.

Nach der Ablösung Erich Honeckers am 18.Oktober 1989 wurden mehrere Entwürfe eines neuen Reisegesetzes vorgelegt, welche aber bis zum 7.November 1989 immer an den benötigten Reisemitteln für die Bürger der DDR scheiterten. Erst am 9. November 1989 kam es zu einem tragfähigen Entwurf, welcher den Passus enthielt : „ …dass Privatreisen ab sofort ohne die bisherigen Voraussetzungen möglich sind und man sich dazu vertrauensvoll an die Dienststellen des Pass- und Meldewesens der VP wenden kann. “

Dazu gab es dann eine vorbereitete Presseerklärung „ Inkrafttreten des Gesetzes am 10.November 06.00 Uhr, durch ADN in den Medien bekannt zu geben! “

Oberst Lauter, Leiter der Abt. Pass- und Meldewesen des MdI, schreibt hierzu: ”Alle Maßnahmen waren vorbereitet. Wie bekannt, kam es völlig anders!”

Um die bewaffneten Organe der DDR, also auch um die Angehörigen der Grenz-truppen der DDR machte das alles keinen Bogen. In wenigen Monaten stiegen die Fälle der Grenzverletzungen und Provokationen an der Staatsgrenze der DDR und zu Westberlin an. Die Versuche der ungesetzlichen Grenzübertritte nach Polen , an der tschechischen und ungarischen Grenze  stiegen um das Dreifache an. Gefragt wurde, was machen wir falsch , dass uns so viele Menschen verlassen wollen?  Auch in den Grenztruppen der DDR, bei Berufskadern und Wehrpflichtigen wurde nicht nur an der Wirtschaftspolitik der DDR gezweifelt und damit die Moral untergraben und die Erfüllung der Aufgaben auch in Frage gestellt!  Die Ereignisse überholten die gut gemeinte Absicht, wegen der uns allen bekannten, vorzeitigen Information eines so erfahrenen, angeblich guten Journalisten und Mitglied des höchsten Parteigremiums der SED.

Was nach der Pressekonferenz geschah, haben die meisten von uns bewusst miter-lebt, deshalb wird auf eine nähere Beschreibungen verzichtet. Niemand, auch nicht die Führung der Grenztruppen, kannte einen entsprechenden Beschluss der Regie-rung der DDR und demzufolge hatten die militärischen Vorgesetzten auch keine diesbezüglichen Weisungen erteilt. Der Chef der Grenztruppen, Generaloberst Baumgarten, war im Ministerium für Nationale Verteidigung  stundenlang zur Aus-wertung der ZK-Tagung festgehalten worden. Anfragen seiner Stellvertreter und Kommandeure der Grenzkommandos gelangten nicht an den Chef der Grenzruppen. Die Minister für Staatssicherheit und des Innern waren nicht erreichbar. Sie waren auf dem Weg in ihre Dienststellen oder auf dem Weg nach Hause. Hier stellt sich für uns Militärs die Frage nach der Gefechtsbereitschaft, die wir so oft praktizierten und die Grenzer und NVA am 9.November spürbar erlebten ! Keine Kommunikations-möglichkeit im Fahrzeug, kein Autoradio eingeschaltet ? Seltsam !!!

Die grenzsichernden Einheiten begannen am 9. November ihren Dienst im System der verstärkten Grenzsicherung im Drei- Schichtsystem, mit der festgelegten strukturmäßigen Bewaffnung.Soldatenund Unteroffiziere mit der Maschinenpistole Kalaschnikow und Offiziere mit Pistole Makarowund einem Kampfsatz Munition. Erst Stunden nach der Presseveröffentlichung, gegen 21:30 Uhr, erfuhren die führenden Militärs von der blamablen Fehlinformation:”Sofort! Unverzüglich!”

Die Führung erfuhr auch, dass sich schon tausende Menschen an den Grenzüber-gangsstellen (GÜSt) gesammelt hatten, um zu prüfen, ob es stimmt, dass die Passierstellen geöffnet sind und forderten die Öffnung der Grenzübergangsstellen. Ursachen, warum keine Weisungen gegeben wurden, waren die überraschenden Ereignisse nach der Pressekonferenz, die Verwirrung, Unsicherheit und Ratlosigkeit. Telefonische Anfragen bis zum Ministerium für Nationale Verteidigung blieben erfolglos bzw. unbeantwortet. Eine andere Ursache ist sicherlich auch im Versagen der Parteiführung und  der Regierung der DDR zu sehen, die die ernste Situation unterschätzt hatten. Das Verlassen auf den „großen Bruder“ hatte diesmal nicht funktioniert. Aber vergessen und verschwiegen wird heute, dass die Grenzer, und zwar vom Soldaten bis  zum General, in diesen Stunden ihrem Gewissen folgten, besonnen, selbstständig und verantwortungsbewusst handelten?

 

Hochachtung vor unseren Grenzern

Eine solche Bewährungsprobe war in der Geschichte der Grenztruppen ohne Beispiel.  Alle Angehörigen der Grenztruppen, der Passkontrolle und des Zolls bewiesen in jenen Stunden, dass  sie den Grundsatz verinnerlicht hatten, das Leben der Menschen als höchstes Gut zu achten, sich nicht gegen das eigene Volk zu wenden und alles zu tun, dass es in dieser oft unüberschaubaren Lage zu keinem Blutvergießen kam (siehe auch Baumgarten: Die Grenzen der DDR ) Durch die hohe Moral, Reife und charakterliche Stärke der meisten „Grenzer“, wurde die Lage trotz aller Schwierig-keiten, gemeistert.

Spät in der Nacht unterstrichen die Kommandeure durch Befehl, dass Schusswaffen nicht angewendet werden  dürfen.  Kein Grenzsoldat kam auf den Gedanken, selb-ständig die Schusswaffe anzuwenden. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie verlogen die Parole von den „schießwütigen Grenzern“  war, so wurde er in dieser Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 erbracht.  Um eine schnelle und zügige Abfertigung an allen Grenzübergangsstellen (GÜSt) zu erreichen, wurden bis zum  26.November weitere 23  provisorische GÜSt und viele KontrollPassierpunkte (KPP) in Berlin geöffnet. An der Grenze zur BRD wurde die Öffnung von weiteren 42 GÜSt und ungezählten KPP im Zusammenwirken mit den örtlichen Gemeindebürger-meistern, dem Bundesgrenzschutz (BGS) und den Kommandeuren der Grenz-bataillone, teilweise ohne Beschluss des Ministerrates, veranlasst. Vom 9. – 12. November wurden an den geöffneten GÜSt und KPP die Dokumente nicht mehr gestempelt, wie es hätte nach Vorschrift stattfinden müssen. Der Menschenstrom wurde einfach durchgewinkt. Über 95 Grenzübergangsstellen reisten vom 9.– 26. November 1989 mehr als 15 Millionen Bürger der DDR und anderer Staaten aus und ein.

Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker kam zum Potsdamer Platz an die Staatsgrenze und dankte den Grenzern mit Blumen und warmen Worten für ihr besonnenes Handeln, das ein Blutvergießen verhindert hatte. Aufmerksam verfolgten die Grenzer, damals und noch heute, diese Wertschätzung, von der mit Prozessbeginn gegen die Grenzer im Jahr 1990 nichts übrig blieb und an die heute nicht mehr daran erinnert wird.

 

Was geschah vor Ort?: ausgewählte Beispiele

An den Grenzübergangsstellen in Berlin und im Raum Potsdam sammelten sich ab 20:00 Uhr tausende Menschen und forderten ein, was über die Medien pausenlos gemeldet wurde. Teilweise drangen sie in das Kontrollterritorium ein und skan-dierten  in Sprechchören:” Tor auf! Freiheit! Wir sind das Volk!” Es gab Hupkonzerte von sich stauenden Fahrzeugen, mittendrinn Jugendliche und Familien mit Kindern, auch mit Kinderwagen und Fahrrädern. Als erste Grenzübergangsstelle war die GÜSt Bornholmer Straße in Pankow dem Ansturm Tausender nicht mehr gewachsen. Der Leiter PKE / MfS öffnete ohne Weisung eigenständig die GÜSt.

Unter Einsatz ihres Lebens und der Gesundheit aller eingesetzten Kräfte wurden die Schlagbäume und Tore gegen 21:00 Uhr geöffnet. Weitere Verantwortungsträger an fast allen Grenzübergangsstellen handelten ebenso. Ausnahmen bildeten die Eisenbahn- und Wasser- Grenzübergangsstellen, hier gab es nur Neugierige.

Die Verantwortlichen handelten damit eindeutig gegen bestehende Gesetze, Befehle und Vorschriften. Sie entsprachen dem Begehren der aufgebrachten Menschen und nahmen hohe Risiken auf sich.

Das Wahrzeichen und Statussymbol der Hauptstadt der DDR, das Brandenburger Tor, wurde gleichfalls von tausenden Bürgern belagert. Dort waren ca. 1.000 Offiziere und Unteroffizieren in Sperrketten eingesetztmit der Aufgabe, Vandalismus zu verhindern und die Überwindung der Sperranlagen nicht zuzulassen. Das Branden-burger Tor war keine Grenzübergangsstelle, hier wurden ausländische Staatschefs, Diplomaten und besondere Gäste empfangen und über die Sicherung der Staatsgrenze informiert.

Oberst a.D. Wegner berichtete über die im Raum Potsdam meistbefahrene, inter-nationale Grenzübergangsstelle DREWITZ – DREILINDEN. Hier war die Situation ähnlich. Schon unmittelbar nach der Medien-Kampagne verlagerte sich der Schwerpunkt auf das Kontrollterritorium der GÜSt. Der Kommandant Oberst Wegner, übernahm gegen 23:30 Uhr die Führung  und  unterstrich den Befehl: „Keine Anwendung der Schusswaffe!“ Danach traf er Sicherheitsvorkehrungen, die den Schutz des Bereiches der Staatsbank für den Geldumtausch  betrafen.

Die GÜSt DREWITZ war ausnahmslos eine Grenzübergangsstelle für den Transitver-kehr mit besonderen Fahrspuren  für die Alliierten, Diplomaten und Militäreinheiten aller ehemaligen Besatzungsmächte. Personen mit Fahrrädern, Kinderwagen und Fußgänger hatten hier überhaupt nichts zu suchen. So entschloss sich der Komman-dant, Kolonnen von ca. 300 Personen zu  ihrer eigenen Sicherheit zusammen zu stellen und diese durch einen Offizier der Grenztruppen nach DREILINDEN führen zu lassen. Mit der Westberliner Seite wurde – wie immer in besonderen Fällen – Kontakt aufgenommen und vereinbart, dass die angekündigten Personen empfan-gen werden, was funktionierte. Es gab durch die so getroffene Entscheidung  keine Verkehrsunfälle, keine Verletzten oder gar getötete Passanten. Lediglich am näch-sten Tag fand man überzählige Fahrräder und Kinderwagen sowie viel Müll an der Zufahrt sowie an der Autobahn.

 

Schlussbetrachtungen

  • Die Grenztruppen der DDR befanden sich seit dem 40.Jahrestag der DDR im Regime verstärkteGrenzsicherung und  in  erhöhter Gefechtsbereitschaft, auch wenn diese  Stufe durch den Minister für Nationale Verteidigung noch nicht befohlen war.
  • Die überraschende, unvorbereitete und planlose Grenzöffnung  führte zur zeit-weiligen Lähmung der Führungstätigkeit, zu Ratlosigkeit, Verwirrung und mit-unter zu Unentschlossenheit.  Außer der Auslösung der erhöhten Gefechts-bereitschaft für die Grenztruppen  der DDR und die NVA durch den Minister am 10.November 00:30 Uhr, kamen keine weiteren Befehle und Weisungen. Den anderen, mit den Grenztruppen zusammenwirkenden Kräften – MfS, Volks-polizei, Zoll – erging es wie den Angehörigen der Grenztruppen.
  • Erst nach den schlimmen Ereignissen in Jugoslawien, in Serbien, im Kosovo in  den neunziger Jahren und schließlich, wie gegenwärtig in der Ukraine, mit Tausenden von Toten, wird deutlich, was die Grenztruppen und die NVA ge-tan bzw.unterlassen haben. Blumen und Dankesworte des Bundespräsidenten von Weizsecker am Brandenburger Tor – für das besonnene Handeln der Grenzsoldaten – klingen noch in unseren Ohren.
  • Die Grenzer und ihre Partner können für sich in Anspruch nehmen: Sie haben ein Blutvergießen verhindert, möglicherweise auch Schlimmeres, einen Bürgerkrieg in Deutschland.
  • Eine Rehabilitation der verurteilten Grenzer und die Anerkennung ihres Handelns wird bis heute verweigert und ist von dieser Bundesregierung auch nicht zu erwarten.

 

            Berlin, im September 2014 

 

 

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