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- Oreschnik - Eine Analyse
15.12.2024
von Lutz Vogt (14.12.2024)
(Stand 14.12.24)
Am 21.11.2024 beendete Russland mit dem erstmaligen Gefechtseinsatz des Oreschnik-Raketenkomplexes sein Moratorium für die Stationierung von landgestützten Raketen, die unter die Kriterien des von den USA gekündigten INF-Vertrages fallen (Moratorium galt nicht für die Entwicklung und Produktion landgestützter Mittelstrecken-Raketen/Flügelraketen).
Diesem Schritt Russlands gingen die Entwicklungen und Stationierungen bzw. Stationierungsbeschlüsse der USA für ihre eigenen landgestützten Raketenkomplexe kürzerer und mittlerer Reichweite im südpazifischen Raum und in Westeuropa voraus. Die USA kündigten den INF-Vertrag vertragsgemäß am 01.02.2019; Russland folgte diesem Schritt einen Tag später am 02.02.2019 (im Oktober 2007 hatte der russische Präsident bereits erklärt, dass der INF-Vertrag nicht mehr russischen Interessen entspräche).
Anlass für den erstmaligen Oreschnik-Einsatz war der Angriff mit luftgestützten britischen Storm-Shadow-Flügelraketen in der Nacht vom 19. zum 20. 11.24 gegen eine Residenz des russischen Präsidenten im Ort Marino, Oblast Kursk (angeblich als Hauptquartier der russischen Truppen für die laufende Kursker Operation im Ukrainekrieg genutzt) voraus. Die Auswahl gerade dieses Objektes hatte wegen ihrer Nutzung als Objekt des Präsidialapparates weniger militärische als vielmehr hohe politische Bedeutung.
Erstmals in der Kriegsgeschichte wurde durch Russland mit einer Oreschnik (Haselnuss)-Rakete ein Komplex der landgestützten Mittelstreckenraketen erfolgreich im Gefecht eingesetzt.
Mit Entwicklung, Stationierung und Einsatz dieses ballistischen Raketenkomplexes mit Mehrfachgefechtskopf zog Russland (ebenso wie die USA mit ihren landgestützten Mittelstreckenwaffen) hinsichtlich des Besitzes dieser Waffenart mit anderen Staaten gleich, die seit Jahrzehnten ein immer größeres Arsenal am landgestützten Raketen mittlerer (1000 km bis 5500 km Reichweite) und kürzerer Reichweite (500 km-1000 km) aufgestellt haben. Das waren bisher China, Nord- und Südkorea, Indien, Pakistan, Iran und Israel.
Die USA und Russland hatten im INF-Vertrag bis zu dessen Kündigung durch die USA im Jahr auf landgestützte Komplexe dieser Waffen verzichtet. Russland besaß offiziell bis zum 21.11.24 nur luftgestützte Raketen und Flügelraketen mittlerer Reichweite (Kinshal, CH-32) und seegestützte Flügelraketen (Zirkon, Kaliber).
Nach bisherigen öffentlichen Informationen verfügt die nicht-nukleare Version des am 21.11.24 eingesetzten Gefechtskopfs der Oreschnik über 6 individuell lenkbare Gefechtsköpfe (MIRV) mit jeweils 6 Wirkkörpern, deren Wirkung durch ihre hohe kinetische Energie entsteht. Die Aufschlaggeschwindigkeit soll beim Raketenschlag in Dnjepro ca. Mach 11 betragen haben. Die Zerstörungswirkung dieses Gefechtskopfs beruht neben der seismischen Druck- und Schockwelle auf ihrer hohen thermischen Zerstörungswirkung (4000 C). Die Wirkkörper besitzen einzeln und durch die Überlagerung und gegenseitige Verstärkung ihrer Schockwellen eine starke bunkerbrechende Wirkung („earth-penetrator“).
Wesentliche theoretische Grundlagen für Wirkkörper wie die der heutigen Oreschnik-Raketen wurden im Rahmen des Warschauer Vertrages bereits in der 2. Hälfte der 1980er Jahre durch einen der weltweit führenden Seismologen, das Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, Prof. Dr. Heinz Stiller, und sein Institut für Schock- und Stoßwellenforschung auf dem Potsdamer Telegraphenberg entwickelt.
Beim Einschlag der Hochgeschwindigkeitswirkkörper der Oreschnik verändern sich unter anderem die physikalischen Eigenschaften der Materialien, die der entstehenden Stoßwelle ausgesetzt sind. Feste Materialien verhalten sich unter dem plötzlichen Energiestoß ähnlich wie Flüssigkeiten und verlieren ihre Stabilität. Treffen, wie bei den Oreschnik-Geschossen, mehrere Stoßwellen aufeinander, so überlagern sich diese und verstärken dadurch ihre Zerstörungskraft. Über Waffen dieser Art sprach der russische Präsident in der Vergangenheit mehrfach als Waffen mit neuen physikalischen Wirkprinzipien.
Beim Schlag gegen Jushmasch am 21.11.24 wurde von erdbebenartigen Zerstörungswellen berichtet. Alle bisherigen Ansichten über die Stabilität von Gebäuden und Bunkeranlagen entsprechen daher nicht mehr den heutigen Realitäten. Die bisherigen Wirkungen konventioneller Sprengladungen basierten auf den bekannten Folgen von Sprengstoffdetonationen. Die neuartigen Oreschnik-Wirkkörper stellen eine grundsätzlich neue Wirkkategorie dar. Das allein wird weltweit gewaltige Nachrüstkosten für geschützte Bauten zur Folge haben.
Vor ca. 10 Jahren experimentierten auch die USA, aller dings vorerst erfolglos, mit Wirkkörpern für ICBM-Gefechtsköpfe, die sie „Rods from God“ (Gottes-Stäbe) nannten. Diese Stäbe bestanden aus massivem Wolfram, das einen sehr hohen Schmelzpunkt hat und den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre ohne großen Materialverlust (Abbrand) übersteht. Wolfram hat zudem nach Gold die höchste Materialdichte (Gewicht) und die Wirkstäbe besaßen mit ihrer hohen Einschlaggeschwindigkeit eine enorme Energie bzw. Zerstörungskraft. Es kann vermutet werden, dass die von Russland in Dnjepro eingesetzten Raketengefechtsköpfe ähnliche Körper aus Wolframlegierungen trugen, wie seinerzeit die „Rods from God“ der USA. Nur, dass die russischen Wissenschaftler und Ingenieure ihre Arbeiten erfolgreich zu Ende gebracht haben.
Neben den Oreschnik-Mittelstreckenraketen entwickelt Russland seit Jahren nach Erklärungen von Präsident Putin mindestens folgende weitere landgestützte Komplexe mittlerer und kürzerer Reichweite:
• | Landversion der bisher nur seegestützten Hyperschallrakete „Zirkon“. Reichweite: ca. 1000 km (plus x). |
• | Landversion der bisher nur seegestützten Flügelraketen aus der „Kalibr“-Familie. Reichweite: 1500 bis 2500 km (plus x). |
• | Reichweitengesteigerte Version der „Iskander“-Rakete mit quasiballistischer (variabler) Flugbahn. Reichweite: 1000 km (plus x). Ein derartiger Komplex könnte zum Beispiel die Oreschnik-Komplexe für Ziele zwischen 500 bis 1500 km „entlasten“. |
• | Reichweitengesteigerte Version der Flügelraketen der Küstenverteidigung „Bastion“. Bisher 300 km Reichweite; dann 700 bis 1000 km RW analog zur indischen Variante der „Bramos“-Flügelrakete. |
Welche dieser Komplexe Russland tatsächlich stationiert und einsetzt, werden die nächsten Ereignisse in der Ukraine und ggf. die anstehende Rede des Präsidenten zur Lage der Nation zeigen.
Die neuen landgestützten Mittelstrecken-Komplexe Russlands, haben mit dem Oreschnik-Einsatz erstmals in der Kriegsgeschichte gezeigt, dass es tatsächlich möglich ist, Ziele von strategischer Bedeutung mit nicht-atomaren Einsatzmitteln effektiv zu vernichten. Bisher wurde darüber nur spekuliert; nun wurde durch Russland der Beweis für die Umsetzbarkeit dieser Annahme erbracht.
Diese Entwicklung hat eine duale Wirkung:
• | Sie senkt die Schwelle für Angriffe gegen strategische Objekte des Gegners deutlich ab. Wenn bisher davon ausgegangen wurde, dass für viele dieser Objekte/Ziele ein Kernwaffeneinsatz erforderlich sei, so können sie nun wirksam mit „konventionellen“/nicht-nuklearen Mitteln zerstört werden. Es geht hierbei darum, dass die bisherige Hemmschwelle gegen den Einsatz von Massenvernichtungswaffen wegfällt. Es entsteht vor allem keine radioative Strahlung und keine vom Wind unberechenbar verteilte radioaktive Wolke. Ebenso fällt die verheerende, großflächige atmosphärische Druckwelle von Kernwaffen weg. |
Wirkkörper wie die des Oreschnik-Komplexes können zielgerichtet gegen einzelne Objekte eingesetzt werden. |
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Damit erweitern sich in bisher noch gar nicht überschaubarem Ausmaß die Möglichkeiten der politischen operativen Planung und Kriegführung. |
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Ziele, die bisher dadurch „geschützt“ waren, weil dafür die Überschreitung der „nuklearen Schwelle“ nötig war, stehen nun sozusagen ungeschützt auf den Ziellisten potentieller Kriegsgegner. Als Beispiel: die beiden Aegis-Ashore-Stützpunkte der USA in Polen und Rumänien oder das NATO-Ostseekommando mitten in Rostock. |
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• | Andererseits „entlasten“ derartige Mittelstreckenwaffen die Bevölkerung um oder nahe wichtiger militärischer, politischer und wirtschaftlicher Objekte, die vorrangige Ziele in einem Krieg sind, von der bisherigen flächendeckenden atomaren Bedrohung. Das kann durchaus dazu führen, dass der Wiederstand gegen den Aufbau von Militärstützpunkten in der Bevölkerung eher noch geringer wird, als bisher. |
Raketenkomplexe wie die Oreschnik geben den Politikern jener Staaten, die über diese Technologie verfügen deutlich erweiterte Möglichkeiten und Instrumente in die Hand, um politische Ziele auch unter glaubhafter Androhung und Anwendung bewaffneter Gewalt zu erzwingen.
Ob und wie zum Beispiel die russische Führung diese Möglichkeiten nutzen wird bleibt weiterhin völlig offen. Die neuen technischen Mittel der Kriegführung haben keinerlei zwangsläufige Auswirkungen auf die politischen Kriegsziele (die seitens Russlands weiterhin eher verschwommen bleiben). Kriegsziele und die Mittel und Methoden zu ihrer Erreichung werden ausschließlich durch die politischen Entscheider festgelegt.
Diese erweiterten politischen Spielräume für Russland sind dennoch von besonderer Bedeutung, weil im Ukrainekrieg erstmal in der Geschichte die drei westlichen Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich in Koalition mit der „konventionellen Macht“ Ukraine als auch mit direktem Waffen- und Militäreinsatz Krieg gegen die Atommacht Russland führen.
Bisher wurde angenommen, dass ab einer als berechenbar erscheinenden Schwelle ein kriegführender, atomar bewaffneter Staat vor der Wahl stünde, entweder Atomwaffen einzusetzen, oder sich den politischen Kriegszielen seiner Kriegsgegner zu beugen. Schritt für Schritt wurde Russland vor und während des Ukrainekrieges durch seine Kriegsgegner in die Richtung dieser grundlegenden Entscheidung gedrückt.
Dieser Punkt, oder dieses Zeitfenster wurde nun durch Russland mit seinen neuartigen Mittelstreckenkomplexen vorerst in den dichtesten Nebel des Krieges geschoben. Den westlichen, gegen Russland Krieg führenden Atommächten, die über keine analogen Waffensysteme verfügen, wurden große Teile ihrer politischen und militärischen Handlungsspielräume gegenüber Russland faktisch in aller Öffentlichkeit genommen. Sie sehen sich jetzt selbst den Risiken konventioneller Schläge Russlands ausgesetzt. Das ist eine völlig neue Art der strategischen Abschreckung/Zügelung mit nicht-atomaren Waffen, die zudem keine Massenvernichtungswaffen sind.
In dieser Hinsicht ist der erstmalige Einsatz von Stoß- und Schockwellenwaffen mit Mittelstreckeneinsatzmitteln durchaus vergleichbar mit den Auswirkungen des 1. Atombombentests (USA am 16. Juli 1945 in Alamogordo) und dem 1. Satellitenstart (UdSSR, Sputnik-1 am 04. Oktober 1957). Die nicht-nuklearen Gefechtsköpfe der Oreschnik-Raketen sind nicht nur neu, sondern vor allem neuartig. Sie basieren auf neuartigen physikalischen Wirkprinzipien.
Die mobilen russischen Raketen-Komplexe decken mit ihrer Reichweite von voraussichtlich bis zu 5500 km je nach Stationierungraum die gesamte eurasische Landmasse bis weit in den Atlantik, die gesamte Arktis, Teile Nordafrikas, den gesamten Mittelmeerraum, Teile des Indischen Ozeans, Alaska, Canada und große Teile der US-Westküste ab.
Zugleich setzt jede russische landgestützte Mittelstreckenrakete eine bisher für Ziele in den oben genannten geographischen Regionen „blockierte“ sogenannte „strategische Rakete“ (ICBM, SLBM) für den Einsatz gegen das Kernland der USA frei. Die landgestützten Mittelstrecken-Komplexe Russlands führen so in kurzer Zeit zu einer deutlichen und für die USA spürbaren Verschiebung der Gewichtung der strategischen nuklearen Potentiale gegenüber Russland. Russlands neue landgestützte Mittelstrecken-Komplexe ermöglichen, alle Langstreckenwaffen (sogenannte strategische Waffen) gegen die USA auszurichten. Gleiches gilt übrigens schon immer für die analogen Waffenkomplexe Chinas.
Weil die neuen russischen Mittelstreckenraketen vom Typ „Oreschnik“ gegen Ziele strategischer Bedeutung vorgesehen sind, werden sie in Russland analog zu den unter INF zu vernichtenden ballistischen Pershing-II-Raketen als „Raketen strategischer Zweckbestimmung (nasnatschenije) mit mittlerer Reichweite“ eingestuft. Deshalb unterstehen die Oreschnik-Komplexe dem Oberbefehlshaber der strategischen Raketentruppen Russlands.
Entwicklung und Produktion technologisch so anspruchsvoller Waffen wie die neuen russischen Mittelstreckenkomplexe erfordern im Vergleich zu früheren Waffenentwicklungen eine grundlegend neue wissenschaftliche und technologische Basis. Insbesondere die seit einigen Jahren in Russland, China und Nordkorea produzierten Hyperschall-Gefechtsteile, die in der Lage sind, sich selbstständig im Raum zu orientieren, zu manövrieren und ihre Ziele bis auf wenige Meter genau anzufliegen, sind eine völlig neue Erscheinung in der Waffentechnik.
Hyperschallgeschwindigkeit erreichen Gefechtsköpfe von Raketen mittlerer und großer (strategischer) Reichweite schon immer; DAS ist nicht neu. Die MIRV-Technologie ermöglichte es seit Jahrzehnten, in bestimmten physikalisch bedingten Grenzen, mehrere Sprengköpfe individuell entlang einer ballistischen Flugbahn auf verschiedene Ziele auszurichten. Die Gefechtsladungen mussten „lediglich“ gegen die Hitze beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre geschützt /gehärtet) werden. Das ist der wissenschaftliche und technologische Stand über den auch die westlichen Atommächte bisher verfügen.
Russland (im Grundsatz auch China/Nordkorea) hat vor mehreren Jahrzehnten begonnen, aus den alten Grenzen der Entwicklung von Hochgeschwindigkeitswaffen auszubrechen. Dazu musste eine ganze Reihe grundlegend neuer Technologien und Werkstoffe entwickelt werden.
Jeder Körper, der sich mit Hyperschallgeschwindigkeit durch ein Gas bewegt, erzeugt unter anderem so viel Wärme, dass er schließlich von einer Plasmawolke (4. Aggregatzustand) umgeben ist. Die herkömmliche Annahme war, dass damit auch die Möglichkeit, sich von „innerhalb“ der Plasmahülle im Raum zu orientieren, verloren geht. Ein Gefechtskopf kann also nicht mehr selbst seine Lage im Raum und zum Ziel bestimmen, geschweige denn, diese Lage so verändern, dass er zielgenau aufschlägt. Dieses Problem haben russische Wissenschaftler bereits bei dem Hyperschallkomplex großer Reichweite „Avangard“ gelöst. Nun ist ihnen das auch für die Mittelstreckenwaffen Oreschnik gelungen.
Die Geschwindigkeit von Hyperschallflugkörpern erfordert auch völlig neue Werkstoffe für den Antrieb und die äußere Hülle dieser Körper. Dabei steht stets das Problem, dass diese Werkstoffe nicht zu schwer oder zu teuer sein dürfen und nicht andere Aufgaben wie die Lageorientierung oder Kommunikation unmöglich machen dürfen. Auch dieses Problem hat Russland (und China/Nordkorea) gelöst. Bei Werkstoffforschung und Produktion dieser Stoffe ist Russland schon seit Jahren in führender Position.
Die gesamte Elektronik zur Steuerung der neuen Mittelstreckenraketen und insbesondere ihrer autonomen Gefechtsköpfe musste neu entwickelt werden. Dabei geht es um superschnelle und hohen Beschleunigungen gegenüber widerstandsfähige Elektronik für etliche Minicomputer in jedem Raketenkörper und Gefechtskopf.
Gleiches gilt auch für die gesamte Sensorausstattung und Kommunikationstechnik von Rakete und Gefechtsköpfen.
Der Einsatz der Oreschnik durch Russland bedeutet, dass das Land in den vergangenen Jahren entsprechende umfangreiche Produktionskapazitäten für neuartige Sensoren, Chips und Computer geschaffen hat. Gleichzeitig wurden tausende hochqualifizierte Mitarbeiter in den entsprechenden Betrieben und für die Raketentruppenteile ausgebildet.
Die westlichen Staaten, die an Hyperschall-Waffen großer und mittlerer Reichweite arbeiten sind an den o.g. Problemen und einer ganzen Reihe weiterer Aufgaben bisher gescheitert. Sie haben in Unterschätzung ihrer Gegner Russland und China mindestens zwei Jahrzehnte der entsprechenden Entwicklungen „verschlafen“. Unter anderem wegen der Privatisierung der Rüstungs-Entwicklung und –Produktion explodierten die Entwicklungs- und Produktionskosten bis auf ein nicht mehr tragbares Niveau. Diese Entwicklung ist im Westen faktisch auch nicht mehr rücknehmbar.
Nur unter Einsatz extrem großer Mittel werden einige westliche Staaten (vor allem die USA) in einigen Jahren zu Russland und China in der Entwicklung wieder aufschließen können. Machbar ist das.
Weil es aber mittlerweile auch für den Westen zwingend zum Ausgleich der Handlungsspielräume erforderlich ist, werden grundlegende wirtschaftliche und politische Umorientierungen unabdingbar notwendig. In gewisser Weise beendet auch der erneut eingesetzte Rüstungswettbewerb die weitere Verfolgung so selbstzerstörerischer Gesellschaftskonzepte wie die Vergeudung und Umlenkung gesellschaftlichen in die Hände immer weniger Oligarchen durch den angeblichen Kampf gegen Klimawandel und für Dekarbonisierung. Ebenso muss die unkontrollierte Zuwanderung unqualifizierter, aber zu ernährender Immigrationsströme beendet werden. Andernfalls ist das Ende der westlichen Gesellschaften absehbar.
Die neuen russischen Mittelstreckenkomplexe sind in ihrer Konsequenz für den Westen nur die Spitze des Eisbergs. Gleichzeitig vollziehen sich im gesamten russischen Rüstungswirtschaftskomplex (einschließlich der vorgelagerten wissenschaftlichen Einrichtungen) reale Veränderungen der tiefgreifenden Modernisierung, Produktivitätssteigerung und Erweiterung.
Vieles ist bereits in Arbeit, vieles steht vor dem Beginn der Umsetzung. Besonders bedeutsam dabei ist, dass die Mehrzahl dieser Entwicklungen in Russland (bei allen „normalen“ Geburtswehen und Schmerzen) auch auf die zivile Wirtschaft und Gesamtgesellschaft ausstrahlt. Etliche neue Technologien sind doppelt-verwendungsfähig und stärken die Zivilwirtschaft in mannigfaltiger Hinsicht. Auch diese Entwicklung ist kein Selbstläufer. Sie ist aber angesichts des begonnenen Elitenaustausches in Russland erwartbar.
Russland, seine staatlichen und privaten Unternehmen und Großkonzerne erhalten auch dadurch starke Impulse der Produktivitätssteigerung. Durch die zwangsläufig erforderliche Reindustrialisierung Russlands/Belorusslands ergeben sich neue, umfangreiche Exportmöglichkeiten sowohl bei militärischen als auch zivilen Gütern.
Noch hat der kollektive Westen die Möglichkeit umzusteuern und ähnlich wie im 1. Kalten Krieg Modalitäten für ein halbwegs friedliches, kooperatives Zusammenleben zu verhandeln. Wie damals wird dies nicht zu einem tatsächlichen Frieden, sondern bestenfalls zu einem kalten Krieg führen. Das ist dennoch besser, als die seit Jahren laufende Eskalation im „globalen hybriden Krieg des Westens“ gegen Russland, wie es vor einigen Jahren der russische Außenminister Lawrow nannte. Denn auch im 20. Jahrhundert sind die damaligen Großmächte in den 1. Weltkrieg weder hineingestolpert, noch hinein-getraumwandelt. Sie hatten stets die Wahl, wie sie handeln wollten; welchen Schritt sie gehen wollten. Heute ist das nicht anders, als vor 100 Jahren.
Ob und wie diese Möglichkeiten heutzutage genutzt werden, bleibt abzuwarten. Die dafür zwingend nötigen inneren Wandlungsprozesse, vor allem der erforderliche Elitenaustausch, ist nicht nur in Russland (und China) ein langer, schmerzhafter und widersprüchlicher Prozess.
Lutz Vogt, 14.12.24