08.05.2023

Erinnerung an den 1. Mai

 

Maifeier und Kleine Friedensfahrt  - das war damals in meiner Kindheit für uns alle ein großes Erlebnis im Heimatdorf an der Werra. So groß, dass durchaus viele Einzelheiten, ja sogar ganze Episoden, in Erinnerung geblieben sind. Selbst nach Jahrzehnten und nunmehr, sehr wahrscheinlich sogar, ganz und gar unauslöschlich.

An jenem 1. Mai damals war auch ich wieder unter den Startern der Kleinen Friedensfahrt. Mindestens zehn Teilnehmer wollten diesmal gewinnen und den Vorjahressieger Manfred Blum, nun in der 7. Klasse unserer Heinrich-Heine-Oberschule, unbedingt in diesem begehrten Wettkampf schlagen. Das war das erklärte Ziel. Besonders trauten wir das Bernd Grobe und Werner Neumann zu. Die waren schon in der 10. Klasse, galten als sehr sportlich und spielten in der B-Jugendmannschaft von Motor Barchfeld guten Fußball im Punktspielbetrieb. Mehrere Lehrer, allen voran Sport- und Geographielehrer Ferdinand Ludwig, Pionierleiterin Erika Schröder, viele Unterstützer aus dem Patenbetrieb VEB Kettenfabrik, Sportler und Funktionäre aus verschiedenen Sektionen der BSG, Feuerwehrmänner, DRK-Sanitäter und viele, viele andere bereiteten für uns Kinder und Jugendliche bis 16 die Kleine Friedensfahrt vor. Und sie wurde wieder ein großes Ereignis, auch an diesem 1. Mai. „Aded“, so nannten wir unseren Mitschüler Manfred Blum aus der 7., war am Ende wieder der Sieger. Bernd Grobe und Werner Neumann hatten ihn nicht schlagen können. Auf dem Sportplatz war Start, und auf dem Sportplatz war auch das Ziel unseres Radrennens. Und fast das ganze Dorf war auf dem Sportplatz versammelt, viele Eltern waren voller Erwartungen. Und ich selbst war zu meiner grossen Freude und Überraschung diesmal sogar Vierter geworden. Den Preis neben der Urkunde, ein Fotoalbum mit grünem Kunstledereinband, bewahre ich heute noch auf. Mit vielen Fotos aus jenen Jahren. Damals gab es die Kleine Friedensfahrt in vielen hundert, wahrscheinlich waren es sogar mehr als eintausend , kleinen und großen Dörfern und Städten der Republik zwischen Kap Arkona und Inselsberg. Großes Vorbild für diese massenhaft durchgeführte Sportveranstaltung der Kinder war die Internationale Radfernfahrt für den Frieden Warschau-Berlin-Prag, deren Start- und Zielorte zwischen den drei Haupstädten jährlich wechselten. Die Friedensfahrt war das größte Radrennen der Amateure auf der Welt und wurde erstmals im Jahre 1948 ausgetragen, damals noch ohne Berlin. Der Doppelsieg von unserem Mitschüler „Aded“ war damals ein großartiger Erfolg, der sich wohl in Barchfeld so nicht in jenen Jahren wiederholen sollte.

Damals, das war konkret das Jahr 1960. Die erste Maiwoche neigte sich ihrem Ende. Ich besuchte noch den Kinderhort, wenig später schon nannte man diese behütende Einrichtung den Schulhort, und es war Donnerstag oder Freitag. Wir älteren Hortkinder hatten ein ungeschriebenes Privileg und konnten täglich im Erzieherinnenzimmer am Besprechungstisch die zwei ausliegenden Tageszeitungen lesen oder, wenn wir das wollten, auch nur in ihnen herumblättern. Meistens las ich die kürzeren Meldungen, betrachtete mir die Fotos und las die dazugehörigen Bildtexte. Das hat mich nicht dümmer werden lassen. Das Gegenteil war der Fall, denn mein Allgemeinwissen steigerte ich so erheblich. Auch geografisch wurde ich ziemlich sicher, denn viele der Texte waren mit Karten illustriert. So bekam man eine noch konkretere Vorstellung zu den Inhalten ganz unterschiedlicher Texte. An jenem besagten Tag las ich im „ND“, wir aus der Achten waren dieser Abkürzung natürlich mächtig und wußten, dass diese Zeitung täglich aus Berlin kam. Eine Meldung las ich gleich nochmal, so wichtig erschien sie mir, und erfuhr dabei folgendes: Am 1. Mai 1960, gegen 14.30 Uhr (MEZ) wurde im Gebiet der sowjetischen Großstadt Swerdlowsk eine Militärmaschine der USA abgeschossen. Die Maschine vom Typ U2 wurde aus großer Höhe mit einer Rakete der Luftverteidigung vom Himmel geholt. Sie war unrechtmäßig in den Luftraum der UdSSR eingedrungen und vor dem Abschuss lange vom Radar erfaßt und verfolgt worden. Das US-amerikanische Flugzeug war zu Spionagezwecken in Pakistan gestartet und sollte nach stundenlangen Flug im NATO-Land Norwegen landen…. Nachdem jeder von uns das Gleiche gelesen hatte, begann unter uns ein langes Gespräch. Manches konnten wir nicht verstehen, manches wurde auch durch unsere Phantasie beflügelt. Aber am Wahrheitsgehalt der Zeitungsmeldung hatten wir keinen Zweifel. Und Gesprächsstoff für lange Zeit!

Schon beim Lesen hatte ich eine Überlegung: Mensch, da lief ja gerade unsere Kleine Friedensfahrt bei schönem Wetter. Die Sonne schien, die Straßen und Feldwege waren trocken. Keine Rutschgefahr, keine zusätzliche Sturzgefahr auf der Rennstrecke. Unser Kurs führte nach dem Start sofort auf der Landstraße in Richtung Bad Liebentein, oben auf dem Liebensteiner Berg wurden die Bergprämien ausgetragen, an der Eisenbahnhaltestelle Marienthal ging es hinunter in Richtung Meimers, dann über die Schotterstraße nach Sorga, den Forstort Heide entlang zur Wegekreuzung Meimers. Den Meimerser Weg hinunter durch den Vogelgraben zur ersten „Autobahnbrücke“, unterhalb der Heideteiche querten wir erneut die Bahnlinie. Mit dem alten Sandsteinbruch an der Bahnlinie kam wohl auch der schwierigste und zugleich gefährlichste Streckenabschnitt; allerdings war da auch schon das Ziel Sportplatz im Blick der siebzig oder achtzig Teilnehmer am Rennen. Jetzt noch etwa 800 m gerade Strecke und wir alle hatten das Ziel erreicht. Auch bei diesem Rennen brauchte der Schlusswagen, ein H 3A vom Patenbetrieb, keinen Teilnehmer einzusammeln. Stürze waren ausgeblieben, keiner musste das Rennen aufgeben. Die Sanitäter vom DRK, Schwester Berta von der Betriebssanitätsstelle Kettenfabrik, beide ABV der Volkspolizei, Feuerwehrmänner, unsere Lehrer und Eltern, alle schätzten diesen makellosen Umstand wohl noch bedeutend höher ein als wir, die Aktiven(!), selbst. Und 14.30 Uhr MEZ? Da waren wir zwischen Meimerser Wegekreuz und erster „Autobahnbrücke“, jener Streckenabschnitt im Flurteil Vogelgraben und inmitten grüner Wiesen und Weiden.

Später erfuhr die Welt noch viele Einzelheiten über den Spionageflug am 1. Mai 1960 und über den Piloten Francis Gary Powers, der damals 30 Jahre alt war. Im Jahre 1950 begann er die Pilotenausbildung und war bald im Koreakrieg im Einsatz. Der Auslandsgeheimdienst CIA warb den Piloten 1956 von der Luftwaffe ab und er wurde Pilot des neuartigen Spionageflugzeuges U 2. Dieses Spionageflugzeug war entwickelt worden, um in großer Höhe Aufklärungsflugzeuge über der Sowjetunion durchzuführen. Übrigens startete der erste Spionageflug dieser Art gegen die Sowjetunion bereits am 4. Juli 1956 vom US-Militärflugplatz Erbenheim in Wiesbaden. Fast vier Jahre lang überflogen diese Spionageflugzeuge in unregelmäßigen Abständen die Sowjetuinion. Powers war 1960 bis zu seinem Abschuss im Gebiet Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) südlich des Urals auf dem Lutwaffenstützpunkt Incirlik im NATO-Land Türkei stationiert. Powers U2-Maschine wurde mit einer neuentwickelten S-75-Boden-Luft-Rakete in einer Höhe von 20.000 m abgeschossen, er schaffte den Ausstieg in einer Höhe von 10.000 m. Eine mitgeführte tödliche Giftnadel, versteckt in einem Dollarstück, wendete der Pilot nicht an. Am 19. August 1960 verurteilte der Oberste Gerichtshof der UdSSR Powers wegen Spionage zu zehn Jahren Haft. Powers konnte bei seinem Absturz nicht die für diesen Fall vorgesehene Sprengung der mitgeführten Kameras auslösen, die entscheidenden Beweismittel des Spionagefluges lagen dem Gericht vor. Powers hatte mit der U 2 kurz vor seinem Abschuss die Kerntechnische Anlage Majak überflogen, an der geographischenGrenze zwischen Europa und Asien gelegen.

In den USA ging man davon aus, dass das Flugzeug beim Abschuss zerstört und Powers getötet worden sei. Das wäre dem Weißen Haus wohl die liebste Variante gewesen, denn zunächst tischte man der Welt ein Märchen, zutreffender eine Lüge, auf. Am 6. Mai 1960 wurde der Presse dazu im NASA-Flugerprobungszentrum auf der Edwards Air Force Base eine U 2 mit gefälschten Markierungen der NASA präsentiert. Das sollte beweisen, dass Powers ein solches Flugzeug zur Wettererkundung geflogen hätte. Einen Tag später, am 7. Mai 1960, wurde von Seiten der Sowjetunion der Welt im Fernsehen der lebende Pilot und Spionageausrüstung aus dem Flugzeugwrack präsentiert. Powers hatte vor den Untersuchungsrichtern bereits ein Geständnis abgelegt. Er war damals von russischen Bauern auf einem Feld im Swerdlowsker Gebiet nach seiner Landung mit dem Fallschirm gestellt und gefangen genommen worden, ohne jede Waffe.


In jenen Maitagen füllte noch eine ganz andere Schlagzeile manche Tageszeitung von Hünfeld über Fulda bis Bonn und Hamburg westlich der Grenze, die zwischen beiden deutschen Staaten seit deren Gründung existierte. Zugegeben, diese beschäftigten sich mit einem ganz anderen Inhalt. Deren Wahrheitsgehalt wurde auch von der Regierung der DDR überprüft, denn einer ihrer Polizeibehörden sagte man in Schlagzeilen und den Texten Übles nach. Und so landete am 11. Mai des Jahres 1960 in Berlin auf dem Schreibtisch von Walter Ulbricht, denn der war seit letztem Februar auch Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates, eine hausinterne Information mit nachfolgendem Inhalt:

„Laut Mitteilung des Kommandeurs der III. Brigade der Deutschen Grenzpolizei sind die Meldungen der Westpresse, wonach ein 30 Mann starkes bewaffnetes Kommando der Deutschen Grenzpolizei ein etwa 90 Quadratmeter großes Stück des Bundesgebietes im Kreis Hünfeld zu besetzen versuchte, von A bis Z erfunden. Zum Zeitpunkt des angeblichen Zwischenfalls wurde in dem betreffenden Gebiet unter Aufsicht von Angehörigen der 8. Kompanie Geismar durch die MTS der Zehn-Meter-Kontrollstreifen gepflügt und geeggt, ohne jegliche Veränderungen in seinem bisherigen Verlauf. Von westlicher Seite marschierte zum gleichen Zeitpunkt ein Zug Bundesgrenzschutz auf. Als am Abend die Arbeiten wegen Dunkelheit eingestellt wurden, trat ein Offizier des Bundesgrenzschutzes an den Kontrollstreifen heran und rief den Angehörigen unserer Grenzpolizei die Frage zu: „Sind sie fertig?“ Als er keine Antwort bekam, sagte er laut und deutlich: „Dann können wir ja auch gehen.“ Zu bemerken ist noch, daß in diesem Gebiet eine Straße, die zwei Orte der Bundesrepublik miteinander verbindet, ca. 80 bis 90 Meter auf unserem Gebiet verläuft. Laut Mitteilung des Brigadekommandeurs können Bürger der Bundesrepublik bisher dieses Straßenstück benutzen, ohne kontrolliert zu werden. Der Kontrollstreifen verläuft unmittelbar am Strassenrand. Am 10. Mai 1960 erschienen Offiziere des Bundesgrenzschutzes und baten darum, den Grenzstein wieder aufzurichten, damit er besser sichtbar wird.“
Wieder einmal war eine Zeitungsente geplatzt! Aber was sollte diese wohl in der zeitlichen Nähe zum U2-Abschuss bei den Leserinnen und Lesern in Hünfeld, Fulda, Bonn, Hamburg und sonst wo bewirken? Ihre Erfinder sind längst nicht mehr in den Redaktionsbüros tätig und viele von ihnen sicher auch schon nicht mehr unter den Lebenden.

Rainer Döhrer , 2023

 

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