06.03.2023

 

Das Pulverfass Transnistrien

von Dörte Hansen

Am 23. Februar 2023 wandte sich das russische Verteidigungsministerium mit eindringlichen Worten an die Weltöffentlichkeit und sprach zugleich eine deutliche Warnung in Richtung USA, Ukraine und NATO aus: Es gebe, so heißt es, starke Anzeichen dafür, dass das Kiewer Regime mit Wissen und Billigung der NATO eine Provokation in der Pridnestrischen Moldauischen Republik (hierzulande besser bekannt als Transnistrien) plane, um so einen Vorwand für einen Angriff auf die dort stationierten russischen Friedenstruppen zu schaffen. Ein solcher Angriff werde als Angriff auf Russland selbst interpretiert und man werde "adäquat darauf antworten" (www.kp.ru). Die Reaktion der westlichen und ganz speziell der deutschen Medien folgte geradezu instantan, und fiel - wen wundert's - genauso heuchlerisch und einseitig aus wie die gesamte sogenannte "Berichterstattung" über Ursachen und Verlauf des Ukraine-Konflikts. Schon seit einigen Wochen versuchen unsere Mainstream-Medien die zunehmende Kriegsmüdigkeit und Skepsis in der deutschen Bevölkerung zu bekämpfen, sind sich selbst ehemals seriöse Zeitungen und Fernsehsender nicht mehr zu schade, mit polemischen Schlagzeilen wie "Wird Moldau Putins nächstes Opfer?" um sich zu werfen. Neben einem gehörigen Maß an journalistischer Unverantwortlichkeit bezeugen derart reißerische Schlagzeilen einen eklatanten Mangel an grundlegenden Kenntnissen in Geographie - von einem nicht minder großen Mangel an geschichtlichem Hintergrundwissen ganz zu schweigen. Dabei reicht ein einfacher Blick auf die Landkarte, um die Absurdizität dieser Schlagzeilen zu zeigen. Die Republik Moldau hat nämlich gar keine gemeinsame Grenze mit der Russischen Föderation, sondern lediglich mit Rumänien und der Ukraine, und zwar mit jenen Gebieten der Ukraine, die gar nicht zum Kampfgebiet gehören. Lawrows Warnung bezieht sich auf die in Transnistrien stationierten russischen Friedenstruppen, und genau hier liegt das Problem: Transnistrien war Teil der Moldauischen SSR und erklärte sich nach deren am 27. August 1991 erfolgten Austritt aus der Sowjetunion und gleichzeitiger Gründung der Republik Moldau für unabhängig - mit gutem Grund, wie wir bald sehen werden. Die nationalistische Regierung in Chișinău wollte das natürlich nicht hinnehmen; der Konflikt schaukelte sich hoch und eskalierte Anfang März 1992 in blutigen Auseinandersetzungen zwischen Transnistrien und den moldauischen Truppen, die erst durch das Eingreifen der zu dieser Zeit noch in Transnistrien stationierten 14. Armee beendet werden konnten. Durch russische Vermittlungen kam es zur Einrichtung einer multinationalen Friedenstruppe aus russischen, moldauischen und transnistrischen Soldaten. Transnistrien ist seitdem de facto unabhängig, aber allein schon aufgrund seiner Größe und Einwohnerzahl (ca. 347000 Einwohner) ökonomisch und militärisch sehr stark mit der RF verbunden. Bis heute hat die Republik Moldau ihre Ansprüche auf das östlich des Dnjestr gelegene "Staatsgebiet" nicht aufgegeben und wird in dieser Einstellung durch die Tatsache bestärkt, dass Transnistrien bisher nur durch die RF und die anderen Mitglieder der Gemeinschaft nicht-anerkannter Staaten anerkannt wird. Was aber ist dran an Lawrows Behauptung? Welche Gründe hätte Kiew, für einen inszenierten Überfall? Wer die Gefährlichkeit der gegenwärtigen Situation verstehen will, muss die geschichtlichen Hintergründe des Transnistrien-Konflikts kennen.

 
Transnistrien: Ein geschichtlicher Exkurs

Ihren Anspruch auf Transnistrien begründet die moldauische Regierung in Chișinău damit, dass das transnistrische Staatsgebiet vor dem Zerfall der Sowjetunion Teil der Moldauischen SSR war und verkennt dabei die Tatsache, dass diese Sowjetrepublik genau genommen keine historisch gewachsene "Nation", sondern ein Kunstgebilde, das nur wenige Jahrzehnte Bestand hatte, war. Der größte Teil Transnistriens kam 1792 durch den Vertrag von Küçük Kaynarca an das Russische Zarenreich; zuvor hatte es zum Osmanischen Reich gehört. In der Folge zogen russische Siedler in das bisher fast ausschließlich von Tataren, Moldauern und Ukrainern bewohnte Gebiet. Russische Städte, darunter die transnistrische Hauptstadt Tiraspol, wurden gegründet. Zwei Jahrzehnte später verlor das Osmanische Reich auch das überwiegend von Rumänen bewohnte Bessarabien (1) an das Zarenreich. Auch hier kam es danach zu einem starken Zuzug von Ukrainern und Russen, Die Rumänen blieben aber in der Mehrheit. Als die politische Landkarte Europas nach dem Ende des Ersten Weltkriegs neu gezeichnet wurde, kam Bessarabien daher zu Rumänien, während Transnistrien hingegen der neugegründeten Moldauischen Autonomen SSR angegliedert wurde, die wiederum Bestandteil der Ukrainischen SSR war. Im Jahre 1940 wurde Bessarabien kurzzeitig von der Sowjetunion annektiert, jedoch nur wenige Monate später, nach dem faschistischen Überfall auf die UdSSR, durch das mit Deutschland verbündete Rumänien zurückerobert. Nach dem Ende des Krieges wurde das westlich des Dnjestr gelegene Bessarabien endgültig der Sowjetunion angegliedert und in der Folge mit Transnistrien zur Sowjetrepublik Moldau vereinigt.

Dieser über weite Zeiträume hinweg getrennt verlaufenen geschichtlichen Entwicklung entspricht eine deutlich unterschiedliche ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in Transnistrien einerseits und der Republik Moldau andererseits: In Transnistrien lebten 1989 etwa 25.4% Russen und 29% Ukrainer, die, ebenso wie viele dort lebende Moldauer, Bulgaren, Tataren und Gagausen, Russisch als Muttersprache angaben. Im übrigen Gebiet der damaligen Moldauischen Sowjetrepublik hingegen wurde überwiegend Rumänisch, also eine romanische Sprache, gesprochen. Sowohl russisch als auch rumänisch waren als Amtssprache anerkannt. Das aber sollte sich ändern.

Spannungen zwischen den kulturell sehr unterschiedlichen rumänisch- und russischsprachigen Bevölkerungsgruppen existierten unzweifelhaft auch während der Zeit der Sowjetunion, allerdings eher unterschwellig. Die mit der Perestroika einhergehende zunehmende Erosion der Moskauer Zentralgewalt führte auch in der Moldauischen Sowjetrepublik zu Machtkämpfen zwischen moldauischsprachigen, nationalistischen Kadern und dem etablierten, russischsprachigen Establishment. Zunehmend wurden nationalistische Parolen laut. Auf der Grundlage bestehender Vorurteile schürten Scharfmacher auf beiden Seiten Resentiments, so dass der Riss zwischen den russisch- und moldauischsprachigen Bevölkerungsteilen immer tiefer wurde. Die Gründung der "Moldauischen Volksfront" im Mai 1989 spricht Bände. Einen Monat später wurde Mircea Snegur, ein Vertreter der radikal-nationalistischen Bewegung, zum Vorsitzenden des Moldauischen Obersten Sowjets gewählt. Noch im selben Jahr, also noch zur Zeit der Sowjetunion, wurde Russisch als zweite Amtssprache abgeschafft; die Empörung der russischsprachigen Minderheiten ist nachvollziehbar. Mit jedem Monat verschärfte sich die Lage: Bei den im Januar 1990 abgehaltenen Wahlen zum Obersten Sowjet der Moldauischen SSR konnte die nationalistische "Volksfront" deutliche Zugewinne verzeichnen. Zur selben Zeit organisierte der Vereinigte Rat der Arbeiterkollektive ein Referendum über die Frage, ob Transnistrien autonom werden sollte: 96% der abgegebenen Stimmen sprachen sich dafür aus. Die Nationalisten in Chișinău wiederum machten aus ihren abspalterischen Bestrebungen keinen Hehl und erklärten sich im Juni 1990 für souverän. In dieser Situation gab es für die pro-sowjetischen Kräfte in Transnistrien nur eine Möglichkeit: Das östlich des Dnjestr gelegene Gebiet sollte als Transnistrische Sowjetrepublik weiterhin Bestandteil der Sowjetunion bleiben. Für Chișinău war der Verlust dieses abtrünnigen Gebiets hingegen undenkbar.

Der gescheiterte Augustputsch des Jahres 1991 in Moskau war gewissermaßen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Am 27. August erklärten die Nationalisten in Chișinău den Austritt der Republik Moldau aus der UdSSR und forderten den Abzug sämtlicher noch in Moldau stationierten sowjetischer Truppen. Russisch wurde aus dem offiziellen Sprachgebrauch verbannt - und das, obwohl große Teile der Bevölkerung Russisch als Muttersprache angaben! Auf Massendemonstrationen wurde die Einschränkung der Minderheitenrechte in der Republik Moldau skandiert - Forderungen, die man in Chișinău gerne hörte. In dem mehrheitlich russischsprachigen Transnistrien konnte und wollte man diese immer stärker werdende Benachteiligung in allen Teilen des Lebens nicht hinnehmen, zumal noch "schlimmeres" zu befürchten war: In Chișinău träumte man von einer Wiedervereinigung mit Rumänien! Zur Erinnerung: 1918 hatte sich der moldauische Landesrat für den Anschluss Bessarabiens an Rumänien ausgesprochen. Bessarabiens, wohlgemerkt - nicht Transnistriens! Wie oben bereits erwähnt, gehörte das westlich des Dnjestr gelegene Gebiet seit diesem Zeitpunkt tatsächlich zu Rumänien, bevor es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Transnistrischen Autonomen Sowjetrepublik zur Moldauischen SSR vereinigt wurde.

Der befürchtete Zwangsanschluss an Rumänien dürfte den endgültigen Ausschlag für die Entscheidung Transnistriens gewesen sein, sich für unabhängig zu erklären und mit dem Aufbau eigener staatlicher Strukturen zu beginnen. Mit diesem "Verrat" konnte sich Chișinău nicht abfinden, zumal Transnistrien das wirtschaftliche Zentrum der Republik Moldau war. Im März 1992 kam es zum offenen Bürgerkrieg. Als moldauische Einheiten im April auch noch die wichtige transnistrische Stadt Bender angreifen, ist die letzte "rote Linie" überschritten: Die in Transnistrien stationierte 14. Armee der RF unter General Alexander Lebed greift ein. Wohl oder übel muss sich die Regierung in Chișinău am 6./7. April zu einem Waffenstillstandsabkommen bereit erklären. Doch der Frieden ist trügerisch. Nachdem es schon im April immer wieder zu vereinzelten Kämpfen gekommen war, greifen moldauische Gruppen im Mai Dubăsari an, wobei auch dort stationierte Truppenteile der 14. Armee unter Beschuss geraten. Ein Versuch Moldaus zur Rückeroberung der Stadt Bender wird von der 14. Armee im Juni erfolgreich abgewehrt. Der nationalistische Präsident Mircea Snegur muss wohl oder übel einsehen, dass er sein Ziel, die Wiedereingliederung des abtrünnigen Transnistriens, vorerst nicht erreichen kann. Im Juli 1992 einigt er sich mit dem Präsidenten der RF Boris Jelzin über ein Waffenstillstandsabkommen und über die Einrichtung einer gemeinsamen Friedenstruppe (Joint Control Commission) aus russischen, moldauischen und transnistrischen Soldaten. In den Folgejahren ließ die Führung in Chișinău nichts unversucht, auf dem Parkett der internationalen Diplomatie um Unterstützung für ihre Sache zu werben. Mit Erfolg: Auf Druck der OSZE verpflichtete sich Boris Jelzin zum Abzug aller noch in Transnistrien verbliebenen russischen Truppen bis 2002, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass mit dem Abzug der russischen Truppen auch der rechtliche Status Transnistriens endgültig geklärt werden müsse. Letzteres scheitert jedoch bis heute daran, dass die Führung in Chișinău ihre Gebietsansprüche auf Transnistrien nicht aufgeben will, und so verblieben auch die Einheiten der 14. Armee in Transnistrien. Nur ihre Präsenz verhinderte in der Vergangenheit ein Wiederaufflammen des Konflikts, denn Spannungen existieren nach wie vor.

 
Die Republik Moldau - die Büchse der Pandora?

Aus moldauischer Sicht ist das Abkommen vom Juli 1992 äußerst unbefriedigend: Man wurde nicht nur an der gewaltsamen Wiedereingliederung des abtrünnigen Transnistriens gehindert, sondern musste auch eine Neutralitätsklausel in die Verfassung aufnehmen - eine Klausel, die allerdings mittlerweile reichlich aufgeweicht wurde: Seit Mitte 2022 ist die Republik Moldau EU-Beitrittskandidat, jedoch nicht Mitglied der NATO. Für die "Falken" innerhalb der NATO-Führung ist das jedoch kein Hinderungsgrund. Auf die Frage, wie sich die NATO im Fall eines russischen Angriffs auf die Republik Moldau verhalten würde, antwortete der NATO-Generaladjunkt Mircea Geoană am 24. Februar diesen Jahres dem rumänischen Fernsehsender Pro TV wie folgt:
"Moldau ist zwar kein NATO-Mitglied, aber es ist dennoch unser Partner. Moldau ist sowohl Partner der NATO als auch der EU. Wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass die Republik Moldau seit dem Transnistrien-Krieg vor 30 Jahren eine Neutralitätsklausel in seiner Verfassung hat. Und das müssen wir akzeptieren, denn wir sind ja eine internationale Organisation.
Was ich aber von Präsidentin Maia Sandu sehe, ist die Erkenntnis, dass Neutralität nicht bedeuten muss, militärisch schwach zu sein und das eigene Territorium nicht zu verteidigen. Daher werden wir entsprechende Anfragen, falls sie solche an uns richten, nach Möglichkeit positiv beantworten." (https://www.libertatea.ro/stiri/mircea-geoana-nato-sprijin-republica-moldova-atac-rusia-4460620)

Ein russischer Angriff auf die Republik Moldau, gefolgt von einem Hilfeersuchen der moldauischen Regierung, könnte genau denjenigen, die das Nordatlantische Verteidigungsbündnis unbedingt in eine direkte kriegerische Konfrontation mit der Russischen Föderation verwickeln wollen, den perfekten Vorwand liefern, um dieses Ziel zu erreichen. Von einer derartigen Eskalation des Krieges könnte sich nur einer Nutzen erhoffen: Das Regime in Kiew. Mit der Eröffnung einer zweiten Front, so scheint man dort zu glauben, käme es einerseits zu einer Aufsplitterung und mithin zu einer Schwächung der russischen Streitkräfte an der "Heimatfront". Anderseits könnte man auch als "helfender Nachbar" in Erscheinung treten und, wenn die eigenen Truppen schon mal da sind, sich Transnistrien gleich ganz einverleiben. Nur gibt es da ein klitzekleines Problem: Die Russische Föderation hat nicht das geringste Interesse daran, die Republik Moldau anzugreifen. Aber das faschistische Deutschland hat ja bereits vor mehr als 80 Jahren eine Blaupause geliefert, was in einem solchen Fall zu tun ist. Damals fingierten als polnische Soldaten verkleidete Deutsche einen Überfall - es war der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Genau DAS ist es, wovor Lawrow und das russische Verteidigungsministerium so eindringlich warnen. Fanatische Asow-Anhänger in russischen Uniformen - wiederholt sich hier die Geschichte?

Im Westen ist man, so scheint es, blind und taub für die Gefahr; von deutschen Mainstream-Medien werden die russischen Warnungen gar ins Gegenteil verkehrt. Wie ernst die Situation ist, zeigt hingegen die Reaktion der rumänischen Regierung, die eindringlich an BEIDE Seiten appelliert, sich im Tonfall zu mäßigen und bestehende Dissonanzen auf diplomatischem Wege zu lösen.

Und Selenskyi? Der will natürlich von nichts etwas wissen und gibt sich dabei nicht einmal mehr Mühe, seine Heuchelei zu verbergen. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich die Stimmen der Vernunft wenigstens dieses eine Mal durchsetzen, damit es nicht erneut heißt: "Ab 4.45 Uhr wird zurückgeschossen."

 
Nachtrag:

Zu Zeiten der Sowjetunion lagerten in den auf dem Gebiet der Moldauischen SSR befindlichen Depots der 14. Armee etwa 40.000 Tonnen Munition, wovon nur etwa die Hälfte in den Jahren 1990 bis 2000 zurück nach Russland transportiert wurde. Rumänischen Medienberichten zufolge befindet sich bei der an der Grenze zur Ukraine gelegenen transnistrischen Stadt Cobasna das größte Munitionsdepot der Russischen Streitkräfte in Osteuropa.(2) Ob dort tatsächlich, wie www.libertatea.ro behauptet, 20.000 Tonnen Munition und mithin die gesamten noch nicht abtransportierten Bestände der 14. Armee gelagert werden, darf bezweifelt werden, zumal seit zehn Jahren keine internationalen Inspektoren zugelassen wurden. Fest steht allerdings, dass die auf dem Gebiet Transnistriens stationierten Einheiten der RF keineswegs so wehrlos sind, wie man in Kiew zu glauben scheint.


1 Die historische Landschaft Bessarabien umfasste u.a. das Gebiet der heutigen Republik Moldau, jedoch NICHT das der östlich des Dnjestr gelegenen Republik Transnistrien.

2 https://www.libertatea.ro/stiri/g4media-miza-militara-din-transnistria-este-depozitul-din-cobasna-unde-se-afla-20- 000-de-tone-de-munitie-4459995

 

 

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