02.10.2022

Jacques Baud: Der Westen will keine Verhandlungen

Liebe Genossen und Freunde,
angefügt findet Ihr ein neues Interview mit Oberst Jacques Baud zur aktuellen Situation in der Ukraine und der Handlungen des Westens.

Siegfried Eichner

 

https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-17-vom-29-september-2022.html#article_1415

Ukrainekonflikt: «Der Westen will keine Verhandlungen»
«Der Westen ist bereit, seine eigenen Bürger zu opfern,
um von Dogmatismus und Ideologie geleitete Ziele zu erreichen»
Interview mit Jacques Baud*

Zeitgeschehen im Fokus: Die Geländegewinne im Grossraum Charkow werden von den westlichen Medien als durchschlagender Erfolg der Ukrainer gefeiert. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?

Jacques Baud
Die Rückeroberung der Region Charkow Anfang September scheint ein Erfolg für die ukrainischen Streitkräfte zu sein. Unsere Medien jubelten, sie übernahmen die ukrainische Propaganda und vermittelten uns ein Bild, das nicht der Realität entsprach. Eine genauere Betrachtung der Operationen hätte die Ukraine zu mehr Vorsicht veranlassen können. 

Aus militärischer Sicht ist diese Operation ein taktischer Sieg für die Ukrainer und ein operativ-strategischer Sieg für die russische Koalition. 

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Auf ukrainischer Seite stand Kiew unter Druck, auf dem Feld Erfolge zu erlangen. Wolodymyr Selenskij hat Angst, dass die westliche Unterstützung ausbleiben könnte, und die Amerikaner drängten ihn, Offensiven im Raum Cherson zu starten. Diese Offensiven, die ungeordnet, mit enormen Verlusten und ohne Erfolg durchgeführt wurden, führten zu Spannungen zwischen Selenskij und seinem Generalstab. 

Einige westliche Experten hatten bereits vor Wochen die Präsenz der Russen in Charkow in Frage gestellt, da diese eindeutig keine Absicht hatten, in der Stadt zu kämpfen. In Wirklichkeit diente ihre Präsenz in der Region einzig und allein dazu, die ukrainischen Truppen zu fixieren, damit sie nicht in den Donbas marschierten, der das eigentliche operative Ziel der Russen ist. 

Die im August vorliegenden Informationen deuteten darauf hin, dass die Russen schon lange vor dem Beginn der ukrainischen Offensive geplant hatten, diese Region zu verlassen. Sie zogen sich also geordnet zurück, zusammen mit einigen Zivilisten, die Opfer von Vergeltungsmassnahmen hätten werden können. Ein Beweis dafür ist, dass das riesige Munitionslager in Balaklaya leer war, als die Ukrainer es entdeckten, was beweist, dass die Russen bereits seit einigen Tagen alles sensible Personal und Material evakuiert hatten. Die Russen hatten sogar Sektoren verlassen, die die Ukraine nicht angegriffen hatte. In dem Gebiet blieben nur noch einige Soldaten der russischen Nationalgarde und der Donbas-Milizen zurück. 

Zu diesem Zeitpunkt waren die Ukrainer mit zahlreichen Angriffen in der Region Cherson beschäftigt, die seit August immer wieder zu Fehlschlägen und enormen Verlusten für ihre Armee führten. Als die US-Geheimdienste den Abzug der Russen aus der Region Charkow feststellten, sahen sie die Chance auf einen Erfolg für die Ukrainer und gaben ihnen die Informationen. So entschied sich die Ukraine plötzlich, ein Gebiet anzugreifen, das bereits praktisch leer war.

Warum haben sich die russischen Truppen zurückgezogen?

Offenbar hatten die Russen die Durchführung von Referenden in den Oblasten Lugansk, Donezk, Saporoschje und Cherson im Blick und stellten fest, dass das Gebiet um Charkow für ihre Ziele nicht unmittelbar nützlich war und sie sich in der gleichen Situation wie im Juni mit der Schlangeninsel befanden: Der Energieaufwand zur Verteidigung dieses Gebiets war grösser als seine strategische Bedeutung. 

Durch den Rückzug aus Charkow konnte die russische Koalition ihre Verteidigungslinie entlang des Flusses Oskol festigen und ihre Präsenz im Norden des Donbas ausbauen. So konnte sie einen bedeutenden Vorstoss nach Bachmut unternehmen, einem Schlüsselpunkt im Sektor Slawjansk-Kramatorsk, der das eigentliche Ziel der russischen Koalition ist. 

Da sie nicht mehr in Charkow waren, um die ukrainische Armee dort zu «fixieren», bombardierten sie die Strominfrastruktur, um zu verhindern, dass ukrainische Verstärkung per Zug in den Donbas gelangte.

So befinden sich heute alle russischen Koalitionskräfte innerhalb dessen, was nach den Referenden in den vier Oblasten im Süden der Ukraine die neuen Grenzen Russ­lands sein könnten.

Aber ist das nicht trotzdem ein Erfolg der Ukrainer?

Für die Ukrainer war es ein Pyrrhussieg. Sie rückten nach Charkow vor, ohne auf Widerstand zu stossen, und es gab praktisch keine Kämpfe. Stattdessen wurde das Gebiet zu einer riesigen «Feuerblase» (oder «killing zone» – «зона поражения»), in der die russische Artillerie eine geschätzte Zahl von 4 000 bis 5 000 Ukrainern (etwa 2 Brigaden) vernichten konnte, während die russische Koalition nur marginale Verluste erlitt, da es keine Kampfhandlungen gab. 

Diese Verluste kommen zu denen der Cherson-Offensive hinzu. Laut Sergei Schoigu, dem russischen Verteidigungsminister, hätten die Ukrainer in den ersten drei Septemberwochen rund 7 000 Mann verloren. Obwohl diese Zahlen nicht verifiziert sind, entspricht ihre Grössenordnung den Schätzungen einiger westlicher Experten. Mit anderen Worten: Die Ukrainer scheinen etwa 25 Prozent der 10 Brigaden verloren zu haben, die in den letzten Monaten mit westlicher Hilfe aufgestellt und ausgerüstet werden konnten. Dies ist weit entfernt von der Millionenarmee, von der die ukrainische Führung gesprochen hat.

Unsere Medien sprechen jedoch von einem ukrainischen Sieg? 

Aus politischer Sicht ist es ein strategischer Sieg für die Ukrainer und ein taktischer Verlust für die Russen. Es ist das erste Mal seit 2014, dass die Ukrainer so viel Territorium zurückgewinnen, während die Russen zu verlieren scheinen. Die Ukrainer nutzten diese Gelegenheit, um ihren endgültigen Sieg zu kommunizieren, wodurch sie zweifellos übertriebene Hoffnungen auslösten und die Bereitschaft, sich auf Verhandlungen einzulassen, noch weiter verringerten. 

Aus diesem Grund erklärte Ursula von der Leyen, dass es nicht der Moment «für Beschwichtigungen» sei.¹ Dieser Pyrrhussieg ist also ein vergiftetes Geschenk für die Ukraine. Er führt dazu, dass der Westen die Fähigkeiten der ukrainischen Streitkräfte überschätzt und sie zu weiteren Offensiven drängt, anstatt zu verhandeln.

Wie man sieht, müssen die Begriffe «Sieg» und «Niederlage» nuanciert werden. Die Nuancierung ist umso notwendiger, als es bei den von Wladimir Putin erklärten Zielen, nämlich «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung», nicht um Gebietsgewinne geht, sondern um die Vernichtung der Bedrohung des Donbas. Mit anderen Worten: Die Ukrainer kämpfen um Land, während die Russen um die Zerstörung von Kapazitäten kämpfen. Irgendwie erleichtern die Ukrainer, indem sie sich an das Gelände klammern, den Russen somit die Arbeit. Man kann immer Land zurückerobern, Menschenleben kann man nicht zurückgewinnen.

Indem sie glauben, Russland zu schwächen, fördern unsere Medien den allmählichen Zerfall der ukrainischen Gesellschaft. Aber das passt zu der Art und Weise, wie unsere Regierungsverantwortlichen die Ukraine betrachten. Sie hatten auf die Massaker an der Zivilbevölkerung im Donbas zwischen 2014 und 2022 nicht reagiert, und erwähnen heute genauso wenig die Verluste der Ukraine. In der Tat sind die Ukrainer für unsere Medien und Behörden eine Art «Untermenschen», deren Leben nur dazu dient, die Ziele unserer Politiker zu erfüllen.

Sie haben die Referenden erwähnt. Wird die Durchführung im Süden der Ukraine etwas ändern?

Zwischen dem 23. und dem 27. September finden vier Referenden statt. Dabei werden jedoch nicht immer die gleichen Fragen gestellt. In den selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk, die offiziell unabhängig sind, geht es darum, ob die Bevölkerung einen Anschluss an Russland wünscht. In den Oblasten Cherson und Saporoshje, die offiziell noch Teil der Ukraine sind, geht es darum, ob die Bevölkerung in der Ukraine bleiben, unabhängig sein oder an Russland angeschlossen werden möchte. 

Es gibt jedoch noch einige Unbekannte, z. B. welche Grenzen die Teilgebiete haben werden, die an Russland angeschlossen werden. Werden es die Grenzen der Gebiete sein, die heute von der russischen Koalition besetzt sind, oder die Grenzen der ukrainischen Regionen? Wenn Letzteres der Fall ist, dann könnte es immer noch zu russischen Offensiven kommen, um die restlichen Regionen (Oblaste) einzunehmen… 

Haben Sie irgendwelche Anzeichen über den möglichen Ausgang der Referenden?

Zu diesem Zeitpunkt ist es schwierig, das Ergebnis der Referenden abzuschätzen. Umfragen, deren Zuverlässigkeit nicht beurteilt werden kann, sprechen von 80 bis 90 Prozent der Menschen, die einen Anschluss an Russland befürworten. Dies scheint aufgrund mehrerer Faktoren realistisch zu sein. Erstens sind die sprachlichen Minderheiten in der Ukraine seit 2014 Beschränkungen unterworfen, die sie zu Bürgern zweiter Klasse machen. 

So hat die ukrainische Politik dazu geführt, dass sich die russischsprachigen Bürger nicht mehr als Ukrainer fühlen. Dies wurde sogar durch das Gesetz über die Rechte der indigenen Bevölkerung vom Juli 2021 unterstrichen, was in etwa den Nürnberger Gesetzen von 1935 entspricht, die den Bürgern je nach ihrer ethnischen Herkunft unterschiedliche Rechte einräumten. Aus diesem Grund hatte Wladimir Putin am 12. Juli 2021 einen Artikel verfasst, in dem er die Ukraine aufforderte, die Russischsprachigen als Teil der ukrainischen Nation zu betrachten und die Diskriminierung, die das neue Gesetz vorschlug, zu unterlassen.  

Natürlich protestierte kein westliches Land gegen dieses Gesetz, das eine Fortsetzung der Abschaffung des Amtssprachengesetzes im Februar 2014 darstellt, die der Auslöser für die Abspaltung der Krim und des Donbas war. 

Zudem haben die Ukrainer in ihrem Kampf gegen die Abspaltung des Donbas nie versucht, «die Herzen und Köpfe» der Aufständischen zu gewinnen. Im Gegenteil, sie taten alles, um sie weiter zu vertreiben, indem sie sie bombardierten, ihre Strassen verminten, das Trinkwasser abstellten, keine Renten und Gehälter mehr zahlten oder alle Bankdienstleistungen stoppten. Dies ist genau das Gegenteil einer wirksamen Strategie zur Aufstandsbekämpfung.

Schliesslich entfernen die Artillerie- und Raketenangriffe auf die Bevölkerung von Donezk und anderer Städte in der Region Saporoshje und Cherson, um die Bevölkerung einzuschüchtern und sie daran zu hindern, zur Wahl zu gehen, die Bevölkerung noch weiter von Kiew. Heute hat die russischsprachige Bevölkerung Angst vor ukrainischen Vergeltungsmassnahmen, falls die Referenden nicht angenommen werden. 

Wir befinden uns also in einer Situation, in der die westlichen Länder ankündigen, dass sie diese Referenden nicht anerkennen werden. Auf der anderen Seite aber haben sie absolut nichts getan, um die Ukraine dazu zu bewegen, eine inklusivere Politik gegenüber ihren Minderheiten zu verfolgen. Letztendlich könnten diese Referenden zeigen, dass es nie wirklich eine inklusive ukrainische Nation gegeben hat.  

Befinden wir uns in einer irreversiblen Situation?

Ja, diese Referenden werden eine Situation einfrieren und die Eroberungen Russlands unumkehrbar machen. Interessant ist, dass die Ukraine ihre Konstellation von vor Februar 2022 mehr oder weniger beibehalten hätte, wenn der Westen Selenskij Ende März 2022 mit dem Vorschlag, den er Russland unterbreitet hatte, hätte fortfahren lassen. Ich erinnere daran, dass Selenskij am 25. Februar einen ersten Verhandlungsantrag gestellt hatte, dem die Russen zustimmten. Die Europäische Union jedoch lehnte ihn ab, indem sie ein erstes «Paket» von 450 Millionen Euro an Waffen beisteuerte. Im März unterbreitete Selenskij ein Angebot, das Russland begrüsste. Es war zu Gesprächen bereit, doch die EU kam erneut und verhinderte dies mit einem zweiten «Paket» von 500 Millionen Euro für Waffen. 

Wie die Ukraïnskaya Pravda berichtet, rief Boris Johnson am 2. April Selenskij an und forderte ihn auf, seinen Vorschlag zurückzuziehen, da der Westen ansonsten seine Unterstützung einstellen würde.² Am 9. April wiederholte Johnson bei seinem Besuch in Kiew dasselbe nochmals gegenüber dem ukrainischen Präsidenten.³ Die Ukraine war also bereit, mit Russland zu verhandeln, aber der Westen wollte keine Verhandlungen, wie Johnson bei seinem letzten Besuch in der Ukraine im August klarstellte.⁴ 

Es war sicherlich die Aussicht, dass es keine Verhandlungen geben würde, die Russland dazu veranlasste, den Weg der Referenden zu beschreiten. Es sei daran erinnert, dass Wladimir Putin die Idee einer Integration der südlichen Gebiete der Ukraine in Russland bisher immer abgelehnt hatte. 

Ausserdem sei daran erinnert, dass Frankreich und Deutschland, wenn dem Westen die Ukraine und ihre territoriale Integrität so sehr am Herzen lägen, ihre Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen sicherlich vor Februar 2022 erfüllt hätten. Darüber hinaus hätten sie Selenskij mit seinem Vorschlag für ein Abkommen mit Russland im März 2022 fortfahren lassen.

Was beabsichtigt Wladimir Putin mit der Teilmobilmachung?

Zunächst einmal muss daran erinnert werden, dass Russland in der Ukraine mit einer erheblich geringeren Truppenstärke interveniert hat, als es der Westen für eine offensive Kampagne für notwendig hält. Dies lässt sich auf zwei Arten erklären. Erstens stützen sich die Russen auf ihre Meisterschaft in der «Operativen Kunst» und spielen auf dem Kriegsschauplatz mit ihren operativen Modulen wie ein Schachspieler. Dadurch sind sie in der Lage, mit kleineren Truppenstärken schlagkräftig zu arbeiten. Mit anderen Worten: Sie wissen, wie man Operationen effizient durchführt. 

Der zweite Grund, den unsere Medien absichtlich ignorieren, ist, dass die grosse Mehrheit der Kämpfe in der Ukraine von den Milizen des Donbas geführt wird. Wenn sie «die Russen» erwähnen, müssten sie – wenn sie ehrlich wären – «die russische Koalition» oder «die russischsprachige Koalition» sagen. Mit anderen Worten: Die Zahl der russischen Militärangehörigen in der Ukraine ist relativ gering. Darüber hinaus ist es in Russland üblich, Truppen nur für einen begrenzten Zeitraum im Einsatzgebiet zu belassen. Das bedeutet, dass sie ihre Truppen häufiger rotieren lassen als der Westen.

Zu diesen allgemeinen Überlegungen kommen die möglichen Folgen der Referenden in der Süd­ukraine hinzu, die die russische Grenze wahrscheinlich um fast 1 000 Kilometer verlängern werden. Dies erfordert zusätzliche Kapazitäten, um ein robusteres Verteidigungssystem aufzubauen, Einrichtungen für die Truppen zu errichten etc. In diesem Sinne ist diese Teilmobilmachung eine logische Konsequenz aus dem, was wir oben gesehen haben.

Besteht in dieser Situation die Gefahr einer nuklearen Eskalation?  

In seiner Rede am 21. September erwähnte Wladimir Putin die Gefahr einer nuklearen Eskalation.⁵ Natürlich sprachen verschwörungstheoretische Medien (d. h. Medien, die aus unzusammenhängenden Informationen Narrative konstruieren) sofort von «nuklearer Bedrohung». Dies ist der Fall bei RTS in der französischen Schweiz.⁶ 

In Wirklichkeit ist das falsch. Wenn man den Text von Putins Rede liest, stellt man fest, dass er nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht hat. Er hat dies übrigens seit Beginn des Konflikts im Jahr 2014 nie getan. Stattdessen hat er den Westen vor dem Einsatz solcher Waffen gewarnt. Ich erinnere daran, dass Liz Truss am 24. August erklärte, es sei akzeptabel, Russland mit Atomwaffen zu schlagen, und sie sei bereit, dies zu tun, selbst wenn es zu einer «globalen Vernichtung» führen würde!⁷ Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass die derzeitige britische Premierministerin solche Aussagen macht, die bereits im Februar Warnungen des Kreml hervorgerufen hatten.⁸ Im Übrigen erinnere ich daran, dass Joe Biden im April dieses Jahres beschlossen hat, die amerikanische «No-First-Use»-Politik aufzugeben und sich damit das Recht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen vorbehält. 

Wladimir Putin misstraut also eindeutig einem völlig irrationalen und unverantwortlichen Verhalten des Westens, der bereit ist, seine eigenen Bürger zu opfern, um von Dogmatismus und Ideologie geleitete Ziele zu erreichen. Dies geschieht derzeit übrigens auch im Bereich der Energie und dem der Sanktionen. Putin ist sicherlich besorgt über die Reaktionen unserer führenden Politiker, die sich aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Lage, die sie durch ihre eigene Inkompetenz herbeigeführt haben, in immer unbequemeren Situationen befinden. Dieser Druck auf unsere Regierungsverantwortlichen könnte dazu führen, dass sie den Konflikt eskalieren lassen, nur um ihr Gesicht nicht zu verlieren…

In seiner Rede droht Wladimir Putin nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen, sondern mit anderen Waffenarten. Er denkt dabei natürlich an Überschallwaffen, die nicht nuklear sein müssen, um wirksam zu sein. Im Übrigen ist der Einsatz taktischer Atomwaffen entgegen den Behauptungen von RTS bereits seit vielen Jahren nicht mehr Teil der russischen Einsatzdoktrin. 

Mit anderen Worten: Der Westen und sein fehlerhaftes Verhalten sind die eigentlichen Unsicherheitsfaktoren… 

Verstehen unsere Politiker die Situation?

Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Politiker eine klare und objektive Sicht auf die Situation haben. Die jüngsten Tweets von Ignazio Cassis zeigen, dass sein Informationsstand gering ist. Erstens: Wenn er die Rolle der Schweiz und ihre Neutralität erwähnt, um ihre guten Dienste anzubieten, ist das abseits jeglicher Realität. In der Vorstellung Russlands hat die Schweiz ihren neutralen Status aufgegeben9, und wenn sie in diesem Konflikt eine konstruktive Rolle spielen will, muss sie ihre Neutralität unter Beweis stellen. Davon sind wir sehr, sehr weit entfernt.

Zweitens: Als Cassis gegenüber Lawrow10 seine Sorge über den Einsatz von Atomwaffen zum Ausdruck brachte, hatte er offensichtlich nichts von Wladimir Putins Botschaft verstanden. Das Problem der derzeitigen westlichen Politiker ist, dass keiner von ihnen aktuell die intellektuellen Fähigkeiten besitzt, um sich den Herausforderungen zu stellen, die sie durch ihre Dummheit selbst geschaffen haben. Cassis wäre zweifellos besser beraten gewesen, seine Sorgen Truss und Biden gegenüber zu äussern!

Die Russen – und insbesondere Wladimir Putin – haben sich in ihren Erklärungen immer sehr klar ausgedrückt und systematisch und methodisch das getan, was sie gesagt haben. Nicht mehr und nicht weniger. Natürlich kann man mit dem, was er sagt, nicht einverstanden sein, aber es ist ein grosser Fehler und wahrscheinlich sogar kriminell, nicht auf das zu hören, was er sagt. Denn wenn man zugehört hätte, hätte man verhindern können, dass die Situation so geworden ist, wie sie ist.  

Unter dem Vorwand, dass Wladimir Putin ein Diktator sei, weigert man sich, auf das zu hören, was er sagt, und ist dann erstaunt über das, was er tut. Das ist einfach nur dumm. Unsere Medien – ich habe RTS zitiert – geben ihre Aussagen nicht nur nicht wahrheitsgetreu wieder, sondern verzerren sie, um ein Narrativ zu schaffen, das nicht den Tatsachen entspricht. So legt RTS in Bezug auf Wladimir Putins Rede vom 21. September ihm den Ausdruck «Nazi-Regime in Kiew»11 in den Mund. Putin verwendet diesen Begriff jedoch nie. Stattdessen spricht er von einem «Neonazi-Regime», was technisch und politisch gesehen etwas ganz anderes ist, wie ich in meinem Buch «Operation Z» ausführlich dargelegt habe, und die mit den Bezeichnungen übereinstimmt, die im Westen (vor Februar 2022) zur Beschreibung der Kräfte verwendet wurden, die das ukrainische Vorgehen bestimmen. 

Es ist ausserdem interessant, die allgemeine Situation, die wir derzeit beobachten, mit dem zu vergleichen, was in den 2019 veröffentlichten Berichten der RAND Corporation beschrieben wurde, die eine Gebrauchsanweisung zur Destabilisierung Russlands darstellten.

Wie man sieht, ist das, was wir derzeit beobachten, das Ergebnis eines sorgfältig geplanten Szenarios. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Russen auf diese Weise voraussehen konnten, was der Westen gegen sie plante. So konnte sich Russland politisch und diplomatisch auf die Krise vorbereiten, die man herbeiführen wollte. Es ist diese Fähigkeit zur strategischen Antizipation, die zeigt, dass Russland eine stabilere, effektivere und effizientere Führung hat als die westlichen Länder. Aus diesem Grund glaube ich, dass, wenn dieser Konflikt eskalieren sollte, dies eher auf die Unfähigkeit des Westens als auf ein Kalkül Russlands zurückzuführen sein wird. 

Darüber hinaus stelle ich bezüglich der Schweiz fest, dass die Schweiz in eine Destabilisierungs- und Subversionskampagne hineingezogen wurde, die von Anfang an auf Russland abzielte. Die Sanktionen, bei denen die Schweiz nach wie vor einer der Hauptakteure ist – sie ist derzeit der zweitgrösste «Sanktionierer» der Welt, gleich hinter den USA – haben als einziges Ziel den Umsturz Russ­lands.

Dass man es versäumt hat, diese vollkommen vorhersehbare Situation zu antizipieren und rechtzeitig vor Februar 2022 zu handeln, um die Ukrainer dazu zu bewegen, ihren Verpflichtungen im Rahmen des Minsker Abkommens nachzukommen, scheint mir das grösste Versagen der Schweizer Diplomatie seit 1938 zu sein, wo sie sich bereits kompromittiert hatte…

Herr Baud, vielen Dank für das Gespräch
Interview Thomas Kaiser

¹ https://www.francetvinfo.fr/monde/europe/manifestations-en-ukraine/guerre-en-ukraine-ursula-von-der-leyen-promet-la-solidarite-avec-kiev-sans-convaincre-tous-les-eurodeputes_5362294.html
² https://www.gov.uk/government/news/pm-call-with-president-zelenskyy-of-ukraine-2-april-20223
³ https://peoplesdispatch.org/2022/05/09/ukrainian-news-outlet-suggests-uk-and-us-governments-are-primary-obstacles-to-peace/
⁴ Roman Romaniuk, « Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson’s visit », Ukrainskaya Pravda, 5 May 2022 (https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/)
http://en.kremlin.ru/events/president/news/69390
https://www.rts.ch/info/monde/13410803-les-scenarios-possibles-apres-les-menaces-nucleaires-de-vladimir-poutine.html
https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/liz-truss-nuclear-button-ready-b2151614.html
https://www.itv.com/news/2022-02-28/not-naming-names-but-it-was-liz-truss-minister-blamed-for-putin-nuclear-move
https://www.reuters.com/world/europe/russia-says-switzerland-cannot-represent-its-interests-ukraine-2022-08-11/
10 https://twitter.com/ignaziocassis/status/1572635376350801922
11 https://www.rts.ch/info/monde/13402368-vladimir-poutine-mobilise-300000-hommes-et

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