30.05.2022

Liebe Genossen und Freunde,
beginnt da etwa in Deutschland auch ein Umdenkprozess?
Siegfried Eichner

 

In der Ukraine sollte die EU nicht den USA folgen, sondern nach Frieden streben

Michael von der Schulenburg*

Der Westen macht sich in seinem Ukraine-Kurs viel zu abhängig von den USA. Insbesondere die Führung der EU zeigt sich als erschreckend inkompetent.

Die Stimmung in Deutschland steht weiterhin auf Krieg. Die Diskussion um Sanktionen und Waffenlieferungen wird von Anschuldigungen russischer Kriegsverbrechen und von Meldungen ukrainischer Siege bestimmt. Für Frieden scheint da kein Platz zu sein.
Nun dominiert in Medien und Teilen der Politik auch noch der Glaube, dass dieser Krieg gegen Russland militärisch zu gewinnen sei, wenn wir nur der Ukraine schwere Waffen lieferten. Unter diesen Umständen scheinen Friedensverhandlungen mit Russland, oder wie wir gerne abwertend sagen, mit Putin, nicht nur verwerflich, sondern auch unnötig. Gerade für Europa könnte sich das als ein gefährliches Wunschdenken herausstellen.

Europa ist nur zu einem Minimalkonsensus über Sanktionen fähig

Daher sollte Europa aus seinem ureigenen Interesse heraus gerade jetzt einen Verhandlungsfrieden im Ukrainekrieg anstreben und nicht durch eine weitere Intensivierung des Krieges auf einen Siegfrieden hoffen. Wenn Europa weiterhin große Mengen an Waffen, und vor allem an schweren Waffen, liefert, ohne gleichzeitig Friedensinitiativen zu unterstützen, macht es sich mitschuldig an den sinnlosen Zerstörungen und dem schweren Blutzoll, das dieser Krieg von den Ukrainern fordert.

Dieser Krieg findet auf europäischen Boden zwischen zwei europäischen Staaten statt, und doch bestimmen nicht Europa, sondern die USA die westliche Vorgehensweise in diesem Krieg – und dies, obwohl die USA mehr als 10.000 Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt sind.

Das weist darauf hin, dass auch 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges Europa, und insbesondere die nun zumindest wirtschaftlich ebenbürtige EU, immer noch keine eigene Stimme gefunden hat. Europa ist nur zu einem Minimalkonsensus über Sanktionen und Waffenlieferungen fähig. Überlegungen, wie ein Frieden zu erreichen ist und wie dieser aussehen sollte, fehlen in offiziellen europäischen Stellungnahmen.

Europa begeht geradezu eine Art Selbst-Kastration

Dabei haben die USA in der Ukraine weder größere wirtschaftliche Interessen noch werden sie durch dortige politische Entwicklungen unmittelbar bedroht. Die übermächtige Präsenz der USA in diesem Konflikt und deren enormer und hochriskanter militärischer Einsatz lassen sich nur aus den geopolitischen Zielen der USA erklären. Ein Nato-Land Ukraine würde den amerikanischen Einfluss in Eurasia, wie Brzezinski es einmal nannte, entscheidend vergrößern und so das geopolitische Gleichgewicht stark zugunsten der USA verändern.

Für Europa stellt sich die Situation anders dar. Die Ukraine ist in erster Linie ein Nachbarstaat und ein wertvoller Wirtschaftspartner sowie eine Brücke Europas zu den wachsenden Wirtschaften Asiens. Während die amerikanische Wirtschaft wenig unter den Auswirkungen von Sanktionen leidet, ist Europa davon ungleich mehr betroffen.

Hinzu kommt noch der Versuch, sich gleichzeitig mit dem Krieg in der Ukraine wirtschaftlich vollständig von Russland abzukoppeln. Europa trennt sich so von seinen östlichen Wirtschaftsräumen und zerstört damit langfristig seinen Zugang zu wesentlichen Rohstoffen sowie seinen Landzugang zu den wichtigen Märkten in den Wachstumsregionen Asiens.

Mehr noch als in Zeiten des Kalten Krieges müsste Europa sich nun fast ausschließlich nach Westen ausrichten. Da weltweit nur wenige Länder die Sanktionen gegen Russland mittragen, begeht Europa hier geradezu eine Art Selbst-Kastration.

Europas Nachbarregionen werden destabilisiert

Zudem führen westliche Sanktionen gegen Russland und Russlands Blockade ukrainischer Häfen dazu, die Ausfuhren des für viele Teile der Welt so lebenswichtigen Weizen zu verhindern. Vor allem im Nahen Osten sowie in großen Teilen Afrikas könnten nun Hungersnöte ausbrechen, die nach UN-Angaben das Leben von Millionen Menschen gefährden.

Es handelt sind hier um Menschen, die bereits in normalen Zeiten kaum überleben können und nun für einen Krieg gestraft werden, für den sie nichts können. Wie kann Europa das mitverantworten? Für Europa – und nicht die USA – erwachsen daraus zudem erhebliche Sicherheitsrisiken, da dies Europas bereits instabile Nachbarregionen weiter destabilisieren wird.

Der Russland-Ukraine-Krieg könnte noch gefährlicher werden

Die größte Gefahr droht Europa jedoch durch eine Strategie, die auf einen Siegfrieden setzt. Eine solche Strategie könnte unberechenbare Reaktionen Russlands zu Folge haben. Für Russland ist der Ukraine-Krieg zu einer Überlebensfrage geworden, und wir müssen davon ausgehen, dass es alles einsetzen wird, um nicht als Verlierer vom Schlachtfeld zu gehen.

Nur wie weit würde die Nuklearmacht Russland dabei gehen? Wollen wir das wirklich austesten? Und, im Falle einer sich abzeichnenden Niederlage Russlands: Müssten wir uns nicht darauf einstellen, dass China aus Eigeninteresse Russland unterstützen wird? Plötzlich könnte der Russland-Ukraine-Krieg zu einer gefährlichen Konfrontation zwischen drei Nuklearmächten werden.

Auch westliche Waffen töten und zerstören

Dabei scheint ein Siegfrieden recht unwahrscheinlich zu sein. Trotz aller militärischer Überlegenheit haben die USA (bis auf eine Ausnahme, die UN sanktionierte Befreiung Kuwaits in 1991) nie einen Krieg gewonnen und letztlich nur Zerstörungen, Chaos und viel menschliches Leiden hinterlassen. Eine Demokratie haben sie nirgends gebracht. Wird nun dies auch das Schicksal der Ukraine sein? Würden Siegesfantasien nicht ein unermessliches Leiden der ukrainischen Bevölkerung in Kauf nehmen? Auch westliche Waffen töten und zerstören.

Wahrscheinlicher ist es, dass Russland sich in der östlichen und südlichen Ukraine eingraben wird und Ukraine damit eine Teilung des Landes droht. Als Ergebnis dieses Krieges würde dann kein glorreicher Sieg, sondern eine zerbombte, geteilte, innerlich zerrissene und wirtschaftlich am Boden liegende Ukraine stehen, das zunehmend unregierbar würde. Und das alles würde mit westlicher militärischer „Hilfe“ erreicht.

Es gab schon einen Friedensplan zwischen Russland und der Ukraine

Wäre es da nicht in Europas Interesse, einen Verhandlungsfrieden zu unterstützen, ja, zu fordern? Damit würde Europa auch dem Aufruf der Weltgemeinschaft folgen, diesen Konflikt friedlich zu lösen. In der UN-Generalversammlung haben Mitgliedstaaten nicht nur Russlands illegale militärische Aggression verurteilt, sondern auch alle beteiligten Parteien dazu aufgerufen, diesen Krieg durch Dialoge und Verhandlungen zu beenden. Kürzlich wiederholte der UN-Sicherheitsrat in einer Erklärung die Forderung nach einer friedlichen Lösung. Von Waffenlieferungen oder gar einem Siegfrieden wird in keiner UN-Resolution gesprochen.

Die Rahmenbedingen für eine friedliche Lösung hatten mutige russische und ukrainische Unterhändler bereits in den ersten zwei Monaten des Krieges ausgearbeitet. Danach würde Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten und keine ausländischen Militärbasen auf ukrainischem Boden zulassen, während Russland sich verpflichtet, die territoriale Integrität der Ukraine anzuerkennen, alle russischen Truppen aus der Ukraine abzuziehen und internationale Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu akzeptieren. Auch hatte man sich bereits vorläufig darauf verständigt, innerhalb des ukrainischen Territoriums dem Donbass einen speziellen Status zu geben (wie schon in Minsk II vorgesehen) und den zukünftigen Status der Krim zu einem späteren Zeitpunkt auf rein diplomatischem Wege zu lösen.

Europa sollte sich für einen Frieden einsetzen

Sicherlich ist das noch kein vollständiger Friedensvertrag, viele schwierige Details bleiben noch ungelöst. Aber es gibt und wird auch keine andere Friedenslösung geben, als durch die Neutralität der Ukraine im Gegenzug die territoriale Integrität der Ukraine zu bewahren. Es wäre völlig illusorisch anzunehmen, dass, wie gerne von einigen westlichen Regierungen behauptet, ein derartiger Friedensvertrag eine rein ukrainische Verantwortung sei. Das Stillschweigen des Westens zu den russische-ukrainischen Friedensbemühungen damit zu erklären, ist höchst unaufrichtig.

Präsident Wolodymyr Selenskyjs Position wäre viel zu schwach, um einen solchen weitreichenden Friedensvertrag mit Russland ohne westliche Unterstützung durchzusetzen und für Russland wäre ein nur mit Selenskyj ausgehandelter Friedensvertrag kaum etwas wert. Durch die massive militärische und finanzielle Unterstützung ist dieser Krieg doch schon längst auch ein Krieg des Westens geworden, wenn er das nicht schon von Anfang an gewesen war. Deshalb sollte Europa sich mit dem gleichen Elan wie bisher für den Krieg nun auch für einen Frieden einsetzen. Warum ist das nicht geschehen?

Europa muss eine eigene Stimme finden

Versagt Europa gerade jetzt in der größten Gefahr für den Frieden seit dem Ende des Kalten Krieges? Wie kann man erklären, dass keine europäische Regierung den Mut gefunden hatte, die russisch-ukrainische Friedensverhandlungen in Istanbul Ende März zu unterstützen und damit eine Ausweitung des Krieges zu verhindern? Insbesondere zeigte sich hier die Führung der EU als erschreckend inkompetent.
Ihr scheint weiterhin ein transatlantischer Schulterschluss mit den USA wichtiger als die Suche nach einem gesamteuropäischen Frieden, und das, obwohl die Afghanistan-Erfahrung gezeigt hat, wie unsicher es sein kann, sich blind auf amerikanische Positionen zu verlassen. Nach den Mid-Term-Wahlen könnte in den USA schon alles ganz anders aussehen.

Vielleicht ist nun Italiens Friedensinitiative ein solch langersehnter Hoffnungsschimmer. Nun sollten sich Frankreich und Deutschland dem schnellstens anschließen, um so doch noch zu versuchen, eine gesamteuropäische Antwort auf diesen schrecklichen und völlig unnötigen Krieg zu finden. Nur so wäre eine völlige Zerstörung der Ukraine zu verhindern und der Frieden in Europa zu retten. Es ist deshalb Zeit, dass Europa endlich seine eigene Stimme findet.

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/in-der-ukraine-sollte-die-eu-nicht-den-usa-folgen-sondern-nach-frieden-streben-li.230237
28.05.2022



*Michael von der Schulenburg ist ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen und hat in vielen Konfliktregionen der Erde gearbeitet, unter anderem in Langzeitmissionen in Afghanistan, Haiti, Pakistan, Iran, Irak und Sierra Leone, aber auch in Syrien, Somalia, Zentralasien, auf dem Balkan und in der Sahel-Region. Im Jahr 2017 publizierte er das Buch „On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations” (Amsterdam University Press)

 

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