Junge Welt Artikel vom 09.03.2022

 

Liebe Mitstreiter,

in Ergänzung zu einem Material von Hans-Peter Slodowski dieser Artikel aus der "Jungen Welt" vom 09. März.

Er erscheint mir noch wichtiger für unsere Haltung zum Konflikt Russland-Ukraine als die bisherige Argumentation zur Unterdrückung der Russen und Russischsprachigen in der Ukraine.
Hier geht es um mehr.
Stellt Euch vor, wir würden diskutieren, wo in Berlin am Besten eine Führer-Eiche wieder gepflanzt werden sollte, wo das beste Areal für einen Hermann-Göring-Platz oder eine Himmler-Gasse wären.

Nebenbei, die Engländer waren ja sehr schnell mit Erklärungen zu Fake-News der Russen zu geheimen Chemielaboren der Amerikaner in der Ukraine, da hat man sich aber nicht abgestimmt:
Die stellvertretenden Außenministerin der USA hat gestern erklärt, dass diese Labore auf keinen Fall in die Hände der Russen fallen dürfen.

Hajo Lemke

 

Hintergrund: Transatlantischer Rückzugsraum

Junge Welt, Berlin 09.03.2022

1919 hatte ein US-amerikanischer Delegierter zu den Versailler Friedensverhandlungen eine Delegation der »Ukrainischen Volksrepublik« noch mit den Worten abgefertigt, sie solle sich zum Teufel scheren, die Ukraine sei »eine Erfindung des deutschen Generalstabs«. Nach 1945 wandelte sich dieses Bild.

USA und Großbritannien fanden in ihren deutschen Besatzungszonen einige zehntausend ukrainische »Displaced Persons« vor, die während des Kriegs mit den Deutschen kollaboriert und sich an ihrer Seite vor der Roten Armee nach Westen abgesetzt hatten. In die UdSSR zurück wollten sie aus naheliegenden Gründen nicht. Vermittelt durch ehemalige hohe Beamte deutscher Ministerien, die sich mit ihren Osteuropakenntnissen Schonung in den Entnazifizierungsverfahren erhofften, wurden auch britische und US-Geheimdienste auf diesen Personenkreis aufmerksam. In dem Maße, in dem der Kalte Krieg heranreifte, dienten sich ehemalige ukrainische Kollaborateure den Westmächten als antisowjetische Kämpfer an. Stepan Bandera zum Beispiel, der Gründer der »Organisation Ukrainischer Nationalisten«, stand seit den späten 40er Jahren in den Diensten erst des britischen, dann des italienischen und schließlich des US-Geheimdienstes. Mitte der 50er Jahre gaben ihn die US-Dienste an den damals entstehenden BND ab; kurz vor seiner Ermordung in München 1959 führte Bandera ein Gespräch mit einem BND-Vertreter, das er selbst gegenüber seiner Frau als »vielversprechend« einstufte. Gerhard von Mende, ein wegen allzu sichtbarer Nazivergangenheit in einer unauffälligen Außenstelle des Bundesinnenministeriums geparkter früherer Professor und Berater des nazistischen »Ostministeriums« hielt die ganzen 50er Jahre über seine schützende Hand über Bandera, als die deutsche Polizei ihn wegen diverser Delikte ins Visier nahm.

Schon in den frühen 50er Jahren hatte eine starke Migration dieser ukrainischen Nationalisten über den Atlantik eingesetzt, obwohl damals noch vorhandene antifaschistisch eingestellte Experten der US-Dienste ihre Regierung davor warnten, sich mit diesen Leuten einzulassen. Vor allem Kanada wurde zum Rückzugsraum der »ukrainischen Diaspora«, wo die Nationalisten auch eine ideologische Infrastruktur aufbauen konnten, um ihrer Politik akademische Würden zu verleihen.

Mit dem Ende der Sowjetunion kehrten Aktivisten dieses Milieus und Absolventen ihrer Bildungsstätten in die Ukraine zurück. Das aus historisch disparaten Teilen zusammengefügte Land suchte nach einer politisch-ideologischen Identität und fand sie im Nationalismus mit galizischen und kanadischen Wurzeln. Der Rest ist Geschichte. Bandera ist seit 2010 »Held der Ukraine«. (rl)

Mit dem zeitweisen Rückgang der Kämpfe im Donbass ab dem Frühjahr 2015 ist es relativ still um die wichtigsten Sturmtruppen der Ukraine geworden: die Faschisten, die sich zuvor auf dem Maidan als Avantgarde des Staatsstreiches und anschließend als kampffähigster Teil der Kiewer Armee herausgestellt hatten.

Das hatte mehrere Gründe. Die ukrainische Armee ist in der Zwischenzeit erheblich aufgerüstet und modernisiert worden, so dass sie mittlerweile auch in der Lage ist, den russischen Truppen substantiellen Widerstand entgegenzusetzen. Der zweite Grund ist, dass die Faschistenbataillone nach 2015, als sie aus jeder staatlichen Disziplin herauszufallen drohten und sich anschickten, ihren Unterhalt als normale Schläger- und Mordbanden zu verdienen, in die regulären militärischen Strukturen eingegliedert wurden. Das sicherte ihnen regelmäßige Finanzierung und band sie halbwegs in die Kommandokette ein.

Auf diese Weise wurde das ursprünglich mit Spenden ukrainischer Oligarchen finanzierte Bataillon »Asow« – es trat als »Sondereinheit der Miliz« in die Geschichte ein, als es am 9. Mai 2014, eine Woche nach dem Pogrom von Odessa, in Mariupol Feiern der Bürger zum sowjetischen Siegestag zusammenschoss – auf Regimentsstärke aufgestockt und der dem Innenministerium von Arsen Awakow unterstellten Nationalgarde angeschlossen. Das heißt, es hat eine Legalisierung und Institutionalisierung der faschistischen Kämpfer und ihrer Verbände stattgefunden. Heute besteht das Gros der ukrainischen Truppen in Mariupol aus »Asow«-Leuten. Sie haben sich in den Wohnvierteln der Stadt verschanzt und sind offenbar bestrebt, die Zivilisten als lebende Schutzschilde für sich selbst in der Stadt zu halten.

Ähnlich war es mit anderen Einheiten, so dem aus entlassenen Kriminellen rekrutierten Bataillon »Aidar«. Nachdem sogar Amnesty International über Kriegsverbrechen von seiten dieser Einheit berichtet hatte, wurde sie aus dem Rampenlicht herausgehalten, blieb aber bestehen. Anfang dieses Monats wurde ein ehemaliger Kommandeur der Terrortruppe, Maxim Martschenko, von Präsident Wolodimir Selenskij zum neuen Gouverneur der Region Odessa ernannt. Seine Mission bedarf keiner großen Erläuterung: eine Region, in der »prorussische« Neigungen befürchtet werden, im Griff halten. Genau wie es Kiew Ende April 2014 gemacht hat, als es eine Bande vom »Asow«-Gründer Andrij Bilezkij rekrutierter rechter Charkiwer Fußballhooligans in einen Zug setzte und unter dem Vorwand eines Ligaspiels nach Odessa entsandte, wo die Lage damals auf der Kippe zu stehen schien. Die Folge war der Pogrom vom 2. Mai mit seinen 48 bei lebendigem Leib verbrannten oder zu Tode geprügelten Maidan-Gegnern.

In den Jahren des »eingefrorenen Konflikts« im Donbass sah es so aus, als hätte sich der ukrainische Faschismus wieder auf den Status einer lautstarken Minderheit zurückentwickelt, den er traditionell innehatte. Die Teilnehmerzahlen der regelmäßig veranstalteten Kundgebungen etwa zum Geburtstag von Stepan Bandera (Nazikollaborateur, Kriegsverbrecher, 1909–1959, jW) gingen kontinuierlich zurück, sogar ein keiner faschistoiden Sympathien verdächtiges Portal wie Strana.news schrieb über die »begrenzte Mobilisierungsfähigkeit der Radikalen«.

Aber das ist eine Täuschung. Denn ein dritter Aspekt ist demgegenüber wenig beachtet worden, obwohl er politisch der bedenklichste ist: Es geht um die »Normalisierung« faschistischen Gedankenguts in der ukrainischen Gesellschaft. Bandera wird in den Schulbüchern als Nationalheld dargestellt, der Gründungstag der von seiner »Organisation Ukrainischer Nationalisten« (OUN) – nicht durch Bandera selbst, er saß zu diesem Zeitpunkt in der Prominentenbaracke des KZ Sachsenhausen, wo die Nazis potentielle Bündnispartner aus den okkupierten Gebieten zur weiteren Verwendung versammelt hatten – 1942 gegründeten »Ukrainischen Aufstandsarmee« (UPA), der 14. Oktober, wurde zum offiziellen Staatsfeiertag und Ersatz des sowjetischen »Tags des Vaterlandsverteidigers« am 23. Februar.

Dabei hat sich die Kontextualisierung der Aktivitäten der OUN-Faschisten radikal gewandelt. Sie werden heute als das dargestellt, was sie subjektiv vermutlich auch waren: in erster Linie radikale ukrainische Nationalisten, die sich auf der Suche nach Bündnispartnern an die hielten, die in den 1930er und 40er Jahren zu haben waren. Da die sowjetische Geschichtserzählung als ideologische Konkurrenz heute in der Ukraine tabuisiert ist, stehen die Leute Banderas als ukrainische Patrioten da, ihre Mitwirkung an den Morden der deutschen Einsatzgruppen wird totgeschwiegen oder heruntergespielt. Im Bereich des Alltagsbewusstseins zeigt sich diese »Normalisierung« des ukrainischen Faschismus beispielsweise darin, dass die Molotowcocktails, die Kiewer Mittelschichtler zur Abwehr eines russischen Angriffs auf die Hauptstadt basteln, laut einer Reportage der polnische Gazeta Wyborcza inzwischen als »Bandera-Smoothies« bezeichnet werden.

Vor diesem Hintergrund gewinnt eine aktuelle Äußerung von Präsident Selenskij gegenüber dem US-Fernsehsender ABC an fataler Tragweite. Er sagte, über die Zukunft der Krim und des Donbass sowie über die Neutralität des Landes könne man mit Russland zur Not reden, aber dessen Forderung nach einer »Entnazifizierung der Ukraine« bedeute »die Zerstörung der Ukraine als Nation«, sie sei »ein Völkermord wie in den vierziger Jahren«. Das heißt im Klartext: Ein durch seine Kollaboration mit dem Naziregime kompromittierter Nationalismus wird zum Kernelement ukrainischen Nationalbewusstseins hochstilisiert. Und das durch einen Präsidenten mit jüdischen Wurzeln.

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