Interviews mit Egon Krenz

Anlässlich des 30. Jahrestag der Deutschen Einheit gab Egon Krenz Interviews zu diesem Thema den Zeitungen:

 

Egon Krenz im Interview mit der PRAWDA

(Hier die die originale deutsche Fassung)

Warum haben Sie Ihr Buch „Wir und die Russen“ jetzt geschrieben und veröffentlicht? Haben Sie den Zeitpunkt absichtlich ausgewählt?
Mit meinem Buch erinnere ich die Herrschenden hierzulande an eine von ihnen vergessene historische Erfahrung: Deutschland ging es immer dann am besten, wenn es gute Beziehungen zu Russland hatte. Das wusste im 19. Jahrhundert schon der Eiserne Kanzler Bismarck. Es gibt einen äußerst interessanten Brief seiner Urenkelin aus dem Jahre 1947 an Generalmajor Sergei Iwanowitsch Tulpanow, der damals in der sowjetischen Militäradministration in Deutschland tätig war, den ich in meinem Buch zitiere: »Es schreibt Ihnen die Enkelin des bedeutenden Staatsmannes Bismarck, dessen Vermächtnis immer ein ewiger und unzerstörbarer Frieden mit Russland war. Sogar auf dem Sterbebett … hat dieser wiederholt: ›Nie gegen Russland!‹ Zu diesem progressiven Erbe des Erz-Konservativen passt nun aber die aktuelle Außenpolitik Deutschlands überhaupt nicht. Begriffe wie «Bestrafungen“ und „Sanktionen“ aus dem Munde deutscher Politiker an Russlands Adresse sind nicht nur geschichtsvergessen, sie sind eine Anmaßung gegenüber einem Volk, das für Deutschlands Freiheit vom Faschismus sein Herzblut gegeben hat.

Damit erinnern Sie auch an die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus?
So ist es. Die 75. Wiederkehr dieses historischen Datums ist ein zentraler Grund für das Buch. Ich war 1945 zwar erst acht Jahre alt, in Erinnerung ist mir dennoch geblieben, dass die sowjetische Besatzungsmacht ein riesiges Plakat mit dem Bildnis Stalins kleben ließ, auf dem geschrieben stand: « Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat bleiben.» Diese klassischen Worte wurden später nicht falsch, weil sie von Stalin stammen. Für mich sind es tiefgehende Gedanken über Deutschland. Gedanken eines Siegers über ein Deutschland am Ende des bis dahin fürchterlichsten Krieg aller Kriege, in dem die Sowjetunion durch deutsche Schuld 27 Millionen Menschen verloren hatte. Mir sagen sie bis heute, dass es der Sowjetunion nie um Rache, nicht um die Zerstückelung Deutschlands, nicht um die Unterjochung ging, sondern um ein einheitliches Deutschland ohne Nazis und als Friedensstaat im Zentrum 2 Europas. In dieser Tradition sehe ich auch die Russische Föderation.

In der offiziellen Rede des deutschen Bundespräsidenten zum «Tag der Befreiung» am 8.Mai in Berlin war von solchen Zusammenhängen aber keine Rede.
Das ist leider wahr. Wer erwartet hatte, der Bundespräsident würde den Anteil der sowjetischen Armee an der Befreiung Deutschlands vom Faschismus würdigen, wurde enttäuscht. Kein Land der Welt hatte mehr Opfer zu beklagen als die Sowjetunion. Jenseits aller ideologischen Barrieren sollten diese Fakten anerkannt und gewürdigt bleiben. Die Sowjetarmee hat den deutschen Faschismus zerschlagen, nicht aber die deutsche Nation. Schon allein diese Tatsache rechtfertigt, dass deutsche Regierungen den Beziehungen zu Russland eine Sonderstellung einräumen müssten. Ähnlich wie es die Bundesrepublik beispielsweise wegen des Holocaust mit Israel hält.

Wie begründen Sie Ihren Standpunkt?
Inzwischen ist doch auch dokumentarisch belegt, was der Mainstream in Deutschland immer noch nicht wahrhaben will: Die UdSSR hatte kein strategisches Interesse an der deutschen Spaltung. Wer über die Geschichte der DDR und ihr Verhältnis zur Sowjetunion urteilen will, darf nicht an der Frage vorbei gehen, wer Deutschland wirklich gespalten hat. Die Gründung der DDR 1949 lässt sich historisch nicht einordnen, ohne die Situation des Jahres 1945. Wäre es nämlich nach dem Willen der UdSSR und der deutschen Kommunisten gegangen, wäre aus Deutschland „ein antifaschistische(s), demokratische(s) Regime, eine parlamentarisch-demokratische(n) Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“ geworden. So steht es im Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945.Er war vorher mit der sowjetischen Führung abgestimmt worden. Er eröffnete Deutschland einen völlig neuen Weg des Friedens und der staatlichen Souveränität, der aber von den westlichen Besatzungsmächten gemeinsam mit Politikern der späteren Bundesrepublik verhindert wurde.

Es kam anders: Es kam zur Gründung von zwei deutschen Staaten.
Als die DDR gegründet wurde, war Deutschland längst gespalten. Dafür hatte vor allem schon 1948 die Einführung einer separaten Währung durch die Westmächte in den Westzonen und Westberlin gesorgt. Von der Gründung der DDR erfuhr ich als 12-Jähriger. Noch nicht am Gründungstag, dem 7. Oktober 1949, sondern einige Tage später. Eigentlich erst durch Stalin. Mein Klassenlehrer verlas ein Telegramm von ihm, gerichtet an Präsident Wilhelm Pieck, von Beruf Tischler, und Ministerpräsident Otto Grotewohl, gelernter Buchdrucker. Zweierlei habe ich mir damals eingeprägt und bis heute nicht vergessen: An der Spitze des neuen Staates standen Arbeiter, die gegen Hitler gekämpft hatten. Antifaschistische Widerstandskämpfer. Ein epochaler Unterschied zu der einige Monate zuvor gegründeten Bundesrepublik, deren erster Präsident 1933 im Deutschen Reichstag dem Ermächtigungsgesetz der Nazis zugestimmt hatte. Im Telegramm des sowjetischen Repräsentanten zur Gründung der DDR stand ein Gedanke, der mich stark geprägt und historischen Bestand hat - bis heute: „Die Gründung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik“, heißt es dort, „ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas“ Und weiter: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Existenz eines friedliebenden demokratischen Deutschland neben dem Bestehen der friedliebenden Sowjetunion die Möglichkeit neuer Kriege in Europa ausschließt, dem Blutvergießen in Europa ein Ende macht und die Knechtung der europäischen Länder durch die Weltimperialisten unmöglich macht“. Wie damals formuliert wurde, genauso ist es gekommen. Solange die UdSSR und an ihrer Seite die DDR bestanden, gab es in Europa keinen Krieg. Das Verschwinden beider Staaten aus der Geschichte ist wiederum ein europäischer Wendepunkt. Kriege in Europa wie der gegen Jugoslawien wurden nach 1990 leider wieder möglich. Sogar mit deutscher Beteiligung. Das wäre zur Zeit der Existenz der Sowjetunion undenkbar gewesen.

Haben Sie noch persönliche Erinnerungen an das Kriegsende?
Als ein Sowjetsoldat am 30. April 1945 das rote Siegesbanner auf dem Deutschen Reichstag in Berlin gehisst hatte, war ich noch zu jung, um die politischen Zusammenhänge der Zeit verstehen zu können. Alt genug aber, um zu begreifen, wie gut, dass der Krieg zu Ende war. Mein späteres freundschaftliches Verhältnis zu sowjetischen Menschen beginnt unbewusst in den ersten Nachkriegsjahren. Ich lernte sowjetische Soldaten kennen, die anders waren als jene „barbarischen Untermenschen“, von denen die Nazipropaganda berichtet hatte. Einer von ihnen war unweit unserer Wohnung einquartiert. Offizier war er und Dolmetscher der Militärkommandantur. Jeden Abend, wenn er in sein Quartier zurückkam, brachte er mir etwas Essbares mit. Mal war es ein tiefschwarzes und feuchtes Soldatenbrot, mal etwas Würfelzucker und gelegentlich auch in Zeitungspapier eingewickelter Speck. Mittags schickte er mich zur Gulaschkanone der sowjetischen Einheit, die in meiner Heimatstadt stationiert war. Dort erhielt ich ein Kochgeschirr voller Kascha oder auch Kohlsuppe. Russische Worte für Brot, Zucker, Speck, Kohlsuppe und Grütze habe ich damals gelernt und nie wieder vergessen. An manchen Abenden saß der Offizier auf den steinigen Stufen vor dem Haus und drehte sich aus Zeitungspapier und Tabak eine Zigarette. Einmal summte er eine Melodie so vor sich hin, die ich noch nie gehört hatte. „Sing mit“, forderte er mich auf. „Das kann ich nicht“, antwortete ich. Er rief, als müsste ich mich dafür schämen: „Das ist doch das ‚Heidenröslein’ von Goethe!“ „Heidenröslein“ und „Goethe“, diese Worte hörte ich das erste Mal. Nicht von einem deutschen Lehrer, von einem Russen in sowjetischer Uniform, der den Krieg und die Verbrechen der Deutschen in seinem Heimatland am eigenen Leib erlebt hatte. Solche Emotionen leben in mir weiter und spornen mich an, auch durch Bücher und andere Aktivitäten die Wahrheit über die Befreiungstat der Sowjetarmee zu verteidigen.

Eine Resolution des Europaparlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft stellt solche Akzente aber in Frage.
Kurios, eine Gruppe von antikommunistisch eingestellten Politikern fällt ein politisches Urteil über die Geschichte des 20.Jahrhunderts. Nicht etwa darüber, wie sie tatsächlich verlaufen ist, sondern wie sie sich Antikommunisten ausmalen. Nicht Fakten zählen, sondern Verdächtigungen. Geschichte wird als Waffe des Antikommunismus missbraucht, um beispielsweise den Verlauf des Zweiten Weltkrieg zu verfälschen, die Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Faschismus zu negieren, um faschistische Verbrechen zu relativieren und Täter und Opfer auf eine Stufe zu stellen. Totalitärer geht es wirklich nicht. Nach dieser Geschichtsdeutung gilt nicht mehr das faschistische Deutschland als Alleinschuldiger des Zweiten Weltkrieges, sondern, wie es wörtlich heißt, „die kommunistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutsche Reich“. So etwas nenne ich geistige Brandstiftung. Für die Zeitgeschichte fällt positiv ins Gewicht, dass Präsident Putin in einem Grundsatzartikel das Verdrehen von historischen Tatsachen anhand von Dokumenten entlarvt hat.

Wie erklären Sie sich die Geschichtsfälschungen?
Eigentlich geht es nicht nur um Geschichte, sondern um die Gegenwart. Die Botschaft lautet: Nie wieder eine Alternative zum Kapitalismus! Der Hass auf links ist stärker als die Einsicht zur Kooperation gegen Gefahren des Faschismus. Schauen Sie auf die Konjunktur, die solche Wortpaare haben wie „Sozialismus und Faschismus sind Zwillinge“, „Hitler und Stalin Brüder im Geiste“, „die DDR und das Dritte Reich gleichrangige Diktaturen“, dann wird doch klar, dass damit der Faschismus verharmlost wird. Geschichtsfälscher haben sich offensichtlich auf den irrigen Begriff „Nationalsozialismus“ statt auf die historisch korrekte Bezeichnung „deutscher Faschismus“ geeinigt. Der „Nationalsozialismus“ war weder „national“ noch war er „sozialistisch“. Er war einmalig verbrecherisch. Das „vergessen“ die selbsternannten Historiker des Europaparlaments bei ihren skandalösen Vergleichen.

Das letzte Wort auf dem Klappentext des Buchs lautet „Verrat“. In Ihrem Buch zitieren Sie den ehemaligen sowjetischen Botschafter in der BRD Walentin Falin, der sagte, dass die „Wiedervereinigung“ Deutschlands „eine Variante des Münchener Abkommens“ war: „…wir haben über den Kopf der DDR hinweg alles ausgehandelt, wir haben dieses Land verraten“.
Bevor ich über „Verrat“ spreche, möchte ich vor allem die jahrzehntelange Freundschaft zwischen der UdSSR und der DDR hervorheben. Die DDR-Deutschen und die Russen, die Belorussen, die Ukrainer, die Balten, die Kasachen und die anderen über hundert Nationen des Vielvölkerstaates Sowjetunion hatten ein neues Verhältnis zueinander gefunden, das frei war von Hass und Zwietracht. Nichts kann mir diese grundlegende Überzeugung nehmen. Ich verwechsele nicht einzelne Politiker mit dem kollektiven Wollen der Völker der Sowjetunion. Die sowjetische Besatzungszone und später die DDR hatten beispielsweise das Glück, dass an der Spitze der auf ihrem Territorium stationierten sowjetischen Armee-Einheiten nicht nur hervorragende Militärs standen, sondern Internationalisten, die ein feinfühliges Verständnis für die Probleme der Deutschen hatten. Sie gehören in das Ehrenbuch der Geschichte. Es waren die bekanntesten Heerführer der sowjetischen Armee, Marschälle wie Shukow, Sokolowski, Tschuikow, Gretschko, Sacharow, Jakubowski, Konjew, Koschewoi, Kulikow und Kurkotkin sowie die Armeegeneräle Iwanowski, Saizew, Lushew und Snetkow. Ich erinnere in meinem Buch an sie, weil wir Deutschen ihnen viel zu danken haben. Anders als Gorbatschow und seine Gefährten hatten sie im Großen Vaterländischen Krieg ihr Leben nicht nur für die eigene Heimat, sondern auch für ein antifaschistisches Deutschland eingesetzt und dafür den Weg von den Schlachten bei Moskau, Stalingrad oder Leningrad nach Berlin zurückgelegt. Die DDR war ein Stück ihres Lebens. Deshalb waren die im Herbst 1989 noch aktiven Armeegeneräle Lushew und Snetkow, mit denen ich befreundet war, auch nicht bereit, Gorbatschows Politik der Aufgabe der DDR zu unterstützen.

Und weshalb zitieren Sie dennoch Falin über „Verrat“?
Zunächst: Ich teile die Meinung von Präsident Putin, dass der Untergang der UdSSR die größte globalpolitische Katastrophe am Ende des vergangenen Jahrhunderts war. Damit im Zusammenhang steht, dass die Sowjetunion nicht nur an der Wiege der DDR stand, sondern auch an ihrem Totenbett. Die DDR war ohne Sowjetunion nicht lebensfähig. Wie die letzte sowjetische Führung das 1989/90 ausnutzte, hat Insider Walentin Falin bisher am klarsten formuliert. Valentin Falin arbeitete damals in unmittelbarer Nähe von Gorbatschow und verfügt somit über die beste Sachkenntnis. Gleichzeitig denke ich: Verrat gibt es ja nicht nur aus Berechnung. Es gibt ihn auch aus Eitelkeit, aus Missgunst, Unwissen, aus Schwäche, Unentschlossenheit, Selbstüberschätzung, Eigenliebe und manch anderem. Doch objektiv bleibt es Verrat. Die Zerschlagung der Sowjetunion und mit ihr des europäischen Teils des sozialistischen Weltsystems beeinflusste Millionen und Abermillionen Schicksale auf äußerst negative Weise. In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Wort von Friedrich Engels verweisen. In seiner Schrift »Revolution und Konterrevolution in Deutschland« heißt es: »Wenn man nach den Ursachen der Erfolge der Konterrevolution forscht, so erhält man von allen Seiten die bequeme Antwort, Herr X oder Bürger Y habe das Volk verraten. Diese Antwort mag zutreffen oder auch nicht [...], aber unter keinen Umständen erklärt sie auch nur das Geringste, [...] wie es kam, dass das Volk sich verraten ließ.« Daraus ziehe ich den Schluss: Wir können und dürfen uns nicht nur auf den Verrat eines Einzelnen zurückziehen. Für den Untergang der DDR gibt es nicht nur äußere Ursachen. Es ist ein Ensemble von innen- und außenpolitischen, ideologischen und moralischen, ökonomischen und ökologischen, strukturellen und aktuellen Gründen. Dazu gehört auch, dass das Vertrauensverhältnis zwischen dem Volk und der Führung der DDR gestört war. Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, dass wir Lenins Ratschlag missachtet haben, dass letztendlich die Höhe Arbeitsproduktivität über den Sieg des  Sozialismus entscheidet. Eine umfassende internationale marxistische Analyse der Ursachen der weltpolitischen Vorgänge von 1989 bis 1991 liegt leider auch dreißig Jahre später meines Wissens noch nicht vor.

Wie schätzen Sie Gorbatschow in Nachwirken als Politiker und als Person ein?
Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, Gorbatschow „einzuschätzen“. Das obliegt in erster Linie den Menschen, die in dem Land gelebt haben, für das er Verantwortung trug. Ich gehörte sehr lange zu den DDR-Politikern, die Gorbatschow vertrauten. Das hing vor allem damit zusammen, dass in unserem Verständnis die KPdSU die erfahrenste Kommunistische Partei der Welt war, die nicht zulassen würde, dass Renegaten an die Führung kämen. Gorbatschow passte sich aber schnell dem machtpolitisch Opportunen an. An die Stelle marxistisch – leninistischer Dialektik setzte er ein imaginäres »Neues Denken«, obwohl die NATO zu keinem Zeitpunkt bereit war, in den Kategorien der Entspannung neu zu denken. Diffuse »allgemein-menschliche Werte« bekamen einen höheren Stellenwert als die Werte und Ideale des Sozialismus. Er umgab sich mit Leuten wie Alexander N. Jakowlew und Eduard A. Schewardnadse, die alles andere als geradlinige Mitstreiter waren. Er vertraute den Schmeicheleien westlicher Politiker mehr als seinen eigenen Genossen. So verlor sich rasch der Geist des Aufbruchs in Richtung sozialistischer Umgestaltung, den auch viele in der DDR an Gorbatschow schätzten und weshalb sie in ihm einst einen Hoffnungsträger sahen.

Fühlten Sie sich hintergangen durch das diplomatische Spiel von Gorbatschow in den Jahren der „Wiedervereinigung“?
Am besten, ich berichte von meinem vierstündigen Treffen mit Gorbatschow am 1. November 1989 in Moskau. Ich fragte ihn: »Welchen Platz räumt die Sowjetunion beiden deutschen Staaten im gesamteuropäischen Haus ein?« »Die DDR“, so ergänzte ich, sei „ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und des nachfolgenden Kalten Krieges, also auch ein Kind der Sowjetunion. Es sei für die DDR wichtig zu wissen, ob die Sowjetunion weiter zu ihrer Vaterschaft stehe?« Gorbatschow antwortete: »Nach den Völkern der Sowjetunion ist uns das Volk der DDR das liebste.« Daraus zog er die Schlussfolgerung: »Die Einheit Deutschlands steht nicht auf der Tagesordnung. Darüber hat sich die Sowjetunion mit ihren früheren Partnern aus der Zeit der Antihitlerkoalition geeinigt. Genosse Krenz, übermittle dies bitte den Genossen des SED-Politbüros.« Dann legte er  nach: „Es ist an der Zeit, auf Kanzler Kohl stärkeren Druck auszuüben. Er hat auf das Pferd des Nationalismus gesetzt. Ihm darf die DDR nicht vertrauen“. Es mag von mir naiv gewesen sein, aber ich habe Gorbatschow geglaubt und in diesem Sinne meine Arbeit organisiert. Zur gleichen Zeit, als mir Gorbatschow mitgeteilt hatte, mit der Sowjetunion werde es keine deutsche Einheit geben, waren seine Beauftragten aber schon im Bundeskanzleramt in Bonn und haben sich hinter unserem Rücken erkundigt, was der Bundesrepublik die deutsche Einheit wert sei. Ende 1994 entdeckte ich in einer Berliner Buchhandlung Gorbatschows erstes nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik in deutscher Sprache veröffentlichtes Buch mit Protokollen seiner Spitzengespräche. Ich blätterte neugierig darin. Unser Gespräch vom 1. November 1989 fehlte. Warum? Das war für mich so schwer nicht zu erklären. Inzwischen hatte er neue Freunde. Es waren jene, die er mir gegenüber noch 1989 als »Nationalisten« verdammt hatte und vor denen ich mich in Acht nehmen sollte. Urteilen Sie selbst, wie Sie dieses Verhalten bezeichnen würden.

Warum hat Gorbatschows Politbüro die DDR so billig abgetreten und nicht verhindert, dass seine politischen Weggefährten vor Gericht gestellt wurden (für Honecker und Mielke war die Haft in Moabit bereits die zweite in ihrem Leben? Die ersten war in der Nazizeit).
Das müssten Sie Gorbatschow selbst fragen. Einen kleinen Einblick in sein tatsächliches Denken über die DDR hinter unserem Rücken erhielt ich erst 2006 als seine Mitarbeiter Anatolij Tschernjajew, Wadim Medwedew und Georgi Schachnasarow „Protokolle des KPdSU – Politbüros“ veröffentlichten. Ich kannte alle drei und hielt sie seinerzeit sogar für meine Genossen. Doch was sie, wie ich nun las, damals intern über die DDR verbreiteten, enttäuschte mich zutiefst. Kurz gesagt: Für Gorbatschows Mitarbeiter schien die DDR ein reines Schacherobjekt gewesen zu sein, ein Gegenstand, den man für Deals mit den USA und mit der BRD einsetzte. Als ich das gelesen hatte, musste ich mich an ein Gespräch mit Eduard Schewardnadse Anfang der neunziger Jahre erinnern, als er schon georgischer Präsident war. Erich Honecker hatte 1986 durch unsere Aufklärung aus dem Weißen Haus in den USA erfahren, dass die Sowjetunion angeblich schon damals bereit gewesen wäre, die DDR aufzugeben. Ich fragte Schewardnadse: Ist da etwas dran? Seine Antwort war ausweichend: Um die Sowjetunion zu erhalten, so der ehemalige sowjetische Außenminister, habe man „allen Ballast abwerfen müssen.“ Wir, die DDR, sollen nach dieser Version keine Brüder gewesen sein, sondern „Ballast“. Nicht der treueste und  wohl auch ehrlichste Bündnispartner der Sowjetunion, sondern eine Bürde, der man sich entledigen wollte. Dass Präsident Jelzin später Erich Honecker an den politischen Gegner Kohl auslieferte, damit der ihn vor Gericht stellen konnte, auch dafür, dass Honecker ein treuer Bündnispartner der UdSSR war, gehört in dieses nicht ruhmvolle Kapitel.

1997 sind Sie selbst der politischen Justiz in der BRD zum Opfer gefallen und zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Wozu diese politische Abrechnung?
Mein Schicksal war eines unter vielen. Nachdem Moskau der Vereinigung zugestimmt hatte, leitete die bundesdeutsche Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren gegen mehr als 100 000 Hoheitsträger der DDR ein. Begründet hat das der damalige bundesdeutsche Justizminister Kinkel mit den Worten: » Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat …» Die bundesdeutsche Justiz hat den politischen Auftrag ihrer Regierung dienstbeflissen erfüllt. Der Sache nach stand damit auch die sowjetische Deutschlandpolitik seit 1945 vor bundesdeutschen Gerichten. Das völkerrechtswidrige Vorgehen der Bundesregierung und ihrer Justiz hat dazu geführt, dass es einen kompletten Austausch der DDR-Eliten gegeben hat. Nicht nur bei den Staats- und Parteifunktionären, sondern auch im Bereich der Wissenschaft, der Diplomatie, der Medizin, der Kultur, des Sports, quasi aller gesellschaftlichen Bereiche. Nach vorliegenden Untersuchungen wechselten die Nazis 1933 elf Prozent der Eliten der Weimarer Republik aus. In Westdeutschland wurden 1945 nach dem Krieg lediglich dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue bundesdeutsche Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten ins berufliche und damit oft auch ins soziale Aus. Obwohl Ostdeutschland ça. 20% der Bevölkerung der Bundesrepublik stellt, sind nur etwas mehr als 5% der Ostdeutschen in Führungspositionen von Politik, Justiz, Armee, Medien, Kultur und Vorständen von Unternehmen. Dass ein ehemaliger Bundespräsident und die 3 Justizminister Kinkel vor Staatsanwälten und Richtern auf dem 15. Deutschen Richtertag in Köln am 23. September 1991. Bundeskanzlerin aus dem Osten kommen, hängt nicht mit deren DDR-Biografien zusammen. Vielmehr wurden sie gewählt, nachdem sich westdeutsche Kandidaten für diese Funktionen politisch-moralisch verbraucht hatten. ExPräsident Gauck hat zudem öffentlich bekannt, im Kopf „total westlich“ zu sein. –

In den BRD-Medien wird die DDR als „Spitzel-Staat“ dargestellt, in dem die Stasi alle abgehört hat. Es gibt sogar pathetische Filme wie „Das Leben der Anderen“, wo die Stasi, um eine Wohnung abzuhören, einen ganzen Dachboden zum Abhörlabor ausbaut. In der BRD, wenn man deren Medien glaubt, wurde niemand bespitzelt… Eine Lüge der BRD-Propaganda?
Zunächst : Je weiter wir uns zeitlich vom Ende der DDR entfernen, um so boshafter werden die offiziellen Demütigungen. Was hängt man der DDR nicht alles an? „Russenknechte“ waren wir, » Kremlagenten » auch « Mörder » - kein Schimpfwort ist zu gemein, um nicht gegen die DDR gebraucht zu werden. Alles Ungemach des Kalten Krieges, der von beiden Seiten geführt worden war, wird allein der DDR in die Schuhe geschoben. Am häufigsten nennt man die DDR einen « Unrechtsstaat ». Dazu werden Filme gedreht, Medien missbraucht, Romane veröffentlicht, kurz: Die bürgerliche Gesellschaft kriminalisiert den ersten Versuch, auf deutschem Boden den Sozialismus aufzubauen. Tatsächlich war die DDR der deutsche Staat, der nie einen Krieg geführt hat. Kein - DDR-Soldat hat je seinen Fuß zu Kampfeinsätzen auf fremdes Territorium gesetzt. Allein das rechtfertigt, sich der DDR mit größtem Respekt zu erinnern. Einzigartig an der DDR war vor allem: Ein Drittel Deutschlands war über 40 Jahre dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen. Das ist aus der Sicht unserer politischen Gegner die eigentliche Sünde der DDR, die niemals vergeben wird. In diesem Zusammenhang werden die ehemaligen Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit zu Unholden erklärt und erhalten eine geringere Rente als ihnen zustände. Trotz größter Anstrengungen ist es der Strafjustiz jedoch nicht gelungen, auch nur einen einzigen Fall von Folter, radioactiver Bestrahlung, Verabreichung von Psychopharmaka, Elektroschocks oder dergleichen, worüber die Medien viel Grausiges berichtet hatten, nachzuweisen. Solange die Akten der westdeutschen Geheimdienste nicht genau so offen liegen wie die des Ministeriums für Staatssicherheit, wird es keine gerechte Bewertung der deutschen Geheimdienste geben.

Man behauptet auch, die DDR sei Pleite gewesen. Was sagen Sie dazu ?
Es geht vor allem um das offenbar tief verwurzelte antikapitalistische Potential, das im Osten Deutschlands immer noch lebendig ist. Indem man behauptet, die DDR sei bankrott gewesen, kann man verdecken, dass sich der wirkliche Kollaps der DDR-Industrie erst nach dem Anschluss der DDR an die BRD ereignete. Dazu ein Vergleich : Nach dem 1. Weltkrieg wurde gegenüber dem Vorkriegstand von 1913 noch 57% produziert. Nach dem 2. Weltkrieg 1946 im Verhältnis zum Vorkriegstand von 1938 immerhin noch 42%, 1992 auf dem Höhepunkt der Privatisierung des Volkseigentums gegenüber dem vorletzten Jahr der DDR nur noch 31 Prozent. Das Volkseigentum der DDR wurde verscherbelt. 85% davon erhielten Eigentümer aus dem Westen, 10% gingen ins Ausland und knappe 5 % blieben im Osten. Die Bundesrepublik übernahm von der DDR etwa 8.000 Betriebe, 20 Milliarden Quadratmeter Agrarflache, 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien, Forsten, Seen, 40.000 Geschäfte und Gaststatten, 615 Polikliniken, 340 Betriebsambulatorien, 5.500 Gemeindeschwesternstationen, Hotels, Ferienheime, das beträchtliche Auslandsvermögen der DDR, Patente, Kulturgüter, geistiges Eigentum und manches mehr.4 Die DDR hinterließ der Bundesrepublik keine Erblast in Höhe von 400 Milliarden DM – wie behauptet wird, sondern ein Volksvermögen von 1,74 Billionen Mark an Grundmitteln und 1,25 Billionen Mark im produktiven Bereich - ohne den Wert des Bodens und den Besitz von Immobilien im Ausland.

Warum ist die rassistische und nationalistische Partei AfD bei den Bundestagswahlen 2017 ausgerechnet in der ehemaligen DDR auf 21,6% gekommen und hat in den Umfragen 2019 dort teilweise an erster Stelle gestanden?
Die AfD ist kein ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches Problem. Die geistigen Anführer im Osten kommen fast alle aus den westdeutschen Bundesländern. Nicht jeder Ostdeutsche, der die AfD wählt, ist auch ein Anhänger der AfD. Ihre Stärke ergibt sich aus dem Versagen der etablierten Parteien. Nicht wenige Ostdeutsche sagen aus Enttäuschung über die Einheit: »Integriert doch erst mal uns!« Daraus spricht, dass sie sich immer noch als «Fremde im eigenen Land» sehen. Diese Menschen global in die «rechte Ecke» zu stellen oder ihnen AfD Sympathie zu unterstellen, ist falsch. Ich kenne eine Menge Leute, die mir sagen, dass sie aus Protest gegen die aktuelle Politik AfD wählen, obwohl sie gar nicht wissen, was die AfD wirklich will. Denen rate ich: Keine Kränkung kann rechtfertigen, Nazis und Neonazis zu wählen. Die Kraft, das Geld und die Ressourcen, die man einsetzt, um die DDR zu denunzieren – eine ganze „Aufarbeitungsindustrie“ ist damit beschäftigt – wären sinnvoller angelegt für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass. Nazis, Neonazis und die geistigen Brandstifter in der AfD sind eine Gefahr für Deutschland – nicht aber das Erbe der DDR. In der DDR-Verfassung hieß es übrigens: "Militärische und revanchistische Propaganda in jeder Form von Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass werden als Verbrechen geahndet." Die offizielle Politik in Deutschland lässt die AfD auf den Straßen gewähren bis hin, dass sie Polizeigewalt gegen demokratische Gegenwähr von Antifaschisten und linker Kräfte zulässt.

Empfinden Ostdeutsche – nach 30 Jahren Anschluss an die BRD – noch etwas für Russland? Ist der deutsch-russische Kulturaustausch, den es zu DDR-Zeiten gab, völlig in Vergessenheit geraten?
Es gibt ein wunderbares Komsomollied «Дружба – Freundschaft“ mit der inhaltsreichen Aussage: «Всегда мы вместе, всегда мы вместе, ГДР и Советский Союз!» Die Geschichte hat anders entscheiden. Es gibt keine Sowjetunion und es gibt keine DDR mehr. Aber die Werte wie Freundschaft, Solidarität, gegenseitige Achtung und menschliche Nähe, die die Bürger beider Staaten verband, sind nicht veraltet. In offiziellen Umfragen wird sichtbar, dass im Osten Deutschlands mehr »Russlandversteher« leben als im Westen. Als „Russlandversteher“ bezeichnen hiesige Medien vor allem jene Menschen, die die offizielle Politik der Bundesrepublik gegenüber der Russischen Föderation kritisieren. Dass es davon in Ostdeutschland mehr gibt als im Westen, zähle ich zum positiven DDR-Erbe. Wenn auch in Medien das Gegenteil behauptet und das Formale der Begegnungen von Ostdeutschen und Russen herausgestellt wird, bleibt in meiner Erinnerung, dass der Gedanke der deutsch-sowjetischen Freundschaft bei nicht wenigen Ostdeutschen tief wurzelt. Der Begriff »Sowjetmensch« war nicht selten identisch mit dem Wort »Freund«. Und die DDR war in den Augen vieler Russen das andere, das neue, das antifaschistische Deutschland.

Fühlen Sie sich nach all den Jahren Russland gegenüber verbunden?
Auf alle Fälle. Wenn ich heute nach Moskau komme, treffe ich meine Freunde aus Jugendzeiten, darunter auch meine früheren Partner, die wie ich in der DDR in ihrer Heimat 1. Sekretäre des Jugendverbandes Komsomol waren: Jewgenij Tjaschelnikow, Boris Pastuchow und Viktor Mischin. Gern erinnere ich mich der breiten Solidarität aus Russland. Mein Freund J. M. Tjaschelnikow hatte im ganzen Land eine beachtenswerte Solidarität mit den in Deutschland verfolgten Hoheitsträgern der DDR organisiert, die mir viel Kraft gab. Meine Genossen aus der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (КПРФ) hatten mich 2017 zu den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eingeladen. Das war in meinem Leben nach dem Untergang der DDR ein Höhepunkt. Mit Interesse und persönlichen Gewinn habe ich kürzlich den Aufsatz von Genossen Sjuganow „Über die Weltbedeutung der russischen Frage“ gelesen. Ich freue mich über jeden Fortschritt in Russland und ärgere mich über die antirussische Propaganda und die Diffamierung des russischen Präsidenten durch deutsche Medien.

Wie schätzen Sie die aktuelle Russland-Politik der Bundesregierung ein?
Mich beunruhigt, dass es bei deutschen Spitzenpolitikern und bei der NATO kein ernsthaftes Nachdenken über Russland und seine Menschen gibt. Die NATO verschärft ihren Kurs. Sie bestraft, sie sanktioniert, sie diffamiert Russland. Es heißt, Russland sei für Deutschland kein Partner mehr, weil es angeblich die europäische Friedensordnung in Frage stelle. Was ist Russland dann, wenn es kein Partner ist? Ein Feind? Das wäre wirklich der Gipfel der Tatsachenverdrehung. Was wäre wohl aus Europa und der Welt geworden, wenn die Sowjetunion dem deutschen Faschismus damals nicht den entscheidenden Schlag versetzt hätte? Die Welt von heute ist ohne Sowjetunion weder gerechter noch friedlicher geworden. Heute geht es um alles – um Sein oder Nichtsein, Krieg oder Frieden. Die Mauer in Berlin ist weg. Sie wurde nach Osten verschoben, besteht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen NATO und Russland. Sie ist dort, wo sie im Prinzip an jenem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Das ist nun wahrlich nicht die Wende, die 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde. Das sollte Politiker aller Parteien nachdenklich stimmen. Dreißig Jahre nach der staatlichen Einheit sollte es endlich heißen: Ohne Russland kann es keine europäische Friedensordnung geben. Aus der deutschen Politik muss die Russophobie verbannt werden. Deutsche Politiker müssen gegenüber Russland einen anderen Ton anschlagen, der Freundschaft und Zusammenarbeit, nicht aber „Sanktionen“ und „Bestrafungen“ fördert. Von Russland geht keine Gefahr aus.

Finden Sie es nicht auffällig, dass die sog. „friedlichen Revolutionen“ in Osteuropa seit November 1989 immer nach dem gleichen Szenario aufgesetzt werden? War die DDR hier nicht ein Testlabor der westlichen Geheimdienste? Die Vermutung stünde nahe, auch mit einem aktuellen Blick auf Belorussland…
Durchaus. Im Januar 1989 erfuhren wir aus einem Geheimpapier aus dem Weißen Haus, dass Vernon A. Walters, ein persönlicher Freund von Präsident Bush aus CIA-Zeiten, neuer US-Botschafter in Bonn werden sollte. Walters war der Mann fürs Grobe. Keine Schurkerei der CIA der letzten Jahrzehnte außerhalb der US-amerikanischen Grenzen ohne sein Zutun. Wo gegen souveräne Regierungen geputscht wurde, die den USA nicht passten, war der CIA-Mann dabei. Bush soll seinem Getreuen den Botschafterposten in Bonn mit den Worten schmackhaft gemacht haben : »In Deutschland geht es ums Ganze!« Das war Teil eines Masterplans der neuen US-Administration. Bush hatte die Parole herausgegeben, die Sowjetunion, »in die Wertegemeinschaft des Westens « zu holen. Er proklamierte die Überwindung der Spaltung Europas durch die Überwindung des Sozialismus. Dieser Plan wurde auf dem NATO- Gipfel in Brüssel Ende Mai 1989 erörtert. Die deutsche Einheit war nicht ihr Hauptziel. Sie war nur eine Zwischenstation auf dem Wege, der ganzen Welt die NATO- und EU- Werte zu diktieren. Das hat sich im Prinzip nicht geändert. Das Ziel ist klar definiert : Minsk ist nur eine Etappe. Das Ziel ist Moskau. Bis dorthin sind es nicht einmal 500 km. Der Ring der NATO um die Russische Föderation soll geschlossen werden, ein Bündnis der Staaten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer soll einen Cordon sanitaire gegen Russland bilden. In Anlehnung an ein Wort aus dem Kommunistischen Manifest trifft wohl auf die Gegenwart zu : « Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd … » gegen ein Gespenst verbündet. Dieses „Gespenst“ heißt wieder einmal Russland. « An allem ist der Russe Schuld », dieses Feindbild kenne ich noch aus Kindheitserinnerungen. Und weil die Russische Föderation sich dagegen wehrt, wird sie dämonisiert. Das Spiel mit Provokationen hat seine Geschichte. Um diesen globalpolitischen Aspekt der aktuellen belorussischen Situation zu meistern, ist von Bedeutung, dass die Führung in Minsk gemeinsam mit der Mehrheit des Volkes nach Wegen sucht, innenpolitische Fehlentwicklungen zu vermeiden. Das ist der beste Weg, um die selbsternannten « bunten Revolutionäre » zu stoppen.

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EGON KRENZ
„Unrecht kann ich nur bedauern“

Er war sein Kronprinz und stürzte Erich Honecker erst, als es zu spät war. Er wollte die DDR retten und scheiterte nach sieben Wochen als letzter Staatschef, der von der SED gestellt wurde: ein Gespräch mit Egon Krenz, 30 Jahre nach dem Ende der DDR.

Von Gunnar MeinhardtOliver Michalsky

 

Nach einer Bilderbuchkarriere in der FDJ und der SED drängte Egon Krenz im bewegten Oktober 1989 seinen politischen Ziehvater Erich Honecker aus dem Amt, wurde SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender – und wollte die DDR als sozialistischen Staat retten. Wenige Wochen später verlor er alle Ämter.

Wir treffen den einstmals mächtigsten Mann der DDR auf dem Darß, wo er hinter den Dünen in einem Häuschen mit gepflegtem Garten lebt. Er ist 83 Jahre alt und macht einen fitten Eindruck. Krenz ist gut vorbereitet und legt einen Stapel Dokumente auf den Tisch.

WELT: Herr Krenz, vor 30 Jahren haben Sie, der einflussreiche SED-Politiker und kurzzeitige Staatschef, Ihr Land verloren. Wie konnte das passieren?

Egon Krenz: Darüber denke ich seit 1989 nach. Es wäre zu einfach, das Ende der DDR auf die Unfähigkeit von Personen zu reduzieren. Die Sowjetunion hatte den Kalten Krieg verloren. Das hatte unmittelbare Auswirkungen auf die DDR. Es gibt nicht den einen Grund. Es ist ein Amalgam von subjektiven und objektiven, von historischen, nationalen und internationalen, politischen, ökonomischen und moralischen Faktoren, die schließlich zur Niederlage führten. Der Platz der DDR im Zentrum Europas war von Anfang an ziemlich unbequem.

WELT: Was wollen Sie damit sagen?

Krenz: Wir standen immer im Spannungsfeld zwischen Freundstaaten im Osten, denen der Krieg schlimme Wunden gerissen hatte und – gelinde gesagt – uns nicht gut gesonnenen Weststaaten, die mit dem Marshallplan als Schaufenster zum Osten hochgepäppelt wurden. Weder die Westdeutschen noch die Ostdeutschen waren 1945 in der Lage, sich die Bedingungen ihres weiteren Lebens auszusuchen. Die Umwälzungen in der DDR waren eine legitime Alternative zur bisherigen deutschen Geschichte mit zwei Weltkriegen und der Hitlerbarbarei. Beide deutsche Staaten standen im harten Ringen sich bekämpfender Gesellschaftssysteme.

WELT: Fragen Sie sich manchmal, warum Ihnen die Leute zu Hunderttausenden davongelaufen sind?

Krenz: Natürlich bewegt mich das bis heute. Erst den Memoiren von Franz Josef Strauß blieb es vorbehalten, die Gründe dafür im wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik, in ihrem Mangel an Arbeitskräften und in den guten Verdienstmöglichkeiten zu sehen. Das wäre reparabel gewesen, wenn es gelungen wäre, in der DDR eine höhere Arbeitsproduktivität zu erreichen, um die Bedürfnisse der Bürger besser befriedigen zu können. Die DDR war von Anfang an der ökonomisch schwächere Staat im Verhältnis zur Bundesrepublik. Ganz Deutschland hatte den Zweiten Weltkrieg verloren, allein die DDR wurde zur Kasse gebeten. Die DDR-Reparationsleistungen waren 25-mal höher als die der alten Bundesrepublik. Die DDR existierte dank der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Als sie in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre durch die Perestroika-Politik ihre ökonomischen Verpflichtungen gegenüber der DDR nicht mehr einhalten konnte, änderte sich das grundlegend. Wir haben leider versäumt, darüber offen mit der Bevölkerung zu reden und vor allem die Jugend einzubeziehen.

WELT: Der alte kommunistische Spruch „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ wandte sich plötzlich gegen die SED.

Krenz: Gorbatschow stellte richtige Fragen, hatte aber keine schlüssige Konzeption zur Veränderung. Wer noch heute meint, die DDR hätte einfach Gorbatschows Perestroika folgen sollen, vergisst, dass diese Politik schließlich zur Auflösung der Sowjetunion führte.

WELT: Litauer, Letten und Esten hatten es 1990 aus eigenem Antrieb sehr eilig, sich dem Machtbereich Moskaus zu entziehen und eine unabhängige Zukunft zu gestalten.

Krenz: Die Balten-Geschichte ist eine besondere. Mich beschämt, dass dort Nato-Truppen stehen, darunter auch deutsche – unmittelbar an der russischen Grenze. Das ist geschichtsvergessen.

WELT: Mit defensivem Auftrag.

Krenz: Russland hat ein berechtigtes Sicherheitsbedürfnis. Ich habe einige Jahre in Moskau gelebt, war dabei, wenn russische Familien des 22. Juni gedachten, jenes Tages, an dem Deutschland 1941 die Sowjetunion überfallen hatte. Es gibt bei den Russen so etwas wie einen Gesellschaftsvertrag zwischen den Generationen: Nie wieder sollen ausländische Truppen so nahe der heimatlichen Grenze stehen wie 1941. Das ist angesichts von 27 Millionen sowjetischen Opfern im Zweiten Weltkrieg verständlich. Das sollten deutsche Politiker nie vergessen. Zudem: Ohne die Russen gäbe es keine deutsche Einheit.

WELT: Es war eine freie Entscheidung etwa der Polen, der Nato beizutreten.

Krenz: Was ist denn das für eine „freie Entscheidung“, die auf Wortbruch basiert? Ich rede aus eigenem Wissen: Nato-Truppen sollten im Falle der deutschen Einheit nicht einmal auf dem einstigen Territorium der DDR stationiert sein, geschweige denn noch weiter östlich. Ich habe noch die Worte von Herrn Wörner, dem damaligen Generalsekretär der Nato, im Ohr: „Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die Nato-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“ Dass Gorbatschow so blauäugig war, dies ohne schriftliche Zusicherung zu glauben, kann kein Grund dafür sein, gegebene Versprechen zu brechen.

WELT: Der damalige KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow hat für diese politische Entwicklung das Fundament gelegt. Wie ist Ihre Sicht auf ihn?

Krenz: Ich habe Gorbatschow lange vertraut. Sogar mein einstmals sehr gutes Verhältnis zu Erich Honecker nahm deshalb Schaden. Am 1. November 1989 hatte ich mit Gorbatschow ein vierstündiges Gespräch in Moskau. Ich fragte ihn: „Welchen Platz räumt die Sowjetunion beiden deutschen Staaten im gesamteuropäischen Haus ein?“ Ich erinnerte ihn daran, dass die DDR im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und des nachfolgenden Kalten Krieges entstanden sei, also auch ein Kind der Sowjetunion wäre. Es sei für die DDR wichtig zu wissen, ob die Sowjetunion weiter zu ihrer Vaterschaft stehe.

WELT: Was sagte er?

Krenz: „Die Einheit Deutschlands steht nicht auf der Tagesordnung. Es ist an der Zeit, auf Kanzler Kohl stärkeren Druck auszuüben. Er hat auf das Pferd des Nationalismus gesetzt. Ihm darf die DDR nicht vertrauen.“ Es mag von mir naiv gewesen sein, aber ich habe Gorbatschow geglaubt. Zur gleichen Zeit haben sich sowjetische Emissäre im Bundeskanzleramt hinter unserem Rücken erkundigt, was der Bundesrepublik die deutsche Einheit wert sei.

WELT: Die DDR war kurz darauf passé, ein Staat, der sich den Machtanspruch, die führende Rolle der SED, in die Präambel der Verfassung gravierte. Das kann man so lesen: 2,3 Millionen SED-Mitglieder als Herrscher über 14 Millionen Nicht-SED-Mitglieder. Woher nahm die SED diese Hybris, die bis zum Ende der DDR mit dem Lied besungen wurde „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“?

Krenz: Es kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein, ein Lied für die Verfassungswirklichkeit der DDR auszugeben. Die DDR-Verfassung wurde übrigens in einer etwa halbjährigen öffentlichen Diskussion von der Bevölkerung geprüft. Das führte zu 118 Änderungen des Entwurfes. Am 6. April 1968 billigten 94,5 Prozent der Wähler die neue Verfassung in einem Volksentscheid. Natürlich ist mir klar: Die Führung durch eine Partei muss durch Vertrauen erobert, nicht durch Gesetz übertragen werden.

WELT: Wahlen gab es auch in der DDR. Und sie waren Chef der DDR-Wahlkommission bei der gefälschten Kommunalwahl 1989, die als einer der Sargnägel der DDR gilt.

Krenz: Ich bin weder in der DDR noch in der Bundesrepublik wegen Wahlfälschung verurteilt worden. Es ging hierbei auch keineswegs nur um subjektive Schuld. Der Verlust an Realitätssinn der DDR-Führung war verbunden mit dem naiven Glauben, dass eine nahezu 100-prozentige Zustimmung zur Politik zu erreichen wäre. Ich habe mich in all meinen Veröffentlichungen dazu kritisch geäußert.
Als Bundesbürger bewegt mich nun aber 30 Jahre später mehr, dass wir bei den Europawahlen arg getäuscht wurden. An der Spitze der EU steht eine Persönlichkeit, die nicht einmal auf dem Wahlzettel stand. Ist das nicht auch eine Art Wahlfälschung, für die allerdings niemand zur Verantwortung gezogen wird?

WELT: … was – im Gegensatz zur DDR im Frühjahr 1989 – in der Öffentlichkeit anschließend breit diskutiert und teilweise sehr scharf kritisiert wurde. Ist diese Bundesrepublik inzwischen Ihr Land?

Krenz: Ihre Frage ist interessant. Meist werde ich gefragt: Sind Sie inzwischen in der Bundesrepublik angekommen? Ich antworte: Würden Sie diese Frage auch einem Westdeutschen stellen? Ostdeutsche müssen immer ankommen, Westdeutsche sind bereits immer da.

WELT: Deswegen stellen wir die Frage so nicht. Wir sind beide aus dem Osten.

Krenz: Was heißt mein Land? Ja, welches sonst? Das schönste Land ist für mich das Fischland, jene Gegend, in deren Nähe ich aufgewachsen bin und jetzt auch wohne.
Auch als DDR-Bürger war ich kein Russe, sondern Deutscher. Ich weiß, manchem fällt das Bekenntnis zu Deutschland schwer, weil Nationalisten es für ihre Zwecke missbrauchen. Es gab immer zwei Linien in der deutschen Geschichte, die Sicht von oben und die von unten. Kurz vor seiner Ermordung im KZ Buchenwald, nach mehr als elf Jahren Haft, hat der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann bekannt, er sei stolz, ein Deutscher zu sein. Das beeindruckt mich bis heute. Es beeinflusst auch mein Verhalten in der Gegenwart: Reichskriegsflaggen zum Beispiel gehören nicht nur nicht auf die Treppen des Reichstages, sie gehören auch nicht auf die Straße, sie gehören verboten.

WELT: Noch einmal: Ist das Ihr Land?

Krenz: Ich spreche ungern darüber, aber wenn Sie fragen, bitte schön. Natürlich habe ich meine Probleme mit dem politischen System. Es hat mich 1990 mit 22 Ermittlungsverfahren empfangen, darunter den irren Vorwurf, für den Absturz der Pan-Am-Boeing 747 über Lockerbie mitverantwortlich zu sein. 21 Verfahren mussten eingestellt werden, weil die bundesdeutschen Vorwürfe sich als unhaltbar erwiesen. Und was die sechseinhalb Jahre Haftstrafe betrifft, so bin ich gelassen. Geschichtlich wird es eher der Bundesrepublik negativ angerechnet werden. Um DDR-Bürger bestrafen zu können, musste sie ihre eigenen Regeln, das uralte Rückwirkungsverbot, außer Kraft setzen.

WELT: Sie sprachen von „Siegerjustiz“.

Krenz: Tatsächlich gesagt habe ich, es wäre für den Einigungsprozess, für die richterliche Souveränität und die geschichtliche Gelassenheit, für die Wahrheit und Gesetzlichkeit besser gewesen, wenn sich die bundesdeutsche Justiz in Bezug auf die DDR selbst für befangen erklärt hätte. Erst das hätte sie von dem Vorwurf befreit, Siegerjustiz zu sein. Das ist etwas ganz anderes, als mir unterstellt wird. Ob die Richter sich subjektiv für befangen hielten oder nicht, objektiv stehen wir Deutschen durch die feindselige Vergangenheit beider Staaten in einer elementaren Befangenheit. Wären sonst die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens so anhaltend, wie sie jetzt sind?

WELT: Aber in Ihrem Land wurden Menschen getötet, die versucht haben, die DDR zu verlassen. Es wurden Menschen, die abweichende Meinungen hatten, nicht nur überwacht, sondern teilweise schwer drangsaliert.

Krenz: Unrecht kann ich nur bedauern – ob es nun an der Bündnisgrenze von Warschauer Vertrag und Nato, die zugleich die Staatsgrenze der DDR war, oder vor den Grenzen Europas. Wo immer es vorkommt, muss es verfolgt und bestraft werden. Was mich inzwischen wirklich wundert, ist diese Einseitigkeit von Leuten, die geschichtliche Fakten negieren und alles darauf reduzieren, dass die DDR-Führung eine schießwütige Riege gewesen sein soll. Wir wollten keine Toten, weder an der Grenze noch anderswo. Jeder Tote hat mich erschüttert. Dass wir unter den gegebenen Umständen der Bipolarität der Welt Tote und Verletzte nicht verhindern konnten, zähle ich zu meiner Negativbilanz. Ich weiß bis heute nicht, was wir in Berlin an dem hätten ändern sollen, worauf sich die vier Mächte als globalen politischen Kompromiss geeinigt hatten. Man muss ja nicht unbedingt meine Argumente teilen. Es würde schon genügen, zu akzeptieren, was der amerikanische Präsident Kennedy, der sich auch als Berliner fühlte, sagte: „Keine schöne Lösung, aber besser als ein Krieg“.

WELT: Aber beim Mauerbau 1961 ging es nicht primär um Krieg und Frieden. Es ging darum, dass die DDR einen beispiellosen Aderlass an Menschen verzeichnete.

Krenz: Im Juni 1961 gab es ein Treffen zwischen Chruschtschow und Kennedy. Als die auseinandergingen, hat Chruschtschow zu Kennedy gesagt: „Herr Präsident, wir wollen keinen Krieg. Wenn Sie aber einen wollen, dann können Sie ihn haben.“ So dramatisch war die Situation damals.

WELT: Aber natürlich war die Mauer etwas, was die DDR an sich in der Folgezeit konstituiert hat, als Sie in wichtige politische Ämter kamen. Und Sie mussten damit Politik machen.

Krenz: Ich versuche, geschichtliche Tatsachen ins Gedächtnis zu rufen, mehr nicht. Zudem: Die offene Grenze war für die DDR sehr teuer. Nach damaligen Preisen berechnet hat sie mehr als 100 Milliarden DM gekostet. Das konnte die DDR ökonomisch nicht durchhalten.

WELT: Also doch kein antifaschistischer Schutzwall, sondern ein Schutzwall aus wirtschaftlicher Erwägung.

Krenz: Das eine schließt das andere ja nicht aus.

WELT: Sind Sie mit sich im Reinen?

Krenz: Mit sich völlig im Reinen zu sein, ich weiß nicht, ob das einem Politiker jemals gelingen kann.

WELT: Im Reinen im Sinne von: Sie erkennen an, wo Fehler waren.

Krenz: Ich war 1989 angetreten, die DDR als souveränen sozialistischen Staat zu erhalten. Das ist schiefgegangen. Dennoch bin ich kein gebrochener Mann. Ich weiß, was ich geleistet habe. Ich weiß, welche Fehler ich gemacht habe, bin inzwischen weder Einsiedler noch unbelehrbar.

WELT: Haben wir nicht gesagt.

Krenz: Klar, ganz im Reinen kann ich mit mir dennoch nicht sein. Wenn ich sehe, mit wie viel Unrecht der Einigungsprozess verbunden ist, bin ich äußerst betroffen. Wenn laut Bertelsmann-Stiftung sich noch immer rund 60 Prozent der befragten Ostdeutschen wie Bürger zweiter Klasse fühlen, hat das viel mit diesen Ungerechtigkeiten zu tun. Stichwort Treuhand genügt: Mitten im Frieden und mitten in Europa wurde eine ganze Volkswirtschaft zerstört. Zudem: Die DDR hatte erstklassig ausgebildete – wir sagten damals Fachleute – heute heißt das wohl etwas abgehoben Elite.

WELT: Aber es gab doch eine Elite, auch wenn man es nicht so nannte.

Krenz: Ja. Es gab sie nicht nur in der Politik, auch in der Wissenschaft, der Bildung, der Kultur, der Medizin, dem Staat. Das Besondere: Viele von ihnen waren nach dem Krieg noch Arbeiter und Bauern, die in den 40er-Jahren ihr Abitur auf der ABF …

WELT: … der Arbeiter- und Bauern-Fakultät …

Krenz: … ihr Abitur nachmachten. Es waren Menschen, die – wie man heute zu sagen pflegt – von ganz unten kamen. 1990 standen sie oft auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Mit der deutschen Einheit kamen sie in den Vorruhestand oder die Arbeitslosigkeit, obwohl sie in der schöpferischsten Phase ihres Lebens waren.

WELT: Nicht alle.

Krenz: 85 Prozent. Nicht nur Gesellschaftswissenschaftler, auch Ärzte, Naturwissenschaftler und selbst unbotmäßige Theologen. Zum Vergleich: 1933 wechselten die Nazis elf Prozent der Eliten der Weimarer Republik aus, auf dem Territorium der alten BRD waren es nach dem Krieg dreizehn Prozent der Eliten der Nazidiktatur. Urteilen Sie selbst, wie die DDR-Eliten behandelt wurden.

WELT: Die Physikerin Angela Merkel etwa hat sich nicht beirren lassen.

Krenz: Man hört ja, sie sei eine gute Physikerin gewesen. Spricht für das DDR-Bildungswesen. Ich habe allerdings nie erfahren, ob sie sich jemals vor ihre akademischen Lehrer gestellt hat und für deren Verbleib in der Wissenschaft eingetreten ist.

WELT: Wäre die DDR zu retten gewesen?

Krenz: Ich bin kein Sterndeuter. Die Geschichte ist nie alternativlos. Gelegentlich denke ich, es grenzt an ein Wunder, dass wir angesichts unserer Existenzbedingungen vierzig Jahre durchgehalten haben. Man darf die DDR nicht nur von ihrem Ende her betrachten. Ich erinnere mich an den Besuch von Erich Honecker 1987 in der Krupp-Villa Hügel in Essen. Dort traf er führende Vertreter der westdeutschen Wirtschaft. 300 Vertreter der Großindustrie und der mittelständischen Wirtschaft warben um seine Gunst. Sie alle waren sachkundige Kenner der DDR-Wirtschaft. Sie trafen sich doch nicht mit dem DDR-Staatsoberhaupt, weil sie eine „marode Wirtschaft“ unterstützen wollen. Sie witterten gute Geschäfte. Glauben Sie, Franz Josef Strauß hätte sich für einen Kredit für die DDR eingesetzt, wenn er das Ende der DDR vorausgesehen hätte? Meinen Sie, Helmut Kohl hätte sich 1987 vor dem Bundeskanzleramt die Nationalhymne der DDR angehört, wenn er den Untergang der DDR geahnt hätte? Meinen Sie wirklich, Ihre Zeitung hätte im Herbst 1989 darauf verzichtet, die DDR in Gänsefüßchen zu setzen, wenn man die Grenzöffnung vorausgesehen hätte? Helmut Kohl hat mich noch am 11. November 1989 angerufen. Er hat sich nicht für den „Mauerfall“ bedankt, wie das heute fälschlicherweise heißt, sondern korrekt für die „Grenzöffnung“.

WELT: Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten verpasst, die Jugend mitzunehmen. Aber der, der Jugend mitnehmen sollte, der sitzt vor uns.

Krenz: Wir, natürlich auch ich, hatten die irrige Auffassung, die DDR sei frei von Generationskonflikten. Wir haben auch unterschätzt, dass junge Leute nicht von Achtzigjährigen wissen wollten, was mit der Mauer in hundert Jahren sein wird. Sie wollten selbst über ihre Zukunft mitbestimmen. Wir haben im Frühsommer 1989 nicht den Ruf vieler ernst genommen „Wir bleiben hier“, sondern leider geschwiegen, als uns so viele junge Leute verlassen haben. Erst danach kam die Losung „Wir sind das Volk“, die später mit massiver Unterstützung aus dem Westen zu dem Slogan wurde „Wir sind ein Volk“.

WELT: Und?

Krenz: Ja, die Gesamtsituation im Sommer und Herbst führte am 18. Oktober 1989 zur Absetzung Erich Honeckers. Das war kein Rücktritt, sondern eine Amtsenthebung nach mehrtägigen harten Auseinandersetzungen im Politbüro. Mir ist die Initiative dazu nicht leichtgefallen. Schließlich bin ich jahrelang Politiker an der Seite Honeckers gewesen. Doch irgendwann werden die Söhne doch selbstständig.

WELT: Und daraus entwickelte sich eine Eigendynamik, die in der Demonstration mehrerer Hunderttausend Menschen in Berlin am 4. November kulminierte. Sie hatten als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates tags zuvor den Sicherheitsorganen befohlen, keine Gewalt auszuüben. Fühlen Sie sich dafür zu wenig gewürdigt?

Krenz: So eitel bin ich nicht. Geärgert habe ich mich, als Bundespräsident Köhler über die Ereignisse am 9. Oktober 1989 in Leipzig auf dem staatlichen Festakt 2009 behauptete: „Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen.“ Nichts von alldem hat es je gegeben. Ich habe Bundespräsident Steinmeier gebeten, diese Darstellung zu korrigieren. Das hat er bis heute nicht getan. Dafür aber beim staatlichen Festakt 2019 an selber Stelle behauptet: „Die Geschichte wäre anders verlaufen, hätte im Kreml Michail Gorbatschow nicht entschieden, keine Truppen zu senden; hätte Michail Gorbatschow die SED-Führung nicht zur Zurückhaltung gemahnt.“ Eine solche Aussage unterstellt, dass die DDR-Führung entschlossen gewesen wäre, Gewalt einzusetzen. Aus eigenem Wissen kann ich bezeugen, dass zu keiner Zeit erwogen wurde, in Leipzig und anderswo gewaltsam gegen Demonstranten vorzugehen. Deshalb war eine Ermahnung von Gorbatschow auch nicht nötig. Eine Mahnung aus Moskau dieses Inhalts ist mir nie zugegangen weder mündlich noch schriftlich, weder übermittelt durch den Botschafter noch direkt aus dem Kreml. Ich wüsste gern, aus welcher Quelle sich die Aussage des Bundespräsidenten speist? Es geht hier ja nicht um Wortklauberei, sondern um geschichtliche Vorgänge und deren Deutung.

WELT: Wie lange haben Sie denn gebraucht, um zu begreifen, dass Sie trotz Ihrer Macht als erster Mann im Staat machtlos sind?

Krenz: Ich war doch nicht machtlos. Ich hätte den Befehl geben können, die Grenzen wieder zu schließen. Dagegen hätten die sowjetischen Freunde gar nicht sein können. Denn ihre erste Reaktion war, die DDR sei gar nicht berechtigt gewesen, die Grenze zu öffnen. Was zutraf: In Berlin hatten, bekräftigt durch das Abkommen der vier Mächte 1971, die Alliierten unverändert das Sagen. Die einseitige Veränderung des Status quo – was die Grenzöffnung nun mal darstellte – war ein Verstoß der DDR gegen geltendes internationales Recht. Auf die Kritik des sowjetischen Botschafters reagierte ich mit den Worten: „Wenn wir heute Nacht anders entschieden hätten, hätte es Blutvergießen geben können.“ Der Botschafter antworte verantwortungsbewusst: „Ja, da haben Sie recht, teilen Sie das bitte Genossen Gorbatschow mit.“ Daraufhin habe ich ein Staatstelegramm nach Moskau geschickt. Gorbatschow antwortete umgehend und beglückwünschte uns zu unserer Entscheidung.

WELT: Wie war Ihre Reaktion?

Krenz: Zwiespältig.

WELT: Warum?

Krenz: Erst Kritik und nur wenige Stunden später Glückwunsch für die gleiche Sache. Können Sie sich vorstellen, was nach einer schlaflosen und vor allem explosiven Nacht in mir vorging? Eine falsche Entscheidung hätte durchaus eine militärische Auseinandersetzung provozieren können. Ich wusste in diesem Moment nicht genau, wer hat denn in Moskau noch das Sagen – Gorbatschow, das KGB, der Außenminister, die Armee? Ich wusste aber, dass meine sowjetischen Freunde im Oberkommando der Sowjetarmee in Wünsdorf uns immer gesagt haben: „Wenn Ihr uns braucht, sind wir da.“ So machtlos war ich also gar nicht. Ich habe meine Macht nicht missbraucht. Wir haben die Tür nicht hinter uns zugeschlagen.

WELT: Welche Überschrift geben Sie Ihrem Leben?

Krenz: Es war sinnvoll und hat sich gelohnt.

WELT: Und wann wird die Autobiografie erscheinen?

Krenz: Im Moment freue ich mich, dass mein Buch „Wir und die Russen“ ein Bestseller geworden ist. An meinen Erinnerungen schreibe ich. Ob ich sie je veröffentliche, weiß ich noch nicht.

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