180 Tage, die Deutschland veränderten

Die Getriebenen

Mit „Die Getriebenen“ brachte der Siedler Verlag ein Buch heraus, das ungeachtet seines eher harmlosen Titels in kürzester Zeit zum Bestseller avancierte. Mit seinem packenden Insiderbericht beschreibt der Autor Peter Alexander, Korrespondent der „Welt am Sonntag“, jene 6 Monate der deutschen  und europäischen Politik zwischen September 2015 und März 2016, deren Ergebnis nicht nur im zunächst unkontrollierten Zuzug hunderttausender Flüchtlinge nach Deutschland bestand, sondern auch in einer deutlichen Veränderung des Machtgefüges innerhalb Europas. Alexander rekonstruiert gekonnt die Schlüsselereignisse jener Zeit und gewährt dabei einen tiefen,  zum Teil auch erschreckenden Blick hinter die Kulissen der Macht. Der Leser erkennt, vielleicht entsetzt, dass die Macht auch mal eben übertragen wird, an Stellvertreter, an Leiter von Ämtern, die dann mit Regierungsvollmacht handeln. Manövrieren, Intrigieren und Übertrumpfen des Anderen sind dabei nicht ausgeschlossen. Oft, fast immer, ging es um Zeit, manchmal  um Stunden, um Stunden, in denen über das Schicksal unzähliger Menschen, hier Flüchtlinge, entschieden wurde. Die Rede ist vorrangig von führenden Personen, Merkel also, Seehofer, Gabriel, den EU-Spitzen - und nicht zuletzt Erdogan. Erstaunt erkennt der Leser, wie oft gravierende Entscheidungen ohne Beratung im  Kabinett oder im Bundestag getroffen wurden, Entscheidungen, zu deren Ergebnis der „Laie“ zweifellos länger Debatten erwartete. Kurz: Der Autor erzählt, wie heute Politik gemacht wird, wie deutsche Politiker handeln. Sie sind scheinbar Getriebene, besser vielleicht: Von den Zwängen der selbst geschaffenen Zwänge Zerriebene. An Stelle planmäßigen Handelns hangelte man sich durch, immer im Versuch, den anstehenden Ereignissen noch zuvorzukommen. Peter Alexander lässt erkennen, dass der Kanzler (die Kanzlerin) der Republik im gegebenen Moment über nahezu unbeschränkte Machtbefugnisse verfügt. Wie sonst konnte es zum Beispiel zur Aufhebung der Dublin-Regeln kommen, jenem Beschluss der EU, Flüchtlinge dort zu registrieren, wo sie den Boden Europa betreten und gegebenenfalls dorthin zurück zu senden? Der Bericht gewinnt durch die hier gewählte Form der chronologischen Darstellung der Ereignisse jener 180 Tage. Er macht deutlich, wie und warum  es zur Aufhebung des bereits vorbereiteten Befehls zur Schließung der Grenzen am 13. September 2015 kam  Er schildert, mit welch politischem Geschick schließlich die nahezu gleichzeitige Schließung des „Balkanweges“ für die Flüchtlinge und die türkische Zustimmung zu deren „Rücknahme“ erfolgte. Er lässt ganz speziell in diesem Kapitel erkennen, über welche politische Macht und Einflussmöglichkeiten die deutsche Kanzlerin in ganz Europa verfügt. Erstaunt gewinnt der Leser schließlich auch noch die Erkenntnis, wie es im Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“ zum Einsatz der deutschen Kriegsmarine im Mittelmeer kam.
Auffällig, jedoch dem Titel des Buches entsprechend: Die Sicht der Flüchtlinge bleibt ausgespart.

180 Tage, die Deutschland veränderten. Ein Buch, dass dem Leser auch offenbart: Diese Regierung kann handeln, wenn sie denn will. Dem historisch interessierten und dadurch eher kritischen Leser offenbart das Buch allerdings auch: Das darin oft beschriebene Handeln Einzelner, die unglaubliche Verflechtung der Interessen und Gespräche der Mächtigen Europas, ihre überschnelle oder fehlende Abstimmung ohne Einbeziehung von Parlament und Regierung  erinnern allzu deutlich an das Jahr 1914, an die entscheidenden Monate vor Beginn des I. Weltkrieges.. Wie würden die auf dem Cover des Buches und auf seinen Seiten unzählige Male genannten Führungspersönlichkeiten heute handeln angesichts drohender Kriegsgefahr? Ähnlich wie jene Mächtigen 1914?  Man liest das Buch in einem „Ritt“, die Spannung hält von der ersten bis zur letzten Seite. Doch dem Zeitzeugen jener 180 Tage bleiben Fragen, weniger an das Buch, als an das Verständnis deutscher Geschichtsgestaltung der Gegenwart.

Martin Kunze
                                                                                                                              


Robin Alexander: Die Getriebenen. 
                            Merkel und die Flüchtlingspolitik .Report aus dem Inneren der Macht.
Siedler Verlag München, 2017, 286 Seiten, gebunden, 19,99 Euro,
ISBN 978-3-8275-0093-9

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