Was wurde tatsächlich aus der Nationalen Volksarmee?

Unter dem Slogan „Geschichte im Ersten“ sendete die ARD am 2. November 2015 eine Dokumentation mit dem Titel „Was wurde aus der NVA?“. Diese Dokumentation wollte nach Bekunden ihrer Macher der Frage nachgehen, was mit dem von der Bundeswehr übernommenen „riesigen Waffenarsenal, mit Munition und Ausrüstung der ostdeutschen Warschauer-Pakt-Armee nach dem 3.Oktober 1990 passierte“.

Dies dürfte ein schwieriges Unterfangen gewesen sein und ist es auch heute noch. Dennoch meinen ehemalige Berufsmilitärs der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR: „Die Sendung hätte besser sein können, sogar besser sein müssen. Dabei waren einige Informationen erstaunlich gut.“ 
(S. 5)

Denn, so NVA-Oberst a.D. Bernd Biedermann, Autor der hier zu besprechenden Broschüre, „während man einer ganzen Reihe von Vertretern der Bundeswehr, die in den Prozess der Auflösung der NVA einbezogen waren, ausgiebig Gelegenheit gab, sich dazu zu äußern, ließ man nicht einen einzigen militärischen Repräsentanten der NVA zu Wort kommen. Allein daran wird das Dilemma der bundesdeutschen Medien deutlich. Aber die Sendung offenbarte noch andere Lücken. (…) Der aufmerksame Zuschauer fragte sich vor allem, warum nicht zuerst der Frage nachgegangen wurde 'Was wurde aus dem Personal der NVA?'“ (S. 5 - 6)

Diese Fernseh-Dokumentation war wohl der letzte Anlaß für Biedermann und weitere ehemalige NVA-Militärs – mit Blick auf den bevorstehenden 60. Jahrestag der offiziellen Gründung der NVA am 1. März – zur Herausgabe einer eigenen Print-Dokumentation mit der Betonung auf „tatsächlich“. Biedermann beantwortet in dieser Schrift zunächst die Frage nach dem Warum dieses Rückblickes:

In den vergangenen Jahren hat es nicht an Versuchen gefehlt, die erste deutsche Armee zu diskreditieren, die zu keiner Zeit an einem Krieg oder einer Intervention beteiligt war, und die ihren Verfassungsauftrag bis zuletzt in Ehren erfüllt hat. In den Medien und in einem Teil der Literatur wird die NVA so dargestellt, wie es in die derzeitige Geschichtsschreibung passt. Das darf nicht verwundern, halten sich vermeintliche Sieger doch gewöhnlich für gerecht und tadelsfrei. Die Geschichte lehrt: Sie sind es nicht.“ (S. 4)

Die Broschüre geht daher nach dem Auflisten von „Fakten zum Thema“ vor allem drei Fragen nach und versucht, erste konkrete Antworten zu finden:

Was wurde aus den Menschen, die in der NVA gedient hatten?

Was wurde aus den Einheiten, Truppenteilen und Verbänden?

Was wurde aus der Bewaffnung und Ausrüstung, was aus den Einrichtungen und Immobilien?

Die Daten zum Personal der NVA im Jahre 1990 und dem Verbleib der rund 50.000 Berufs- und Zeitsoldaten nach dem 3. Oktober d.J. sind relativ bekannt, auf sie soll daher hier nicht weiter eingegangen werden. Dafür bietet die Broschüre eine Information, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sein dürfte:

Wie verfuhr man mit den über 160 Generalen und Admiralen der NVA? (…) Laut einem Plan A sollten zunächst 56 Generale und Admirale übernommen werden. Für den Fall, dass dieser Plan abgelehnt wird, war ein Plan B vorgesehen, wonach mindestens 24 Generale und Admirale zu übernehmen wären. Auf einer Kabinettssitzung der Koalition von CDU/CSU und FDP lehnte Hans-Dietrich Genscher als Vizekanzler die Übernahme auch nur eines einzigen Generals entschieden ab.“ (S. 8 - 10)

Generalität und Admiralität sind mit nur 160 Personen jedoch nur ein Sonderfall. Wichtiger ist die Frage, was aus den  übernommenen rund 6.000 Offizieren und 11.000 Unteroffizieren wurde, von denen im April 1994 noch etwa 8.500 und im Juni 1999 noch etwa 4.200 Dienst in der Bundeswehr taten:

Für diejenigen, die den aktiven Dienst zunächst als Soldat auf Zeit in der Bundeswehr fortsetzten, ergaben sich eine Reihe unangenehmer Realitäten. Viele mussten eine Herabsetzung im Dienstgrad hinnehmen, mancher sogar um zwei Stufen. Wegen der permanenten Strukturänderungen und häufiger Standortwechsel blieb die Ungewissheit ständiger Begleiter. Zudem fühlte man sich wie ein Soldat zweiter Klasse. Nur in Ausnahmefällen erhielten sie ein selbständiges Kommando. (…) Dass es nach der Vereinigung einige Elemente einer Armee der Einheit gab, lag vor allem daran, dass die Bundeswehr mit dem umfangreichen Erbe der NVA gar nicht umgehen konnte. Um die Technik, die Führungselemente und Einrichtungen nutzen zu können, brauchte man diejenigen, die sie bedienen konnten. (…)

Es ist zu fragen: Wie berechtigt war und ist die Bezeichnung 'Armee der Einheit' für die Bundeswehr nach dem 3.10.1990?

Fakt ist, dass die NVA mit Wirkung vom 2.Oktober 1990 aufgelöst wurde. Ihre militärische Führung war bereits vorher komplett entlassen worden. Die Übernahme ehemaliger Offiziere und Berufsunter-offiziere der NVA in die Bundeswehr entsprach kaum jenen Gepflogenheiten, die man zwischen nunmehr gleichberechtigten Partnern erwarten kann. Alle militärischen Bestimmungen, Dienstvor-schriften etc. einschließlich des Ausbildungssystems der Bundeswehr behielten ihre Gültigkeit. Alle Traditionen der NVA und erkennbare Bezüge zu ihrer Geschichte wurden über Bord geworfen, waren politisch nicht gewollt.“ (S. 12 - 14)

Eine Ausnahme gibt es mit Gert Gawellek (geb. 1959), der als erster und bis dato einziger früherer NVA-Offizier hochrangige Kommandoposten erhielt und im Januar 2014 sogar Brigadegeneral wurde. Da stellt sich schon die Frage, warum man ausgerechnet diesen Mann ausgewählt hat.

Auf die Frage, was aus den Einheiten, Truppenteilen und Verbänden wurde, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Auch nicht auf die Frage nach dem Verbleib von Bewaffung, Ausrüstung und Immobilien. Zur Beantwortung der letzteren haben Biedermann und Mitarbeiter eine Vielzahl von Daten zusammengetragen. Gerade diese sollte man sich immer wieder vor Augen führen und selbst weitergehende Fragen stellen.

In der Broschüre heißt es dazu u.a.: „..Und zu vergeben waren 138.000 Hektar militärisch genutzter Flächen, bebaut u.a. mit Kasernen und 66.000 NVA-eigenen Wohnungen. Das Gesamtvermögen der NVA wurde damals von Wirtschaftsexperten mit ca. 200 Mrd. DM bewertet.

Wie verwertet man das Material einer ganzen Armee? Das war eine historisch nie zuvor aufgekommene Frage, und sie wurde in ihrer Ausführung bis heute nie exakt untersucht, dafür aber in den Medien beliebig verzerrt dargestellt. Das vorauszuschickende Bild: Es war Beutegut, und so wurde damit verfahren. Es ging dabei kaum ums Geld, sondern eher um Zeit und schnelles Vergessen. Kenntnisse gewinnen, Bereinigen und Auslöschen.“ (S. 23)

Es folgen Auflistungen von Waffen- und Technikexporten in mehr als 60 Länder der Erde, soweit diese öffentlich zugänglichen Quellen entnommen werden konnten. Das möge sich jeder selbst nachlesen. Auch die wenigen Zahlen und Daten im Kurzkapitel „Die Rechnung“, zu deren Bilanz Biedermann nur anmerkt: „Ein Narr, der Böses dabei denkt.“ (S. 31)

Und wie nun wird das Erbe der NVA heute bewahrt? Dazu heißt es in der Broschüre u.a.: „Allen Bemühungen zum Trotz ist es nach 1990 nicht gelungen, das Erbe der NVA zu zerstören. An Versuchen hat es nicht gemangelt. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) beanspruchte zeitweilig ein Alleinstellungsmerkmal, wenn es um die Geschichte der Nationalen Volksarmee ging. Das konnte man trotz eines großen personellen und finanziellen Aufwandes nicht einmal annähernd erreichen. Die zahlreichen Auftragswerke von diversen Historikern liegen seit geraumer Zeit als Ladenhüter in den Buchläden.

Dagegen erfreuen sich die Bücher, die von ehemaligen Angehörigen der NVA selbst geschrieben wurden, einer regen Nachfrage. Man kann mit Fug und Recht feststellen, dass wir unsere Geschichte maßgeblich selbst geschrieben haben. Aber das Schriftgut ist nur die eine Seite. Die andere, ebenso wichtige Seite ist die gelebte Tradition unserer Armee.“ (S. 32)

Die Broschüre wird abgerundet durch die Kopie des Übergabe-/Übernahmeprotokolls der Dienststellung des Chefs der Landstreitkräfte vom September 1990. Dazu wird angemerkt: „Das Protokoll belegt, dass selbst in der schwierigen Situation vor der Auflösung der NVA die dienstlichen Obliegenheiten exakt eingehalten wurden.“ (S. 33)

Diese nur 40-seitige Broschüre kommt zur richtigen Zeit. Nicht aus nostalgischen Gründen, sondern vielmehr als ein Beitrag im Ringen um den Erhalt des Friedens. Und wer könnte sich da nicht kompetenter äußern als die ehemaligen Berufsmilitärs der einzigen deutschen Armee, die keine Angriffskriege geführt, sondern sich dem Erhalt des Friedens verschrieben hatte. Siehe dazu auch den Aufruf „Soldaten für den Frieden“.

Es ist daher zweierlei zu wünschen: Daß diese sehr lesenswerte Publikation eine möglichst große Verbreitung finden möge, insbesondere unter westdeutsch sozialisierten Menschen und unter den Nachgeborenen, und daß sich weitere „Insider“ finden mögen, die die vorgelegte Faktensammlung noch erweitern helfen. Denn insbesondere die Frage nach den finanziellen Erlösen des „Beutegutes“ zugunsten der Bundesrepublik harrt noch der Beantwortung. Da geht es immerhin um zwei- und dreistellige Euro-Milliardenbeträge.


Siegfried R. Krebs


Bernd Biedermann et al.:
Was wurde tatsächlich aus der NVA – Insider blicken zurück.
40 S., brosch., Berlin 2016
5,00 Euro
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