Die meisten Pappnasen waren gar nicht dabei

Peter-Michael Diestel, DDR-Innenminister, über die Wende,
die Unrechtsstaat-Diskussion und die ausgleichende Frau Merkel
(ND vom 10. Februar 2015)

P.-M. Diestel

Peter-Michael Diestel, geboren 1952 in Prora (Rügen);
- Berufsausbildung mit Abitur, Facharbeiter für Rinderzucht;
- Jurastudium in Leipzig; aus politischen Gründen nicht als Rechtsanwalt
  zugelassen;
- 1978-1989 Leiter der Rechtsabteilung einer Agrar-Industrie -Vereinigung;
- 1986 Promotion;
- Dezember 1989 Mitbegründer der Christlich-Sozialen Partei Deutschlands
  (CSPD)
  und im Januar 1990 der Deutschen Sozialen Union (DSU);
- 1990 DSU-Generalsekretär, Abgeordneter der Volkskammer,
- stellvertretender Ministerpräsident und Minister des Innern der DDR;
- Juni 1990 Austritt aus der DSU wegen deren "Rechtsruck“;
- August 1990 Aufnahme in die CDU,
- seit Oktober Abgeordneter des Brandenburgischen Landtags,
  dort bis 1992 Vorsitzender der CDU-Fraktion;
- zeitweise Präsident des Fußballclubs Hansa Rostock;
- seit 1993 führt er eine Gruppe von Anwaltskanzleien;
- wohnt in dem kleinen Ort Zieslow in Mecklenburg.

Mit Peter-Michael Diestel sprach René Heilig.
(Das vollständige Interview unter: www.neues-deutschland.de)

Es scheint, in den letzten Wochen ist alles schon gesagt worden, was man über die deutsche Einheit wissen muss. Schreiben wir's in die Schulbücher, dann ist es für die Ewigkeit im gesellschaftlichen Bewusstsein.
Einverstanden?
Keineswegs, Mir ist zu viel verklärt worden. Überlegenheit des westlichen Systems? Preisgabe durch Moskau? Gorbatschow ist am 40. Jahrestag in die DDR gekommen, um mit Honecker einen Bruderkuss auszutauschen. Es gab nicht die Absicht, den Sozialismus abzuschaffen, es gab nicht die Absicht, der DDR zu erklären, dass sie' jetzt die deutsche Einheit machen muss. Nein, die Ostdeutschen haben gesagt, wir müssen dieses System infrage stellen. Wenn also etwas in die Geschichtsbücher geschrieben werden soll, dann das: Wir, die Bürger der DDR - und nicht Bohley und Lengsfeld, sondern letztlich alle – haben dieses System von innen heraus abgeworfen.

Ich war damals in Rumänien. Dort wurde vorgeführt, wie es hätte auch laufen können. Höchst blutig... Hätte es sich nicht gehört, in die offiziellen Jubiläumsgesänge auch eine Strophe für jene einzubauen, die ihre Kalaschnikows nicht gegen das Volk eingesetzt haben?
Ja. Die meisten der „Sieger“ sind schlechte Sieger. Wenn die einen Kerzen in der Hand halten und beten und die anderen haben die Maschinenpistolen und Kanonen und setzen sie nicht ein, dann muss man ganz eindeutig sagen: Wir alle sind den Frieden diesen Leuten schuldig. Diese Leute haben den Frieden verursacht, nicht wir mit den Kerzen. Doch die politisch Andersdenkenden hat man weitgehend vergessen. Mehr noch: Mir sitzt dieser strapazierte Begriff vom „Unrechtsstaat DDR" so was von quer. Wir haben für diesen Unrechtsstaat eine so aberwitzige Diskussion, die einfach nur peinlich ist.
Unrechtsstaaten erkennt man daran und nur daran, dass sie das wichtigste Menschenrecht missachten, das Menschenrecht auf Leben. Der Irak-Krieg ist zum Beispiel durch einen Unrechtsstaat angezettelt worden. Unrecht ist, Menschen den Kopf abschneiden. Unrecht ist, andere Länder überfallen. Unrecht ist, wenn Menschen im eigenen Land ein Grundgesetz haben und die Verfassung mittels staatlicher Strukturen systematisch gebrochen wird. Wie hier in Deutschland über die Geheimdienste, die sich an systematischen, rechtswidrigen Ausspionierungen der eigenen Bürger beteiligen.

Unrecht ist Hunger, Unrecht ist keine Bildung.

Richtig. Mit dem Begriff „Unrecht“ kann man ein Staatensystem nicht beschreiben. Und vergessen wir nicht die West-CDU hat sich in Wendezeiten sogar mit dem „Unrechtsstaat“ vereinigt, indem sie die ostdeutsche CDU und die Bauernpartei, beides feste Bestandteile des „Unrechtsstaates“, aufgenommen hat. Die FDP hat sich mit dem „Unrechtsstaat“ vereinigt, indem sie einen festen Bestandteil des weltanschaulich-ideologischen Unterdrückungskomplexes, nämlich die LDPD, NDPD, aufgenommen hat.

Vorsicht, Herr Diestel. Das Eis wird dünn, Sie sind überzeugtes CDU-Mitglied

Aber das sind historische Tatsachen. Übrigens müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Auch jetzt werden Grundrechte der Bürger mit Hilfe staatlicher Institutionen verletzt. Stichwort Geheimdienste. Die begehen millionenfache Rechtsverletzung. Versuchen wir es also mal ehrlich: Wenn, dann war die DDR ein Unrechtsstaat wie alle anderen auch. Das Gerede über die DDR hat aber einen anderen Zweck. Es soll die Menschen ducken. Denn so soll den Menschen klar gemacht werden: Schaut mal an, liebe Freunde, ihr hättet mit eurem Intellekt, mit eurem Verstand erkennen müssen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.
Also: Heilig, wo ist dein Ausreiseantrag? Diestel, wo ist dein Ausreiseantrag? Wo ist eure Systemfeindlichkeit?! Sie sind ja von einem linken Blatt, also möchte ich mein Gift auch in diese Richtung spritzen.

Nur zu. Unsere Leser können denken...

Es kotzt mich an, wenn die LINKEN, die jetzt den ersten Ministerpräsidenten stellen in Thüringen, um diesen stellen zu können, ganz massiv in das eigene Nest scheißen und sagen: Jawohl, wir sind ein Unrechtsstaat gewesen, die DDR war ein Unrechtsstaat.
Ohne gleichzeitig zu sagen, wir unterscheiden uns im Unrecht von den anderen Staaten überhaupt nicht. Kein Zweifel: In der DDR gab es eine krasse Missachtung der Rechtsordnung. So etwas gibt es heute auch. Sogar das Kanzlerinnen-Telefon wird abgehört und alle sagen: Oh, wie peinlich. Nein, das ist eine Straftat. Da kann man nicht zur Tagesordnung übergehen.

Zurück zu den LINKEN, bitte.

Deren Verhalten ist für mich eine große substanzielle Enttäuschung. Ich hatte nie gedacht, dass die so weit gehen und ihre eigene Herkunft, die sie ja eigentlich immer - ich sage mal konstruktiv-kritisch – betrachtet haben, jetzt unkritisch über Bord werfen. Das ist eigentlich traurig. Für mich sind die LINKEN in einen Bereich der völligen politischen Normalität gewählt worden. Aber wissen Sie, was das Schöne daran ist? Die Parteien, die annehmen, dass der Wähler dumm ist, dass der einfache Mensch dumm ist, die werden aus der politischen Verantwortung rausgeschmissen. Beispiel FDP. Die hat eine Beliebigkeitspolitik gemacht, die ist auf jede „politische Hure“ drauf gesprungen. Und jetzt ist es auch bei der LINKEN so. Schauen Sie nach Brandenburg. Keine Partei hat so viel verloren, wie die LINKEN. Nicht nur an Prozentsatz, auch objektiv so viel Wähler. Woher kommt das? Hieß es nicht, wenn die Wahlbeteiligung niedrig ist, haben die Stammwähler der LINKEN das Sagen? Jetzt hatten wir die geringste Wahlbeteiligung und die LINKE hat verloren. Warum? Weil sie nicht ehrlich ist, weil sie mit tragischen Figuren nur eines sagen: Wir wollen an der Macht bleiben, wir wollen mit der SPD weiter, regieren. Die LINKEN sagen nicht, wofür sie stehen und wogegen. Und der Wähler hat begriffen: Die vertreten mich ja gar nicht mehr und hat dann andere gewählt.
Ich sehe das mit traurigen Augen, denn die LINKE ist immer noch die Partei meiner Freunde. Nehmen sie es mir nicht übel; die LINKE ist die bürgerlichste aller Parteien geworden.
Die Visionen sind ausgegangen. Sie machen den allergrößten Polit-Spagat. Dass die anderen lügen von früh bis spät, ist völlig klar ... Aber die?!

Ich gebe Ihnen Recht, lebenswerte Visionen sind wie Goldstaub. Vieles definiert sich nur gegen etwas.

Dabei hatte und hat diese Partei so wichtige, integre Persönlichkeiten. Einige kannte und kenne ich sehr gut: Heinz Vietze, Michael Schumann, Lothar Bisky, Gregor Gysi, André Brie und viele alte. Dazu Wissenschaftler wie Professor Klein. Die LINKEN waren personell mit am stärksten aufgestellt Das hat sich leider erledigt.

Leben Sie nicht ein bisschen zu sehr in der Geschichte

Ohne die geht es nicht in die Zukunft. Verzeihen Sie, aber ich kommen noch einmal auf den „Unrechtsstaat“ zurück. Ich habe mich wie viele Tausende zu einem Land bekannt, das aus dem größten Unrecht heraus entstanden ist, das die Welt je gesehen hat. Es gibt kein größeres Unrecht als den Holocaust und das Dritte Reich.
Daraus sind die DDR und die BRD hervorgegangen. Das kann kein Unrecht sein! Es kann nur Recht sein, dass im Ergebnis des 8. Mai 1945 auch in der sowjetischen Hemisphäre ein neuer Staat entstanden ist. Wenn man jetzt die DDR „Unrechtsstaat“ nennt, dann ist sie genauso Unrecht, wie die Diktatur davor. Dann macht man im Grunde eins: Man verniedlicht, verharmlost das Dritte Reich. Ich warne davor. Nicht einmal im Ansatz darf der Eindruck entstehen, dass man Auschwitz verharmlost, indem man Diktaturen gleichsetzt. Und deswegen ist diese Unrechtsstaat-Diskussion eine völlig falsche politische, weltanschauliche und historische Diskussion. Die sie uns im Sinne der Systemfrage aufzwingen, wollen eigentlich sagen: Das Schlimmste sind die Kommunisten gewesen, weil die das Eigentum infrage gestellt haben.


Meinen Sie, Angela Merkel werden jetzt die Ohren klingen, weil CDU- Mitglied Diestel Dinge ablässt, die geradezu, rausschmissfähig sind?

Denken ist nicht strafbar - auch in der CDU nicht. Wissen Sie, es denken ja viele Leute so. Und es wäre gut, wenn in der CDU wirklich vorgedacht werden würde. Aber das geschieht nicht.
Wir sind ja heute dafür, wo wir gestern dagegen waren. Das ist beliebig, der Tagespolitik untergeordnet. Es gibt auch bei uns keine Persönlichkeiten mehr. Gucken Sie sich die traurigen Gesichter an, die Frau Merkel zusehends um sich schart. Ich bin gerne in der CDU, sie ist für mich eine bürgerliche Alternative. Aber wenn ich jetzt sehe, wie meine CDU hilflos agiert, weil in Dresden und anderenorts Menschen demonstrieren.
Ich habe für diese Leute auch nicht viel Verständnis. Schon weil ich durch Reisen mitgekriegt habe, dass Menschen mit verschiedener Herkunft gut zusammenleben können.

Wo macht Diestel jetzt Politik - außer gerade an diesem keineswegs runden Tisch in Zieslow?

Diese Frage wird mir oft gestellt. Ich bin 62 Jahre alt, und wenn das Vaterland in Not ist, dann stelle ich mich wieder an, dann bin ich wieder da und verlasse mein gemütliches Sofa.

Welchen Hintergrund würden Sie für eine programmatische Diskussion denn aufstellen?

Ich bin Christ, ich bin kein Pazifist, aber ein friedliebender Mensch und ich weigere mich, mich in einer Partei zu engagieren, in der all dieses, was zwar programmatisch festgelegt ist, tagespolitisch über den Haufen geworfen wird. Ich wünsche mir, dass sich die Strenggläubigen in meiner Partei - und ich halte den Begriff »strenggläubig« nicht für falsch – also dass die streng an eine gewisse christliche, wertkonservative stabile Programmatik Glaubenden sich nicht von diesem Glauben abbringen lassen. Zur Klarstellung: Ich denke nicht Positionen am rechten Rand, Richtung DVU, NPD oder so. Da ist wirklich eine hygienische Grenze.
Aber wenn man diesen wertkonservativen Gedanken wieder aufnehmen kann, zu dem auch nationales Denken gehört, kein nationalistisches, sondern nationales Denken. Ich bin stolz auf Goethe, Schiller, Lessing usw., so wie ich mich auch schäme für Auschwitz. Das ist alles mein Erbe, das ist alles meine Geschichte.

Nicht meine eigene persönliche, aber die meiner Vorfahren. Ich kann mir also nicht die Humanisten aussuchen und das Dritte Reich außen vorlassen. Das ist völlig ausgeschlossen. Und wenn man in meiner Partei wieder weltanschauliche Positionen vertritt, die auch die meinen sind, dann würde ich mich auch wieder einmischen.
Aber leider - gucken Sie sich die Figuren an, die hier in Mecklenburg-Vorpommern oder in Brandenburg in der CDU sind. In der Brandenburger CDU, könnte ich wetten, kennen Sie gar keinen.

Peter-Michael Diestel geht es allem Anschein nach nicht schlecht, oder?

Nein. Ich bin ja fleißig.

Wen vertreten Sie juristisch? Es hieß einmal, Sie seien Anwalt für Stasis.

Also diese Verfahren, die Sie ansprechen, die mit politischer Berührung, habe ich aus einer inneren Überzeugung gemacht, weil ich der Auffassung bin, dass man mit einem großen Teil dieses Personenkreises falsch und absprachewidrig umgegangen ist.
Diese Verfahren waren für mich...

Ehrensache?

Ja, Ehrensache, weil jeder ein Recht auf Verteidigung hat. Wissen Sie, es ist doch so: Der liebe Gott hat die Strolche gleichmäßig verteilt, bei den Wessis und bei den Ossis, bei den IM's und bei den Nicht-IM's, bei Pastoren und bei Atheisten...
Heute vertrete ich Unternehmer, Vereine. Ich arbeite in einer stark besetzten, guten Anwaltsboutique. Die Art und Weise, wie wir mit dem Recht und den Konflikten umgehen, spricht viele an, und davon können wir gut leben. Wobei ich immer sage: Das Geld ist im Grunde vergegenständliche Freiheit. Wenn man kein Geld hat, ist man nicht frei. Wenn man zu viel hat, ist man auch nicht frei. So aber kann ich auch mit Ihnen reden, wie ich das will, auch wenn das - wie mancher meinen mag - politisch nicht zweckmäßig ist.

Diestel kann man den Strom nicht abdrehen, er bezahlt die Rechnung?

Ich kann meine Vermögensbildung als wirtschaftlich abgeschlossen bezeichnen. Mit den üblichen Attacken, wie man sie heutzutage gegen, politisch Unliebige reitet, kriegt man mich nicht mehr.

Was war - um neudeutsch zureden - das Geilste als Minister?

Den Begriff geil verwende ich nicht.
Ich bin ja wie auch DDR-Ministerpräsident de Maiziére und viele andere mit großer Zufälligkeit in die Politik gekommen. Sie fragten nach dem Wichtigsten und Schönsten? Dass ich an zweiter Stelle im Staat an der Verwirklichung der deutschen Einheit teilhaben durfte. Und das Überraschende ist für mich dabei gewesen, wie klug, wie einsichtig, wie konstruktiv Menschen an meiner Seite, die einen anderen weltanschaulichen Hintergrund als ich hatten, daran mitgewirkt haben: viele Genossen, Juristen, Militär- und Polizeiangehörige, Zoll. Obwohl sie wussten: Gleich ist Feierabend. Die Friedlichkeit des Einigungsprozesses ist das Schönste, was wir überhaupt erleben durften.

Na ja. Womöglich verklärt sich da auch etwas im Laufe der Zeit.

Moment. Die meisten Pappnasen in der Politik, die heute darüber reden, waren nicht dabei. Wohl aber Angela Merkel. Die war damals bei uns stellvertretende Regierungssprecherin. Vielleicht hat sie das damals Erlebte so ausgleichend gemacht.
Ich denke an den Runden Tisch, an das grundsätzliche Konsensverhalten, diese auf Frieden und auf persönliche Wertschätzung des Anderen beruhende Gestaltung von Politik, die wir praktizierten zwischen 1989 und 1990.


Man kann nicht Geschichte verdrängen. Wenn man den wahnsinnigen Prozess der Ignoranz, der Verdrängung weiterführt, dann sind wir einfach vaterlands- und geschichtslose Gesellen in einem geeinten Deutschland. Ich meine, für uns sind die Folgen des Krieges im Prinzip erst im November 1989 beendet worden. Den Wandel vom November '89 haben nicht einzelne politische Kreise, sondern den hat das ganze Volk gewollt. Ich sage es immer wieder: Nicht Gräben zwischen den Menschen soll man aufreißen in unserem desolaten Land, sondern das Gemeinsame suchen.
(Peter-Michael Diestel im ND-Interview am 6. August 1990)

 

 

 

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