Wortmeldung zur
Abschreckungsdoktrin aus dem Generalstab Russlands

Anfang Juni 2020 hat Russlands Präsident Putin das staatsoffizielle Dokument über die Grundlagen der staatlichen Politik der Russischen Föderation auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung“ bestätigt.

Nun haben sich am 7. August 2020 in der Militärpresse Krasnaja Swesda Generalmajor A. Sterlin und Oberst a. D. Dr. A. Chrjapin aus dem Generalstab der Streitkräfte Russlands zu einigen Punkten der öffentlichen Diskussion ausführlicher zu Wort gemeldet.

Die offene Darlegung der nuklearen Abschreckungsdoktrin sei für Medien und Experten überraschend gekommen, denn erstmals seit den 1950er Jahren sind Prinzipien, staatliche Abschreckungssubjekte (und nicht Objekte!) und die Bedingungen für den Übergang zum Nuklearwaffeneinsatz offen publiziert worden. Das sei von Experten als Warnung vor „Druckausübung“ auf Russland interpretiert worden.

Massenmedien des Westens schreiben Russland daraus einen aggressiven Politikstil zu. In den USA und bei ihren Nato-Verbündeten werde der Akzent der Berichterstattung auf Russlands Bestreben zur „Rechtfertigung seiner neuen strategischen Waffenentwicklungen“ und zur „Senkung der Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen“ gelegt. Hinsichtlich ihrer Verbündeten an der Ostflanke, schrieben die Vereinigten Staaten Russland ein nicht existierendes Konzept zum taktischer Nuklearwaffeneinsatz „Eskalation-zur De-Eskalation“ zu.

Alarmierend wirkt die Einschätzung der Experten, dass mit Zerstörung der Rüstungskontrollarchitektur aus dem Erbe des „Kalten Krieges“ die Gefahr eines Nuklearwaffeneinsatzes angewachsen ist. Die Expertenmeinungen gehen zu einer Reihe Schlüsselbestimmungen des Dokuments auseinander.

Die Autoren zitieren anfangs das „Postulat“, d. h. ein nicht hinterfragbare Dogma, von der notwendigen Abschreckung potenzieller Gegner durch Drohung mit dem „Vergeltungsschlag“ als oberste Priorität in der Strategie Russlands. Das damit verbundene Dilemma jeder nuklearen Schlagvariante, das Risiko zur globalen Alles-Vernichtung gerät zunächst aus dem Blick und findet erst am Schluss ihres Artikels in der Formel „Zerstörung Russlands als Staat“ die Anerkennung der Autoren. Der politische Dialog als einzig rationale und lebenserhaltende Alternative wird leider überhaupt nicht erwähnt.

Militärs haben ihre eigene Logik und Sprache. Den Schlussfolgerungen aus der Lagebeurteilung und knapp gefassten Vorschlägen für mögliche Handlungsoptionen geht stets eine allseitige Analyse der Lagefaktoren voraus. Genauso gehen Sterlin und Chrjapin vor: Zur Beschreibung des militärpolitischen Umfelds der Grundlagen verweisen sie auf die US-Aktivitäten zur Zerstörung der Rüstungskontrolle. Am Beispiel der US Nuclear Posture Review 2018 werden destruktive Elemente der US-Nuklearpolitik benannt: Klassifizierung Russlands als Gegner, Möglichkeit des Nuklearwaffen-Präventiveinsatzes, Senkung deren Einsatzschwelle mit Nuklearwaffen geringer Stärke auf taktischem Gefechtsfeld.

Das zuwachsende Drohpotenzial aus den US-Konzeptionen Entwicklung der Raketenabwehr (2018) und zum Weltraum Defense Space Strategy (Juni 2020) charakterisieren die beiden Militärs als eine Wiederbelebung der Reagan-Pläne einer Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI) der 1980er Jahre durch Schaffung einer US-Weltraumstaffel der Raketenabwehr. Bedeutsam erscheint die Feststellung der Autoren, dass mit der Einführung des Verfahrens der Null-Flughöhe-Raketenabwehr, d. h. mit den Schlägen auf potenzielle Startstellungen des Gegners, die Grenzen zwischen offensiven (Schlag-) und defensiven (Abwehr-)Waffen verwischt werden.

Die militärpolitische Antwort Russlands sehen die Autoren vom Defensivcharakter der „Nuklearpolitik“ geprägt. Der Spagat zwischen „Führung des Antwortschlags“ und dem Prinzip einer (präventiven?) „Strategie aktiver Abschreckung“, die Form einer reflexiven Staatspolitik sein soll, bleibt bei Sterlin/ Chrjapin unentschieden und missverständlich.

Mit Verweis auf die Grundlagen werden als staatliche Subjekte der Abschreckung ausdrücklich jene Staaten einbezogen, die anderen Staaten ihr nationales Territorium zur Entfaltung für strategische Offensivmittel zur Verfügung stellen. Eine deutliche Warnung an die Politiker der US-Bündnispartner-Staaten, in der Nato – und in Deutschland.

Diffus ist die Autorenhaltung zum Einsatz nichtstrategischer Nuklearwaffen (NSNW) zu bezeichnen, wenn sie die permanenten Abschreckungsperioden „bis zum Beginn des massierten Nuklearwaffen-Einsatzes“ terminieren – und damit auch vordem nukleare Einzelschläge nicht auszuschließen sind.

Die Schwelle zum Nukleareinsatz scheint ohnehin weiter abzusinken, folgt man der Erklärung Sterlin/ Chrjapin, dass es dem Frühwarnsystem „nicht möglich sein [wird], die Art (nuklear/ nichtnuklear) ihres Gefechtskopfs zu bestimmen. Daher wird jede angreifende Rakete – als Rakete mit Nuklearladung eingestuft“ – und in der Folge eine entsprechende Antwortreaktion auslösen können.

Hinsichtlich nuklearer Präventivhandlungen prägen Mehrdeutigkeit und Unentschiedenheit diesen Meinungsbeitrag in der Krasnaja Swesda. Der Diskurs wird nicht beendet sein und Interpretationen jeder (militär-) politischen Denkrichtung nachfolgen.

Hier zum Artikel der Krasnaja Swesda, Volltext, Übers.  a. d. Russ.: PDF-Datei

Politik sollte sich nicht in wechselseitiger Drohung für eine eskalierende (nukleare) Abschreckung erschöpfen, deren militärisches Potenzial schon eine Dimension zur Menschheitsvernichtung erhalten hat. Der Schlüssel kann darin liegen, konfrontatives Denken zu überwinden und kooperativ den politischen Diskurs über realistische Lösungsansätze zu führen. Vorstufe wäre, Front zu machen gegen Schaffen und den Ausbau von Feindbildern, nicht nur gegenüber Russland.

Dr. Rainer Böhme, Oberst a. D.
22.August 2020

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