Bewegender Abschied unseres Verbandes
von Armeegeneral a.D. Heinz Keßler am 07.06.17

Nach der Beisetzung unseres ehemaligen Verteidigungsministers, Armeegeneral a.D. Heinz Keßler, auf dem Friedhof in Berlin Baumschulenweg, an der viele Verbandsmitglieder, an der Spitze unser Vorsitzende Generalleutnant a.D. Manfred Grätz, teilnahmen, trafen sich mehr als 250 Freunde und Genossen des Verstorbenen zu einer bewegenden Trauerfeier. Diese fand im Münzbergsaal am Franz-Mehring-Platz 1 statt. Zugegen waren die Botschafter der Russischen Föderation, Wladimir Michailowitsch Grinin, und der Republik Kuba, Rene Juan Hujica Cantelar. 

Mit herzlichen Worten des Gedenkens eröffnete Admiral a.D. Theodor Hoffmann die Trauerfeier. Mit dem „Lied vom kleinen Trompeter“ und der Rezitation des Gedichtes von Bertolt Brecht „Lob des Revolutionärs“ sowie dem Lied „Für den Frieden der Welt“ gab der Busch-Chor der Veranstaltung einen würdigen Rahmen. Die Trauerrede wurde von Genossen Egon Krenz gehalten, letzter Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Er würdigte den konsequenten Lebensweg des Verstorbenen, der seinen Überzeugungen bis zum letzten Atemzug treu geblieben ist.

Dem schloss sich eine Würdigung Heinz Keßlers durch den Vorsitzenden der DKP, Genossen Patrick Köbele, an. In der DKP hatte Heinz Keßler nach einem unwürdigen Ausschluss aus der SED/PDS seine politische Heimat gefunden.

Der Vorsitzende unseres Verbandes, Generalleutnant a. D. Manfred Grätz, beendete die Feierstunde mit einem Dank an die Teilnehmer und dem Versprechen, das Lebenswerk des Verstorbenen in Ehren zu halten, steht er doch exemplarisch für des Werden und Wirken der NVA als Armee des Friedens.

Friedemann Munkelt
Oberst a.D.

 

Traueransprache für Heinz Keßler

Lieber Frank Keßler und liebe Familie,
liebe Freunde und Genossen,
meine Damen und Herren,
verehrte Botschafter der Russischen Föderation, der Republik Kuba und der Republik Belarus,

einen Tag vor seinem Tod war es: Weggefährten besuchten ihn im Krankenhaus. Sie übergaben ihm eine Schrift mit dem Titel «Soldaten für den Frieden. Frieden war und Frieden ist unser Lebensinhalt»
Dieser humanistische Gedanke stand auch über dem Leben von Heinz Keßler.

Er, der viele Jahre Uniform getragen hatte, war ein Friedensgeneral in der bisher einzigen deutschen Armee, die nie einen Krieg geführt hat.

Heinz Keßler war bei der Übergabe des Dokuments noch bei vollem Bewusstsein. Das Sprechen machte ihm aber schon viel Mühe.
Der Schwerkranke richtete sich mit aller Kraft im Bett auf und erhob als Zeichen seines Einverständnisses mit dem Friedensmanifest die Hand zur Faust geballt - wie einst Ernst Thälmann.

Das war sein letzter Gruß an uns alle.

Wir, die Lebenden, haben einen wunderbaren Menschen verloren: Stark im Charakter und unbeirrt in seiner «antifaschistischen, kommunistischen Überzeugung».

Wie sagte er doch über sich selbst?
«Die Sache aufgeben, heißt sich selbst aufgeben. Das geht nicht mit mir»

Wer 97 Jahre alt wird, ist schon deshalb ein Jahrhundertmensch.

Nicht einfach Zeitzeuge war er, sondern Mitgestalter des 20. Jahrhunderts mit seinen Siegen und Niederlagen, den Höhen und Tiefen, den Freuden und Leiden.

Er kam aus einer kommunistischen Familie, die schon früh seine politische Orientierung geprägt hatte. Seinen Idealen blieb er treu - bis zu Letzt.

Die ihn kannten, nennen ihn zu Recht einen Unbeugsamen.

Seine politischen Gegner sagen, er sei ein «Unbelehrbarer»

Ja, was hätte er denn von denen auch lernen sollen?

Etwa, dass die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein ehernes Gesetz ist oder Arm und Reich wie selbstverständlich zur Gesellschaft gehören oder Kriege ein Diktat der Natur sind?

Nein, Heinz Keßler starb in der Überzeugung, dass die schmerzliche Niederlage des Sozialismus in Europa eine zeitweilige und der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist.

Seit er sich auf der Antifa - Schule in der Sowjetunion mit Gedanken von Marx, Engels und Lenin vertraut machen konnte, blieb er zeitlebens ein Lernender.

Für ihn war der Marxismus Anleitung zum Handeln und auch in der Gegenwart nicht obsolet.

Es ist wohl berechtigt, rückblickend zu sagen:
In seinem bewegten Leben widerspiegeln sich die zwei grundlegenden Pole der politischen und gesellschaftlichen Ströme des 20. Jahrhunderts:
Die Wirkung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution einerseits und die Gegenwehr der Reaktion, des Kapitals, die Politik von Krieg und Faschismus anderseits.

Als beispielsweise im März 1933 der spätere Bundespräsident Theodor Heuss im Reichstag für Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmte, gehörte der Jungspartakist Heinz Keßler schon zu den ersten Opfern des Faschismus.

Seine Eltern wurden verhaftet und seine Pionierorganisation «Jungspartakus» verboten.

Als er danach noch einmal ein Gespräch mit seiner Mutter hatte, sagte sie ihm:
«Was auch kommen mag, Heinz, lass Dich niemals für einen Krieg gegen die Sowjetunion missbrauchen. Denke immer daran, sie ist unsere stärkste Hoffnung».

Diese Überzeugung hat Heinz Keßler nie aufgegeben. Er war zeitlebens ein Freund der Sowjetunion, ein Internationalist.

Die Zerschlagung der Sowjetunion hat ihn genauso geschmerzt wie der Verlust seines Vaterlandes DDR.

Der 22. Juni 1941, das Datum, an dem deutsche Truppen die Sowjetunion überfielen, wurde ein Entscheidungstag für sein gesamtes weiteres Leben.

Er stellte sich auf die Seite jener Deutschen, die mit ihrem Tun bewiesen, dass man nicht zwangsläufig mit den Nazis marschieren oder ihre Verbrechen billigend in Kauf nehmen musste.

Mut gehörte dazu, ja sogar Todesmut. Heinz Keßler hatte ihn.
An jenem 15. Juli 1941, als er das faschistische Deutschland hinter sich ließ und zur Roten Armee übertrat, war er 21 Jahre alt.

Jetzt im Alter erlebte er mit Zorn, dass NATO-Truppen, auch deutsche Einheiten, wieder an Russlands Grenzen stehen, dort, wo sie sich schon einmal im Schicksalsjahr 1941 befanden.

Seine damalige Lebensentscheidung war folgenschwer für ihn und die ganze Familie:
Das Reichskriegsgericht verurteilte ihn in Abwesenheit zum Tode.
Seine Eltern wurden von den Nazis in ein Konzentrationslager gesperrt.

In der Sowjetunion lernte er deutsche Emigranten kennen, so die Funktionäre der KPD Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht, die Dichter Erich Weinert, Johannes R. Becher und Willi Bredel und den Spanienkämpfer Heinz Hoffmann.
Er gehörte zu den Mitbegründern des «Nationalkomitees Freies Deutschland».

Die geistige Auseinandersetzung mit der Theorie und Politik des Faschismus, die er damals begann, wurde eine Lebensaufgabe bis in unsere Tage hinein. Undenkbar, dass NVA-Kasernen Namen von Kriegshelden der Nazis getragen hätten.

Heinz Kessler gewann im Nationalkomitees auch Menschen für den Kampf gegen Hitler, mit denen er bisher keinen Kontakt hatte, so den späteren Bischof in der DDR, Dr. Krummacher.

Er sprach mit Offizieren und Generälen der Hitlerwehrmacht, die in sowjetischer Gefangenschaft waren, so mit Paulus, Seydlitz, von Lenski und anderen und förderte so deren antifaschistische Einstellungen.

Während beispielsweise Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt, spätere Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland, als Offiziere der faschistischen Wehrmacht an der Leningrader Blockade beteiligt waren, die mehr als einer Million Sowjetmenschen das Leben kostete, lag auch er, der Frontbeauftragte des Nationalkomitees Freies Deutschland, im Schützengraben. Allerdings auf der gegenüberliegenden Seite.

Unter Einsatz seines eigenen Lebens rettete er das Leben deutscher Soldaten.

Während es in der altbundesrepublikanischen Geschichtsschreibung Jahrzehnte gedauert hat, bis man sich zu den Männern des 20. Juli 1944 überhaupt bekannte, - vor deren Mut Heinz Keßler von Anfang an Respekt hatte, - wird nunmehr der Beitrag des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ im Kampf gegen den Faschismus nicht nur verkleinert, sondern faktisch aus der Geschichte gestrichen.

Das nannte Heinz Kessler, für den sich Geschichte aus ihrem „Gang und nicht aus ihrem Nachgang“ erklärte, zu Recht Geschichtsklitterung.

Dagegen hätte er sich gewiss gefreut, noch mit eigenen Augen zu sehen, wie am diesjährigen 9. Mai, dem «Tag des Sieges», fast 1 Million Moskauer und ihre Gäste demonstrierten, um die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges zu ehren.

Hier, in diesem «Unsterblichen Regiment», bekamen sie ein Gesicht, wurde Geschichte lebendig.

Die Demonstrationsteilnehmer - unter ihnen Präsident Putin mit dem Bild seines Vaters - führten Porträts von ihren Angehörigen und Freunden mit sich.

Die Botschaft, dass nichts und niemand vergessen ist, galt auch unserem Heinz Keßler. Der Verleger Frank Schumann trug das Porträt von ihm in sowjetischer Uniform über den Roten Platz und erhielt dafür viel Zustimmung.
Das war wohl auch ein symbolisches Bekenntnis: Kessler gehört zu uns. Er war unser Waffenbruder.
Die russische Regierung hatte ihn dafür schon vor Jahren mit dem „Alexander-Newski-Orden“ 1. Stufe ausgezeichnet.

Mit Heinz Keßler verlässt uns einer der Letzten aus der Generation der «Aktivisten der ersten Stunde».
Er hat den schweren Weg der Anfangsjahre mitgestaltet, er war Teilnehmer am Vereinigungsparteitag von KPD und SPD zur SED und seit jenem 21. April 1946 ununterbrochen Führungsmitglied der SED.

Er hat dort eng mit den früheren Sozialdemokraten Otto Grotewohl, Friedrich Ebert, Otto Buchwitz und vielen anderen zusammengearbeitet.
Er stand mit an der Wiege des Blocks der antifaschistischen Parteien und Massenorganisationen.
Zu seinen Bündnispartnern gehörten so legendäre DDR-Politiker wie der CDU-Vorsitzende Otto Nuschke, der LDPD Vorsitzende Wilhelm Külz, der DBD Vorsitzende, Ernst Goldenbaum, und der NDPD Vorsitzende, Lothar Bolz, die dem jungen antifaschistischen Politiker hohe Anerkennung zollten.

Die selbsternannten Delegitimierer der DDR diskreditieren diesen Teil der DDR-Geschichte besonders, weil sich sonst ihre Mär vom monolithischen «SED-Staat» nicht aufrechterhalten lässt.

Heinz Kessler stand in vorderster Reihe der deutschen Patrioten, die nach dem 8. Mai 1945 eine wirkliche Alternative für Deutschland – ohne Krieg und Faschismus, ohne deutsche Spaltung - anstrebte.

Am Abend des 28. Mai 1945 landete in Berlin Tempelhof ein Flugzeug mit einer Gruppe von 31 deutschen Antifaschisten aus Moskau.
Es war nach der Ulbricht-Gruppe die zweite, die in die zerstörte Heimat zurückkehrte. Heinz Keßler gehörte zu ihr.
Ohne Umwege ging es sofort zu Walter Ulbricht. Der ältere Freund überraschte seinen jungen Genossen bei dessen Ankunft mit einer Mitteilung, die ihn emotional überwältigte.
Ulbricht hatte eine Begegnung mit Keßlers Mutter organisiert, die erst vor einigen Wochen durch die Sowjetarmee aus dem KZ Ravensbrück befreit worden war.

Wäre es nach dem Willen der deutschen Kommunisten und der sowjetischen Regierung gegangen, wäre aus Deutschland „ein antifaschistische(s), demokratische(s) Regime, eine parlamentarisch-demokratische(n) Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“1 geworden.
So steht es im Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945, dessen Inhalt zum Arbeitsprogramm auch von Heinz Keßler wurde.
Ihm wurde der Auftrag erteilt, beim Magistrat von Groß – Berlin einen «Hauptjugendausschuss» aufzubauen.

Schon zu den ersten Nachkriegswahlen in Berlin, im Oktober 1946, stand Keßler als jüngster Bewerber auf der Kandidatenliste. Als Abgeordneter der Berliner Stadtverordnetenversammlung führte er eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit den Spaltern Berlins und Deutschlands.

Vermutlich werden sich noch manche, die die DDR Schule besucht haben, an eine Fotografie erinnern, die Heinz Keßler zusammen mit dem Kommunisten Erich Honecker und der Sozialdemokratin Edith Baumann bei der Unterzeichnung der Gründungsurkunde der FDJ zeigt. An ihrer Seite waren auch Vertreter aller damals bestehenden Parteien und auch der Kirchen.

Mit Heinz Keßler ist der letzte Mitbegründer der antifaschistischen Jugendausschüsse und der Freien Deutschen Jugend von uns gegangen.
Sein Wirken für die Umerziehung einer von der faschistischen Ideologie verseuchten Jugend ist ein historisches Zeugnis dafür, dass der Antifaschismus das Fundament ist, auf dem die DDR gebaut wurde.

Ein Wendepunkt in der Geschichte Europas und Deutschlands war für Heinz Keßler die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949.
Solange sie existierte, gab es keinen Krieg in Europa. Heinz Keßler gab diesem Staat seine ganze Lebenskraft, immer in der Überzeugung, dem Guten in Deutschland zu dienen. Von 1949 bis 1990 gehörte er ununterbrochen der Volkskammer der DDR an.
Solange Leben in ihm war, verteidigte er leidenschaftlich die Werte und Errungenschaften des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden und suchte zugleich gemeinsam mit Weggefährten eine Antwort, warum dieser Versuch noch nicht gelang.

Es mag anekdotenhaft klingen, dass der spätere Verteidigungsminister der DDR anfangs erst von namhaften «Werbern» gedrängt werden musste, sich für den Dienst in den bewaffneten Organen der DDR zu entscheiden.
Es ist aber wahr: Erich Honecker sprach mit ihm. Keßler lehnte ab. Walter Ulbricht sprach mit ihm. Keßler sagte «nein».
Er wollte als Politiker helfen, dass nie wieder junge Menschen eine Waffe in die Hand nehmen müssen, dass nie «eine Mutter mehr ihren Sohn beweint».

Die Situation in Deutschland aber hatte sich inzwischen geändert. Die Bundesrepublik rüstete auf. Hitlergeneräle standen dabei an der Spitze. Adenauer erklärte «nicht die Wiedervereinigung sei die Aufgabe, sondern die Befreiung des Ostens.»

In dieser Konstellation sprach sein väterlicher Freund Wilhelm Pieck mit dem damaligen Sekretär des FDJ-Zentralrates. Erst jetzt entschied sich Heinz Keßler, am Aufbau der bewaffneten Kräfte zur Verteidigung der DDR mitzuwirken.
Das war 1950. Er begann seine Tätigkeit als Generalinspekteur, später Chef der Volkspolizei - Luft und wurde danach Chef der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der DDR.
1967 zusätzlich Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung.
Das notwendige Wissen und Können erwarb er an der sowjetischen Akademie der Luftstreitkräfte und später der Generalstabsakademie der UdSSR.
1968 wurde ihm die Aufgabe als Chef des Hauptstabes und 1979 als Chef der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee übertragen.
Nach dem Tod seines Freundes Heinz Hoffmann wurde er 1985 nach 35 Dienstjahren in den bewaffneten Kräften der DDR dessen Nachfolger als Verteidigungsminister.

Im Militärrat und im Komitee der Verteidigungsminister der Staaten des Warschauer Vertrages war er wegen seiner politischen Eindeutigkeit und militärischen Kompetenz ein geachteter Partner. Im Unterschied zu bestimmten Nationalisten, die es leider im Bündnis auch gab, war für ihn die Waffenbrüderschaft zwischen den verbündeten Armeen Ausdruck internationalistischen Denkens und Handelns.

Als er das Ministeramt übernahm, war Hochzeit des Kalten Krieges. Atomar bestückte Kurz- und Mittelstreckenraketen waren auf beiden Seiten in Stellung gebracht worden. Die DDR warb für eine internationale «Koalition der Vernunft»

Aus dieser Zeit stammt ein Satz des DDR-Verteidigungsministers, der eigentlich in ein Geschichtsbuch gehörte, weil er viel über den Charakter der Armee aussagt, die einen solchen Armeegeneral hatte. Der Satz lautet:
„Sollte die NVA in einem Ernstfall ausrücken müssen, hat sie bereits ihren Klassenauftrag verwirkt – der lautet nämlich Frieden sichern und keineswegs Krieg führen!“

Es ist daher nur logisch, dass die Nationale Volksarmee der DDR, deren Minister er war, auch im Herbst 1989 alles tat, damit keine Waffen sprachen.

Mit dem 3. Oktober 1990 erklärten die Regierenden der Bundesrepublik Deutschland ihn dennoch zu einem „Kriminellen“.
Allein 800 Tage steckten sie den bereits über siebzigjährigen Antifaschisten in Moabit in Untersuchungshaft.
Das bedeutete täglich 23 Stunden in einer Zelle von vier mal zwei Metern.

Als ich ihm das erste Mal meine Empörung darüber mitteilte, fragte er mich:
„Hast Du von denen denn etwas Anderes erwartet? Kennst Du nicht das ‚Lied vom Klassenfeind‘ von Bert Brecht?“
An Brecht hatte er gute Erinnerungen, war es doch Heinz Kessler gewesen, der den Dichter um das „Aufbaulied der FDJ“ gebeten hatte.

Mit Blickrichtung auf die Delegitimierer der DDR zitierte er eine Strophe des „Liedes vom Klassenfeind“ aus dem Kopf:
„Das bleibt das Einmaleins:
Nichts habe ich jemals gemeinsam
Mit der Sache des Klassenfeinds.
Das Wort wird nicht gefunden
Das uns beide vereint:
Der Regen fließt von oben nach unten
Und Du bist mein Klassenfeind.“

Die Verurteilung von Heinz Keßler zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis, seines Freundes Fritz Streletz und ihrer Weggefährten war ein Rechtsbruch ersten Ranges.

Die Geschichte aber wird ihn freisprechen und ihm den Ehrenplatz zuweisen, den ihm seine Mitstreiter lange eingeräumt haben.

Für Heinz Keßler war das Urteil des BGH mit einer bitteren Erinnerung verbunden:
Der Antifaschist galt in der alten Bundesrepublik als „Deserteur“. Der Bundesgerichtshof in Berlin bestätigte das Urteil haargenau in jenem Gebäude, in dem das Reichskriegsgericht ihn vor über fünfzig Jahren zum Tode verurteilt hatte.

Mehr als seine gerichtliche Verurteilung hat ihn 1990 der Ausschluss aus der SED getroffen. Die Partei, die er 1946 mitgegründet hatte, war seine politische Heimat.
Diejenigen, die über seinen Ausschluss befanden, haben dem ehemaligen Angehörigen der Roten Armee widersinnig und geschichtslos vorgeworfen, „ein schlechtes Verhältnis zur Sowjetunion“ gehabt zu haben.
Sie gaben vor, sich vom „Stalinismus“ trennen zu wollen. Doch die Methoden, die sie bei den Ausschlussverfahren anwandten, ähnelten eher denen, die sie kritisierten.

Die einflussreiche amerikanische Tageszeitung New York Times nahm den Tod von Heinz Keßler zum Anlass, ihn als herausragende Persönlichkeit der DDR zu würdigen.
Deutsche Medien - mit wenigen Ausnahmen – waren nicht fähig dazu.
Die meisten von ihnen teilten in der Regel nur mit, dass der 97-jährige in der Bundesrepublik zu einer hohen Haftstrafe verurteilt worden war, also ein «Krimineller», wie Kommunisten nach ihrem Bilde eben sind.

Dass man in Deutschland auch 27 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik nicht bereit ist, den Tod von verdienstvollen DDR-Persönlichkeiten sachlich, ohne Hass und Häme mitzuteilen, liegt nicht nur daran, dass man den kommunistischen Widerstand aus der Geschichte völlig streichen will.

Es hat etwas damit zu tun, dass es keine Gleichheit der Deutschen aus Ost und West vor der Geschichte gibt. Der herrschende Zeitgeist sortiert Biografien nach politischen Interessen. Macht sich zum Richter über »richtiges« oder »falsches« Leben.

Sterbetage werden benutzt, um genehme Personen zu glorifizieren und politisch Andersdenkende zu diffamieren. Die »Guten« kommen meist aus der alten Bundesrepublik, die »Gescholtenen« fast immer aus der DDR.
Zweierlei Maß für deutsche Biografien. Losgelöst von der Zeit, in der Menschen lebten und handelten. Ein irres Geschichtsbild, jenseits jeder Objektivität.

Im Leben von Heinz Keßler spielte seine geliebte Ruth eine besondere Rolle. Er hatte sie im November 1947 geheiratet.
Sie war ihm Ehefrau, Mutter seines Sohnes Frank, Genossin und Freundin, politische Weggefährtin, mit der er auch die schwierigsten Lebenssituationen meistern konnte. Nachdem sie verstorben war, ließen auch seine Kräfte nach.

Persönlich verliere ich einen engen Freund, mit dem ich seit Anfang der sechziger Jahre politisch und privat verbunden war.
Ich behalte ihn in Erinnerung als eine entschlossene, aber stets klug abwägende Persönlichkeit, nie als Heißsporn. Er konnte sehr mitfühlend sein, fürsorglich nicht nur für die Familie, sondern für seinen Mitmenschen; er war aufopferungsvoll und solidarisch, ein wahrer, ein guter Mensch.

Ein Weggefährte erinnert sich:
„Wenn ich Heinz Keßler gelegentlich von der Strafvollzugsanstalt Hakenfelde zu einem Hafturlaub fuhr oder ihn zu Veranstaltungen von zuhause abholte, war er stets reichlich vor der Zeit am vereinbarten Ort. Einmal sagte ich zu ihm: ‚Du pflegst immer noch die militärische Pünktlichkeit.‘ Er antwortete: „Nein, mit militärischem hat das nichts zu tun, das ist eine Frage des Respektes. Man lässt einen Menschen, mit dem man sich vereinbart hat, nicht warten. “

Kommunist zu sein und Solidarität mit Verfolgten und Bedrängten zu üben, auch das hat uns Heinz Keßler vorgelebt.

Noch bevor er selbst vor Gericht stand, half er, das „Solidaritätskomitee Erich Honecker“ zu gründen, das später als „Solidaritätskomitee für die Opfer der Politischen Verfolgung in Deutschland“ wirkte. Ebenso verbunden war er mit der „Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung“ und mit ISOR, deren Ehrenmitglied er war.

Er wollte nicht nur Partei ergreifen. Er wollte auch Teil einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten sein. Mit diesem Motiv trat er der DKP bei, die für ihn und sein Frau in den letzten Jahren politische Heimat wurde.

Immer hat er auch das Banner der internationalen Solidarität hochgehalten. Mit Kuba und seinem langjährigen Verteidigungsminister, dem heutigen Präsidenten Raul Castro, verband ihn eine feste Freundschaft.

In der Stunde des Abschieds schauen wir voller Hochachtung auf den Lebensweg des Verstorbenen.
Mit ihm verlieren wir einen Gleichgesinnten, mit dem viele Menschen in der DDR ein gutes Stück ihres eigenen Weges gegangen sind.

Wir verneigen uns vor seiner Menschlichkeit, vor seinem Kämpfertum, vor seinen historischen Leistungen.
Wir gedenken des Kommunisten Heinz Keßler.

 

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1 Siehe Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom 11. Juni 1945

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