Standpunkte und Meinungen von Berufssoldaten der Nationalen Volksarmee zu Problemen während der Wende von 1989 -1990

Prof. Dr.sc. Egbert Fischer 

Anfang des Jahres 1997 hatte unsere Arbeitsgruppe die Kameradschaften Ehemalige im Landesverband Ost gebeten, Berufssoldaten der NVA für eine Befragung zu gewinnen. Prof. Dale R. Herspring (USA), der 1998 ein Buch zum Ende der NVA herausbringt, wollte zu Problemen der Wende in der DDR authentische Meinungen von Zeitzeugen in Erfahrung bringen. Aus den Briefen, die uns in den letzten Wochen erreicht haben, geht der Wunsch hervor, die Ergebnisse dieser Aktion kennenzulernen. Mit Zustimmung von Prof. Herspring wird im folgenden versucht, dem zu entsprechen. Zumal es sich um Inhalte handelt, die allgemein über den beteiligten Kreis hinaus auch nach nunmehr fast 10 Jahren von Interesse sein dürften.

Auf einige Schwierigkeiten für eine aussagefähige Wertung  der Ergebnisse soll einleitend noch hingewiesen werden. Sie bestehen in zweierlei Hinsicht: Erstens, der Fragebogen ist nicht standardisiert. Zweitens haben nur knapp 80 Berufssoldaten der NVA an der Befragung teilgenommen. Dies wird zum Teil dadurch kompensiert, daß in nicht wenigen Fällen  sehr  ausführliche und umfangreiche Antworten vorliegen. Aus wesensgleichen Antworten lassen sich durchaus Hauptrichtungen von Meinungen und Standpunkten ableiten, wenn es auch nicht möglich ist, daraus repräsentative, für alle gültige Schlußfolgerungen zu ziehen.

An der Befragung haben ehemalige Berufssoldaten der NVA der höheren, in der Mehrzahl der mittleren Führungsebene teilgenommen.

Entsprechend ihren Dienstgraden und Dienststellungen waren von den Befragten zwei im Generalsrang, fast die Hälfte Oberste, ein Drittel Oberstleutnante und Majore und einige Fähnriche und Zivilbeschäftigte. 1990 befanden sich davon ein Fünftel der Offiziere in Dienststellungen des Ministeriums für Nationale Verteidigung, ein Drittel in den Kommandos der Teilstreitkräfte und in den Divisionen. Ein weiteres Drittel leistete Dienst im Regiment sowie in Wehrbezirks- bzw. Wehrkreiskommandos. Mehrere der befragten Offiziere waren 1990 Lehroffiziere an  der Militärakademie sowie an Offiziershochschulen der NVA. Dreiviertel der Befragten bekleideten Kommandeursdienststellungen bzw. erfüllten andere militärfachliche Aufgaben. Einige waren Politoffiziere oder leisteten ihren Dienst in musealen Einrichtungen der NVA und  diplomatischen Vertretungen der DDR. Diese Anteile sind durchaus mit denen vergleichbar, die für die Befragung zum „Report 1995“ im Landesverband Ost des DBwV repräsentativ gewesen sind. Im Prinzip hat Prof. Herspring  Zuschriften aus allen ehemaligen Hauptstandorten und allen Teilstreitkräften der NVA erhalten.

Wichtig ist festzustellen, daß ein Fünftel der Befragten noch nach dem 3. Oktober 1990 zeitlich befristet als Weiterverwender ihren Dienst  in der Bundeswehr versehen haben. Darauf ist hinzuweisen, weil der Fragebogen zwei Teile enthielt. Der erste Teil richtete sich an alle Befragungsteilnehmer, der zweite nur an die, die noch nach dem 3. Oktober 1990 in der Bundeswehr aktiv waren. Allerdings waren allgemein bedeutsame Fragestellungen, so beispielsweise zu den Prozessen gegen ehemalige Soldaten und Offiziere, die gegenwärtig im Zusammenhang mit Vorfällen an der ehemaligen Staatsgrenze der DDR stattfinden, nur im zweiten Teil enthalten. Dazu haben sich dennoch fast alle Befragungsteilnehmer geäußert. Einigen Kameraden übergaben die Vorstände der Kameradschaften jedoch nur Teil 1 des Fragebogens. Dieser Fakt wurde selbstverständlich bei der Auswertung berücksichtigt.

Die ersten 3 Fragen von Prof. Herspring zielten unmittelbar auf die Haltung der NVA in den Monaten Oktober bis Dezember 1989. Ein Zeitraum, der allen Angehörigen der NVA sehr viele persönliche Entscheidungen abverlangte, zumal das Schweigen der Staatsund Armeeführung die militärischen Führungstrukturen im Sinne von klaren Informationen zeitweilig unwirksam machte. Für die Berufssoldaten besonders der mittleren Führungsebene war dies schwierig, weil sie sich erst im bereits ablaufenden Umbruchprozeß über Charakter und Ziele der an ihm beteiligten Kräfte informieren mußten.

Zunächst aber zu den Fragen selbst:

Frage 1: Warum hat Ihrer Meinung nach die NVA Ende 1989 keine Gewalt angewendet, um die Regierung zu verteidigen?

Frage 2: Glauben sie, die NVA hätte Gewalt angewendet, wenn ihr im Oktober oder Dezember 1989 der Befehl dazu gegeben worden wäre?

Frage 3: Worin sehen Sie den Hauptgrund für den Bruch zwischen Regierung und Militär – den Zeitpunkt, nach dem die Mehrheit das Militär nicht mehr als „ihr eigenes“ ansehen wollten?

Zum Inhalt dieser Fragen ist zunächst festzuhalten, daß sie aus einem anderem Verständnis gestellt und aus anderen Erfahrungen abgeleitet sind, als sie bei den Berufssoldaten der NVA verinnerlicht waren. Das spiegelt sich deutlich in den Antworten wieder. Kaum eine geht direkt auf das Verhältnis von Armee und Regierung ein. Stets zielten die Antworten unmittelbar auf das Grundproblem Volk und Armee. So werden als Hauptgründe für die Tatsache, daß sich die NVA zum friedlichen Verlauf der Wende bekannte, vor allem genannt: die NVA war eine Armee des Volkes, sie war selbst Teil des Volkes und folgte ihrem Grundverständnis, keine Waffen gegen das eigene Volk einzusetzen (60%); die Mehrheit der NVA-Angehörigen hätte einen Befehl zur Anwendung von Gewalt nicht befolgt (70%); der Auftrag der NVA bestand in der Verteidigung der DDR gegen Angriffe von außen und in der Sicherung des Friedens (50%). Zu beachten ist bei allen Antworten, daß auf Grund der Art der Meinungsumfrage Mehrfachantworten vorliegen. Reduziert man sie beim vorliegenden Fragenkomplex auf das Kernproblem „Volk und Armee“ sowie Abwehr eines Angriffes von außen, dann sind über vier Fünftel der Berufssoldaten, die an der Meinungsumfrage teilgenommen haben, der Auffassung, daß die Armee in der Wendezeit nicht anders handeln konnte und wollte, wie sie es getan hat. Auch daraus sei zu erklären, warum sie sich in diesen Prozeß immer mehr zu integrieren versuchte und in der NVA selbst dafür Vorleistungen erbracht wurden. Übrigens waren dies Entscheidungen in Richtung Demokratisierung, die sich man denke nur an die Abschaffung der Parteistrukturen, an den Runden Tisch beim Minister für Nationale Verteidigung, die Entstehung des Verbandes der Berufssoldaten, die Einleitung einer Militärreform usw. bereits in den Monaten November 1989 bis März 1990 vollzogen haben.

Fast die Hälfte der Antworten weisen auch auf den hypothetischen Charakter der Frage nach möglicher Gewaltanwendung hin. Es sei Tatsache, daß es keine Gewalt gegeben hat und kein Befehl dazu erteilt worden ist. Ein Teil der Offiziere ist der Meinung, die Gewaltanwendung hätte für sie nur in Richtung des Schutzes militärischer Objekte und bei der Sicherung des Waffenbestandes, aber eben nur im Hinblick auf die Gewährleistung eines friedlichen Verlaufs der Wende Sinn  gemacht. Von fast der Hälfte der Offiziere wurde ein Teilaspekt der Frage 3, nach der die Offiziere das Militär nicht mehr als „ihr eigenes“ ansehen wollten, als für sie nicht nachvollziehbar verneint. Von vielen wird das Verhalten im Zusammenhang mit dem Fortschreiten der Wende und dem damit verbundenen eigenen Erkenntnissprozeß gesehen und gewertet. Nur ein Fünftel ist der Auffassung, daß bis zu den Ereignissen in Dresden bei entsprechender Befehlsgebung Gewaltanwendung möglich gewesen sei. Allerdings muß man hier hinzufügen, daß die in Dresden in den Hundertschaften eingesetzten Offiziere zum damaligen Zeitpunkt selbst forderten, ohne Waffeneinsatz zu handeln.

Selbstverständlich hatten auf diese komplizierten Probleme weitere Faktoren Einfluß.

Darunter auch Erkenntnisse, die vor 1989 in den Streitkräften der DDR eine zunehmende Rolle gespielt haben. So sind viele der Befragungsteilnehmer der Meinung, daß in der NVA in den 80er Jahren im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Führbarkeit von Kriegen und den in Gang gesetzten Abrüstungsprozeß auch die Bereitschaft zu demokratischen Reformen gewachsen war. Nahezu zwei Drittel der Befragten vertreten diese Auffassung. Über die Hälfte verweisen auf den immer offenkundiger werdenden Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, der besonders durch den massenhaften Einsatz ganzer Truppenteile in der Volkswirtschaft eher zugespitzt als entschärft worden ist.

Bei allen drei Fragen betonen die Berufssoldaten der NVA, daß ihr Verhalten auch durch das Versagen der politischen Führungsspitze der DDR beeinflußt wurde. Die Konzeptionslosigkeit und das Schweigen lähmte nach ihrer Meinung über Wochen die Armee. Immer offenkundiger wurde, die politische Führung war unfähig und nicht Willens, die komplizierten Probleme im Interesse der Forderungen der Mehrheit des Volkes zu lösen. Ein stetig wachsender Teil von NVA-Angehörigen begegnete den oft nichtssagenden, an alten Dogmen festhaltenden politischen Einschätzungen mit Unverständnis und zunehmender Ablehnung. Weit über die Hälfte der Befragungsteilnehmer vertreten diese Auffassung.

Frage 4: Welche Rolle spielte nach Ihrer Meinung Keßler? War er zu eng mit der alten Regierung verbunden, um zu verstehen was passierte? Glauben Sie, daß er einen positiven Beitrag während der Ereignisse im Oktober November leistete?

Vorausgeschickt sei, daß der Rücktritt des damaligen Ministers für Nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Keßler, am 15. November 1989 offiziell auf einer Parteiaktivtagung in Strausberg verkündet wurde.

Die Meinungen der befragten ehemaligen Offiziere der NVA zur Rolle von Heinz Keßler bis zu seinem Rücktritt konzentrieren sich auf zwei Hauptaussagen. Erstens konstatieren weit über die Hälfte, daß er sehr eng mit Erich Honecker verbunden und nicht Willens war, die geforderten Reformen zu unterstützen. Zweitens sind noch mehr der Auffassung, daß sein „positiver“ Beitrag darin bestanden hat, nichts getan zu haben und schließlich, daß er der Forderung nach seinem Rücktritt nachgekommen ist. Seine Rolle in der Armee verdeutlicht sich auch darin, daß jeder fünfte seine Person nicht einschätzen kann, da er ihn nie persönlich kennenlernte und jeder vierte auf sein kontaktarmes und distanziertes Verhalten bei Begegnungen, Truppenbesuchen etc. hinweist. 10 % der Befragten konstatieren die subjektive Ehrlichkeit des Ministers, heben aber gleichzeitig seine Überforderung in der gegebenen Situation hervor. Annähernd ebenso viele betonen, daß er die Armee in dieser komplizierten Situation in Stich gelassen habe, besonders was die Ereignisse im Oktober/November 1989 betrifft. Von einigen wenigen wird aber auch gewertet, daß sich seine Standpunkte nach Rückkehr des Kapitalismus bestätigten. Es wird insgesamt deutlich, die geäußerten Meinungen und Standpunkte stehen im Kontext mit den Erfahrungen der letzten zehn Jahre. Besonders bei den Antworten auf Fragen nach dem Handeln einzelner Personen ist dies klar zu erkennen. Hier fließt ein wie man später noch sehen wird –, wie sich die damaligen Akteure in der heutigen Zeit verhalten.

Die folgenden Fragen, die Prof. Herspring gestellt hat, befassen sich mit Ereignissen von unterschiedlicher Gewichtung für die NVA.

Frage 5: Welche Folgen hatte die Öffnung der Mauer für die NVA?

Frage 6: Wie entscheidend waren die Ereignisse in Beelitz, als es zur Kohäsion der NVA kam?

Aus der Öffnung der Mauer leiteten annähernd die Hälfte der Befragten für sich den Schluß ab, daß damit die entscheidende Zäsur für die Existenz oder den Untergang der DDR gegeben war. Sie habe damit ihre Souveränität weitestgehend aufgegeben. Viele verbanden damit aber auch Gefühle der Sorge um die eigene Existenz und die der Familie. Ein Problem, das viele Entscheidungen in den folgenden Monaten beeinflußt hat. Ein Teil versuchte, die Armee so schnell wie möglich zu verlassen. Andere wollten beispielsweise über Dienstverträge konkrete Sicherheiten für sich und ihre Familie erstreiten.

Jeder Fünfte ist der Meinung, daß mit der Grenzöffnung die Feindbildpropaganda der DDR zur Bundesrepublik beendet worden sei. Das zeigt, wie gerade dieses Problem auch die Berufssoldaten der NVA belastet hat. Der Zeitpunkt der Maueröffnung führte nach Auffassung jedes vierten der an der Befragung teilnehmenden Offiziere in den Streitkräften zu einem weiteren Zerfall der Wehrmotivation und veränderte entscheidend die Sicherheitslage der DDR.

Mit einem gewissen Stolz weisen die Antworten darauf hin, daß sich die Angehörigen der Grenztruppen, ohne über konkrete Informationen zu verfügen, richtig und besonnen verhalten haben. Es sei ein Beweis für die Grundhaltung der Armee, nicht gegen die Interessen des Volkes zu handeln. Für die Truppenteile selbst wird eingeschätzt, sie hätten diszipliniert weiterhin ihren Dienst versehen und gleichzeitig die Anstrengungen, Reformen zu realisieren, erhöht. Die Grenzöffnung wurde nach Auffassung einiger Offiziere nunmehr auch für Kontakte zu Einheiten der Bundeswehr genutzt, die besonders in den ersten Wochen zumeist spontan entstanden.

Während  die Befragten das Grenzproblem sicher berechtigt mit der Existenz der DDR verknüpften, waren die Ereignisse in Beelitz zunächst hauptsächlich eine innere Angelegenheit der Armee.

Zur Information sei zunächst vorausgeschickt, daß es in der Neujahrsnacht 1989/90 vor der Dienststelle in Beelitz zu einer Protestaktion von zirka 300 Armeeangehörigen gekommen war. Sie forderten, die Militärreform schneller durchzusetzen und weigerten sich, den Dienst aufzunehmen, solange ihre Forderungen nach heimatnahem Einsatz, Verkürzung des Wehrdienstes auf 12 Monate, Verbesserung der Dienstund Lebensbedingungen etc. nicht durch konkrete Zusagen einer Realisierung zugeführt würden.

Die Soldaten forderten auch ihre sofortige Entlassung und Aufnahme der Arbeit in ihren ehemaligen Betrieben. Von dort war an viele ultimativ die Forderung ergangen, entweder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren oder er werde anderweitig besetzt. Für die Soldaten war eine sofortige Rückkehr auch deshalb sinnvoll, weil die Einheit ohnehin für den Einsatz in der Produktion vorgesehen war.

Dieser erstmalige Streik in der NVA konnte nicht zuletzt durch das persönliche Eingreifen des damaligen Ministers für Nationale Verteidigung, Admiral Hoffmann, in einem offen geführten Gespräch mit den Soldaten beigelegt werden, ohne allen Forderungen beispielsweise der nach Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst zu entsprechen.

Die Anworten zu der dazu von Prof. Herspring gestellten Frage lassen erkennen, daß es zum Ereignis selbst einen sehr differenzierten Informationsstand in der NVA gegeben hat. Knapp die Hälfte der Befragten können sich dazu nicht äußern, weil sie nur bruchstückhafte Kenntnisse besitzen. Dieser Teil der Offiziere schätzt auch ein, daß die Ereignisse von Beelitz zu keinen größeren Auswirkungen in ihren Truppenteilen geführt haben. Jeder Dritte ist dagegen der Meinung, Beelitz habe schlagartig die Kompliziertheit der Lage, in der sich die Armee befand, verdeutlicht. Jedoch nur Einzelne lassen in ihren Antworten erkennen, daß mit diesem Streik Gefahren für die Existenz der NVA verbunden gewesen seien.

Logischerweise knüpfen die beiden nächsten Fragen von Prof. Herspring wieder an das Wirken von Personen an, die in dieser Zeit die Hauptverantwortung für die NVA getragen haben.

Frage 7: Welche Rolle spielte Ihrer Meinung nach Admiral Hoffmann? Einige behaupten, er habe entscheidend dazu beigetragen, daß die Wende friedlich verlaufen ist. Würden Sie dem zustimmen?

Frage 8: Welche Rolle spielte Ihrer Meinung nach der Minister Eppelmann? Würden Sie sagen, daß er die Armee fair behandelt hat? War es Naivität, als er mit den Westdeutschen verhandelt hat oder hatte er dabei böse Absichten?

Zu den Fragen sei vorausgeschickt, daß das Handeln beider Personen als Minister an unterschiedliche Zeiträume und sicher auch an sich unterscheidende Kräfteverhältnisse in der DDR und im internationalen Raum gebunden war.

Admiral Theodor Hoffmann war Minister für Nationale Verteidigung im Zeitraum von November 1989 bis März 1990 und danach Chef der Nationalen Volksarmee bis Ende September 1990, während Rainer Eppelmann Minister für Abrüstung und Verteidigung im Zeitraum von März bis Oktober 1990 gewesen ist. Auf den Zusatz „Abrüstung“ hatte er, soweit ich mich erinnern kann, bestanden, um seine vorher vertretene Auffassung als Wehrdienstverweigerer und Bausoldat nicht zu sehr in Frage zu stellen.

Über 80% der Offiziere sind der Auffassung, daß Theodor Hoffmann einen entscheidenden Beitrag zum friedlichen Verlauf der Wende geleistet hat. Das schließt auch sein Wirken als Chef der Nationalen Volksarmee bis Ende September 1990 ein. Er wird von vielen Offizieren, übrigens gehört dazu auch Generaloberst a.D. Goldbach, als eine Persönlichkeit eingeschätzt, der in einer Zeit mit schwierigem Fahrwasser die Kommandobrücke nicht verlassen hat und sich seiner Verantwortung gegenüber den Armeeangehörigen stellte. Die Befragten heben besonders hervor, daß er offen und vor allem öffentlich zu wichtigen Problemen Standpunkte und Lösungen angeboten hat und unter seiner Verantwortung die eingeleitete Militärreform weiter voranschreiten konnte. Zugleich sind sie der Auffassung, daß über den Runden Tisch beim Minister für Nationale Verteidigung viele Probleme der Armee und ihre Haltung zur Wende an die dort zahlreich vertretenen Parteien, Initiativen und Organisationen herangetragen wurden und auf diese Weise auch eine engere Verbindung zur demokratischen Öffentlichkeit hergestellt werden konnte.

Anders fallen die Antworten zum Minister Rainer Eppelmann aus. Er war der erste zivile Minister in der DDR, der ihm zur Seite standen noch drei Staatssekretäre – die Verantwortung für das Militär übernommen hatte. Fast ein Drittel ist der Meinung, daß sein Einsatz als ehemaliger Wehrdienstverweigerer eigentlich absurd gewesen sei. Wollte er sich treu bleiben, hätte er gegen den Bestand der Armee arbeiten müssen. Dies wird verstärkt, wenn über die Hälfte einschätzen, die Auffassung von Minister Eppelmann, die Armee über einen gewissen Zeitraum zu erhalten, könne nur als Taktik gewertet werden. Sein Auftrag sei es gewesen, so jeder Dritte der Befragten, die NVA und insbesondere das Offizierskorps ruhig zu stellen. Einige spitzen dies zu und sind der Meinung, er habe eine doppelbödige Politik betrieben. Knapp die Hälfte vertreten darüber hinaus die Auffassung, daß er logischerweise in militärischen Dingen völlig ahnungslos und naiv und damit in der Ausübung der Funktion überfordert gewesen sei. Jeder Zehnte sagt dagegen, daß Minister Eppelmann ohne Hintergedanken die Aufgaben seines Amtes wahrgenommen hätte.

Hier sei zumindest bemerkt: Das damals gewählte Führungssystem übertrug dem Ministerium die politische Gesamtverantwortung. Der Chef der Armee hatte mit seinem Stab die militärische Umsetzung politischer Entscheidungen zu realisieren und zu verantworten. Zudem veränderten sich damals die Situation insgesamt und die Bedingungen mitunter von Woche zu Woche in einem rasanten Tempo. Wer wußte schon im März/April 1990, daß die Sowjetunion einem so schnellen Ausstieg der NVA aus der Militärorganisation des Warschauer Vertrages zustimmen würde? Zu fragen wäre, ob der damalige Minister bereits zu diesem Zeitpunkt über weitergehende Informationen verfügte. Dies könnte mög-licherweise der Fall gewesen sein, wenn die Meinung Einzelner, daß er ein Mann der Geheimdienste gewesen sei, zutreffen würde.

Wichtiger ist aber, daß jeder Fünfte der Offiziere, die in der Mehrzahl bis September in der NVA gedient haben, konstatiert, Minister Eppelmann habe ihnen zwar im Zusammenhang mit ihrer Entlassung urkundlich für ihren Dienst zur Erhaltung des Friedens gedankt, aber nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik Deutschland die Kriminalisierung ehemaliger NVA-Angehöriger zugelassen und nichts dagegen unternommen. Andererseits hat man auch seine Hilfe dem DBwV gegenüber positiv registriert, Gespräche zur Herstellung einer größeren Rentengerechtigkeit in Gang zu setzen,.

Der Autor maßt sich nicht an, diese Meinungen zu kommentieren. Aber sie zeigen erneut, daß in die Wertungen Erfahrungen über längere Zeiträume, mitunter bis in die unmittelbare Gegenwart hinein, einfließen. Allerdings manche Wahrheit und damit die Korrektur oder Bestätigung heutiger Ansichten kann die Akteneinsicht wahrscheinlich erst in dreißig Jahren nachweisen. Dies wird jedoch den heute Lebenden wenig nutzen.

Die nächste Fragestellung hat etwas mit den bereits erwähnten internationalen Rahmenbedingungen zu tun.

Frage 9: Sind Sie den Russen gegenüber negativ eingestellt ? Immerhin war es Gorbatschows Beschluß im Juli, der Eppelmanns Pläne, während der Wendezeit zwei deutsche Armeen am Leben zu erhalten, zunichte machte.

An der Spitze aller Antworten steht fast immer der Satz: Ich bin den Russen gegenüber nicht negativ eingestellt. Im Gegenteil! Der gemeinsame Dienst, das Zusammentreffen bei Übungen beim Gefechtsschießen und das Studium in der damaligen Sowjetunion hat zu Freundschaften und familiären Beziehungen geführt, die bei einigen die Wendezeit überdauert haben. Dreiviertel der Befragten äußerten sich in dieser Richtung. Kritischer ist die Position zu führenden russischen Militärs und zum Teil gegenüber Gorbatschow. Ein Drittel ist der Auffassung, daß sich die Hoffnungen, die mit seiner Öffnungspolitik einhergingen, in seinem Handeln nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht bestätigt haben. Jeder Dritte ist heute der Meinung, er bediene immer mehr seine persönlichen Interessen und sei dafür bereit, vorher verkündete „hehre“ Ziele aufzugeben.

Der folgende Abschnitt konzentriert sich auf den zweiten Teil des Fragebogens von Prof. Herspring, der sich, wie schon dargestellt, an jene ehemaligen NVA-Offiziere richtet, die noch nach dem 3. Oktober 1990 in der Bundeswehr gedient haben oder heute noch aktiv sind. Da  hier verständlicherweise auf Grund der Zusammensetzung der Kameradschaften Ehemalige  eine geringere Anzahl von Antworten vorliegen, geschieht dies informatorisch in zusammengefaßter Form.

Inhaltlich stehen Fragen im Mittelpunkt wie: Was war für einen Offizier der NVA das Wichtigste bei der Entscheidung, den Dienst in der Bundeswehr fortzusetzen? Welche Schwierigkeiten sind beim notwendigen Anpassungsprozeß an die Verhältnisse in der Bundeswehr aufgetreten? Wie wird die Zusammenarbeit mit Bundeswehrangehörigen aus den alten Bundesländern bewertet? In welchem Ausmaß zeigen sich noch Spuren aus der NVA-Zeit und was schlagen die Befragungsteilnehmer an Veränderungen vor, wenn sie diese Phase noch einmal durchlaufen könnten?

Bei der Entscheidung, ein Weiterdienen in der Bundeswehr zu wagen bzw. zu beantragen, dominieren in den Antworten zwei Probleme. Zum einen sagt fast die Hälfte, es sei das Interesse am Soldatenberuf und der Auftrag gewesen, eine friedliche Entwicklung für den Vereinigungsprozeß in Deutschland zu garantieren. Zum anderen bringen die Befragten auch offen zum Ausdruck, daß solche Fragen wie Angst vor Arbeitslosigkeit und die finanzielle Absicherung der Familie dabei eine Rolle spielten.

Über ein Drittel der Berufssoldaten führen aus, daß es für sie keine Anpassungsschwierigkeiten an das Leben in der Bundeswehr gegeben habe. Dies wird zu einem entscheidenden Teil auf das überwiegend kameradschaftliche Verhältnis und die Hilfe von Bundeswehrangehörigen aus den alten Bundesländern zurückgeführt. Für nahezu die Hälfte der Offiziere war dabei das von diesen Bundeswehrsoldaten demonstrierte

Demokratieverständnis besonders beeindruckend. Selbstverständlich hat es in diesem Prozeß auch Schwierigkeiten gegeben. Ein Drittel der Befragten hat dazu Aussagen getroffen. Dabei werden am meisten genannt: die Anpassung an neue Dienstvorschriften und das Auftreten mit der neuen Uniform in der Öffentlichkeit, in den ersten Wochen nicht selten am ehemaligen NVA-Standort. Bezüglich der Frage, welche Spuren die NVA-Zeit hinterlassen habe, heben die Befragten solche Sachverhalte wie Einsatzbereitschaft, Disziplin und Ablehnung eines Karrieredenkens hervor. Betont wird, daß sie in ihrer NVA-Zeit viel für die Ausübung ihres militärischen Berufes gelernt haben. Die Frage, ob sie auch Vorbehalte und Probleme in den Beziehungen ihnen gegenüber bei den Bundeswehrangehörigen aus dem Westteil Deutschlands festgestellt haben, wird bejaht. Es werden ein gewisses Klischeedenken und ein geringer Informationsstand über die Verhältnisse in der NVA genannt. Bei den Vorschlägen, was man hätte anders machen können, gibt es ein sehr differenziertes Bild. Jeweils jeder Vierte ist der Meinung, ein schrittweiser Übergang wäre besser gewesen, manche Erfahrungen der NVA hätten genutzt werden können und  man hätte keine pauschale Ablehnung des Hochschulstudiums praktizieren dürfen; auch die mitunter zweimalige Herabsetzung im Dienstgrad haben viele als diskriminierend empfunden.

Die letzte Frage von Prof. Herspring lautet wie folgt:

Frage 17: Was denken Sie über die Reihe der Gerichtsverfahren für ehemalige ostdeutsche Offiziere? Glauben Sie, daß sie eine gegenseitige Versöhnung erleichtern? Wie haben Ihre Kollegen aus dem Westen darauf reagiert?

Weit über 80% der Befragten betrachten die Gerichtsverfahren, ohne begangenes Unrecht zu beschönigen oder zu rechtfertigen, als untauglich zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Knapp die Hälfte charakterisieren sie als politisch motivierte Verfahren, die dazu dienen einen Teil der ehemaligen DDR-Bevölkerung zu kriminalisieren. Fast jeder Zweite ist der Auffassung, daß dieser Schritt nicht zur Versöhnung beiträgt und daß bei den ehemaligen Angehörigen der Grenztruppen der DDR und der NVA das Vertrauen in den Rechtsstaat schwindet. Viele sind der Meinung, die Prozesse ließen die historischen Gesamtumstände fast völlig unberücksichtigt. Der Kalte Krieg wurde jedoch von beiden Seiten geführt. Heute werden mit den Prozessen seine Auswirkungen nur der einen Seite angelastet. Die Tatsache, daß die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland zugleich eine Grenze zwischen den beiden gesellschaftlichen Systemen gewesen ist, so fast die Hälfte der Befragten, wird mit der gerichtlichen Feststellung von Handlungen an der „innerdeutschen Grenze“ nicht aus der Welt geschafft. Bei der Frage, wie sich die Kollegen aus den westdeutschen Ländern dazu äußern, wird konstatiert, daß eine Mehrheit eher mit Unverständnis als mit Zustimmung reagiert.

Zieht man insgesamt ein Fazit dieser Meinungsumfrage, dann wird sicher mancher, der sich nicht beteiligt hat oder beteiligen konnte, sagen, in dieser oder jener Frage stimme ich mit den Antworten überein. Andere Feststellungen wird man ablehnen. Vielleicht regt das Ergebnis dazu an, über diese für alle einschneidende Phase des Lebens erneut nachzudenken, vielleicht einiges nochmals nachzulesen oder die Antworten mit eigenen Erfahrungen zu vergleichen. Die Befragten waren in der Zeit der Wende zwischen 50 und 60 Jahre alt. Der zeitliche Abstand ist heute größer. Ob er bereits ausreicht, um nüchtern darüber zu urteilen, kann bezweifelt werden. Aber diesen Fragen völlig auszuweichen oder sie zu verdrängen, ist für die Wahrheitsfindung hinderlich.

 

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